Mehmet Demir: Europa fürchtet Öcalans Einfluss

Mehmet Demir erklärt, warum Europa Abdullah Öcalan fürchtet:„Heute sehen wir was passiert, wenn Öcalans Gedankenwelt, die er als demokratische Moderne gegen die kapitalistische Moderne setzt, auch nur ansatzweise mit der Menschheit zusammentrifft.“

Der kurdische politische Aktivist Mehmet Demir hat das Komplott gegen Abdullah Öcalan vor 22 Jahren miterlebt und meint: „Die westlichen Länder haben Öcalan aus Europa verwiesen, weil sie seinen Einfluss gefürchtet haben und nicht wollten, dass ihre schmutzige Rolle in der kurdischen Frage bekannt wird.“

Mehmet Demir lebt seit Mitte der 1970er Jahre in Deutschland und hat wichtige Aufgaben im kurdischen Befreiungskampf übernommen. 1981 war er Vorsitzender des Revolutionären Arbeitervereins in Köln, später war er Mitbegründer von FEYKA-Kurdistan, dem ersten Dachverband kurdischer Vereine in Deutschland. Nach dem Verbot von FEYKA 1993 war Demir im Vorstand und langjähriger Vorsitzender von YEK-KOM. Die Entwicklungen in Europa, nachdem Öcalan am 9. Oktober 1998 Syrien verlassen hatte, erlebte er hautnah mit. Öcalan kam am 12. November 1998 nach Italien. Mehmet Demir erläutert im ANF-Interview, warum die Initiative für einen internationalen Gerichtshof im Keim erstickt wurde, welche Rolle Deutschland dabei spielte und wie die Kurdinnen und Kurden in der Diaspora auf Öcalans Ankunft in Rom reagiert haben.

War es für Sie eine Überraschung, dass Öcalan im Zuge des internationalen Komplotts nach Rom kam?

Wir waren in dieser Zeit in der damaligen Hauptstadt Bonn im Hungerstreik. Knapp 150 Menschen waren mit der Forderung nach einem Raum für Öcalan in Bonn in einen Hungerstreik getreten. Als er nach Rom kam, dauerte der Hungerstreik auf dem Museumsplatz in der Nähe des Bundestags noch an. Der Platz wurde sofort zu einem Busbahnhof, täglich fuhren drei bis fünf vollbesetzte Busse nach Rom. Die Menschen hatten direkt nach Öcalans Ankunft in Italien gehört, dass von Bonn aus Busse nach Rom fahren. Am ersten Tag kamen sogar welche direkt von der Arbeit zum Ort des Hungerstreiks und fuhren in ihrer Arbeitskleidung weiter nach Rom. Sie waren nicht einmal zum Umziehen zwischendurch nach Hause gegangen.

Dazu muss man sagen, dass noch viel mehr Menschen in Eigeninitiative mit Privatautos oder gemieteten Kleinbussen losfuhren. Die in Europa lebenden Kurdinnen und Kurden wollten unter allen Umständen nach Italien. Innerhalb weniger Tage wimmelte es in Rom von Kurden.

Sie sind seit Ende der 1970er Jahre in der kurdischen Befreiungsbewegung in Europa aktiv. Was haben Sie empfunden, als sie hörten, dass auch Abdullah Öcalan nach Europa gekommen war?

Wir wussten, dass er bestimmte Vorbereitungen getroffen hatte, weil er davon ausging, dass das Problem zu einem gordischen Knoten geworden war und sich nicht nur mit imperialistischen Kräften lösen lässt. Er sagte ja auch immer, dass die kurdische Frage eine internationale Angelegenheit ist. Dementsprechend konnte eine Lösung nur mit Beteiligung aller internationalen Kräfte erfolgen. Als er es vorzog, statt in die Berge nach Europa zu kommen, wussten wir anhand der uns vorliegenden Informationen: Der Architekt und Anführer der Bewegung hat sich auf eine internationale Suche gemacht. Die Bewegung hat einen militärischen und gesellschaftlichen Höhepunkt erreicht, aber das reicht für eine Lösung des Problems nicht aus. Warum? Weil es in der kurdischen Frage auf internationaler Ebene mehr als eine Seite gab. Unter allen Umständen, selbst wenn es Haft oder einen Aufenthalt in Eruopa erfordern sollte, musste die Initiative ergriffen werden, damit der Westen oder auch Europa sich an einer Lösung beteiligen. Abdullah Öcalan wusste ja, dass in Deutschland ein Haftbefehl gegen ihn vorlag und eine Reise nach Europa seine Verhaftung bedeuten konnte. Damit hatte er gerechnet, aber es mussten unbedingt die weiteren Ansprechpartner für eine Lösung der kurdischen Frage einbezogen werden. Darauf basierte seine Reise nach Europa.

Hat er Europa gewählt, weil hier die Kräfte sind, die Kurdistan aufgeteilt und damit für die Entstehung der kurdischen Frage gesorgt haben? Ging es ihm darum, dass das Problem nur an der Wurzel gelöst werden kann?

Mit Sicherheit, denn er sagte immer: „Die kurdische Frage ist kein Problem, dass nur mit den Herrschenden, also mit der Türkei, Irak, Syrien und Iran gelöst werden kann.“ Diese Aussage kommt auch in seinen Texte vor und er sagte es bei Gesprächen auf internationaler Ebene. Seiner Meinung war ein wichtiger Teil der in die kurdische Frage involvierten Parteien in Europa. Er wusste genau, dass sie von Großbritannien repräsentiert werden. Außerdem erwähnte er immer wieder, dass auch der deutsche Staat eine ausschlaggebende Rolle spielt. Daher ging er davon aus, dass die Angelegenheit gelöst werden kann, wenn am Ausgangspunkt des Problems etwas geschieht und sich hier eine Tür öffnet. Daher nahm er alle Risiken in Kauf und ging nicht in die Berge, sondern nach Europa, um eine Basis für eine Lösung zu schaffen. Es ging ihm bestimmt nicht um seine persönliche Sicherheit.

Während Abdullah Öcalan in Rom war, kamen zwei Themen für eine Lösung der kurdischen Frage auf die Agenda: Eine internationale Konferenz und ein internationaler Gerichtshof. Das wurde auch von europäischen Politikern einschließlich von deutschen und italienischen Ministern unterstützt. Es wurde jedoch nichts dafür unternommen und eine Weile später musste Öcalan Italien verlassen...

Damals waren die Sozialdemokraten und die Grünen in Deutschland an der Macht. Joschka Fischer war Außenminister und als erster Grünenpolitiker sagte Cem Özdemir, dass Öcalan in Den Haag vor Gericht gestellt werden soll. Diese Forderung war eigentlich die Meinung von einigen Leuten in dieser Zeit. Als das Thema aufkam, dass ein Sondergerichtshof gegründet wird oder die kurdische Frage vor einem internationalen Gericht behandelt wird, schien Öcalan auch dazu bereit. Dieser Schritt wurde jedoch von den europäischen Mächten verhindert, weil es auf einer solchen Plattform auch um die Verbrechen des türkischen Staates gegangen und ihre eigene Rolle bei der Verhinderung einer Lösung der kurdischen Frage offengelegt worden wäre. Deutschland hob in Windeseile den Haftbefehl gegen Öcalan auf. An diesem Tag waren wir vor dem Bundeskanzleramt in Bonn in Aktion.

Meinen Sie den 27. November 1998, als der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder und der italienische Ministerpräsident Massimo D'Alema zusammengetroffen sind?

Ja, während des Gesprächs der beiden Regierungschefs waren wir mit 30.000 Menschen in Bonn. Auch der historische Platz in Rom war brechend voll an diesem Tag. Aus der ganzen Welt waren Menschen nach Rom geströmt. Wir wurden mit der Lüge hingehalten, dass Vorbereitungen für ein Gericht für Öcalan getroffen werden und die Entscheidung in Kürze veröffentlicht wird. Und was wurde entschieden? Deutschland überzeugte auch D'Alema und hob den Haftbefehl auf. Wir hatten damals die Forderung, dass niemand das Recht hat, Abdullah Öcalan anzuklagen, sondern diejenigen vor Gericht gehören, die der Grund für den Beginn dieses Kampfes waren. Öcalan sagte immer: „Wir sind nicht der Grund, sondern das Ergebnis.“ Und wer hat die kurdische Frage hervorgerufen? Ein internationaler Gerichtshof ist damals einvernehmlich von denen verhindert worden, die eine Offenlegung ihrer eigenen Rolle fürchteten. Den ersten Schritt setzte Deutschland mit der Aufhebung des Haftbefehls. Danach wurde die D'Alema-Regierung unter Druck gesetzt und in dieser Atmosphäre gab es keinen Platz mehr auf der Welt für Öcalan. Ansonsten wäre das schmutzige Gesicht der von England, Deutschland und Frankreich angeführten westlichen Staaten in der kurdischen Frage offengelegt worden.

Sind neben Italien auch die skandinavischen Staaten, die ihre Grenzen für Öcalan öffnen wollten, von den von Ihnen gerade genannten Staaten allein gelassen worden?

Genau, aus dem Grund sprechen wir auch von einem „internationalen Komplott“. Neben den USA und Israel, die für die Verschleppung und Gefangennahme gesorgt haben, hatten noch viele weitere Staaten eine Rolle. Über Finnland, Norwegen und Schweden hinaus haben bis zu den Niederlanden viele Länder grünes Licht gegeben. Es kam bis zu einem bestimmten Punkt, dann wurden die Grenzen geschlossen. Beispielsweise wurden die Niederlande dazu gebracht, ihren Luftraum zu schließen. Eigentlich waren viele Staaten für eine Lösung. Abdullah Öcalan sagte immer, dass England die internationale Politik festlegt und die anderen Länder die praktische Umsetzung übernehmen. Das war auch in dem Komplott gegen ihn offen sichtbar. Führend in diesem Komplott war natürlich die damalige US-Regierung. Gleichzeitig wurden die Menschen in der Türkei derartig aufgehetzt, dass sie sogar italienische Tomaten angriffen. Der MIT schickte seinen Stab los, um Provokationen in Europa herbeizuführen. Die MIT-Angehörigen führten Angriffe auf Moscheen, Vereine und Geschäfte durch. Sie sagten den Inhabern, „Mach dir keine Sorgen, du holst dir das Geld von der Versicherung“, und zündeten alles an. Zu solchen und ähnlichen Methoden wurde gegriffen.

Abdullah Öcalan hat bekanntlich in Griechenland, Russland, Italien und Holland offizielle Asylgesuche gestellt. Was sagen Sie dazu, dass diese Länder unterzeichnete Abkommen missachtet und einen Asylsuchenden abgewiesen haben?

Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 sind über eine Million Menschen aus der Türkei nach Europa geflüchtet. Die Hälfte war aus Kurdistan. Vor allem die Kurdinnen und Kurden begründeten ihre Asylanträge mit ihrer Sympathie oder ihrem Engagement für die von Abdullah Öcalan angeführte Bewegung. Hunderttausenden Menschen wurde deshalb das Recht auf Asyl gewährt. Das war nicht nur in Europa so, auch in den USA, in Kanada und sogar in Australien wurden Kurden als Flüchtlinge anerkannt. Nur Öcalan wurde dieses Recht versagt. Groteskerweise hat Italien sein Asylgesuch nach seiner Gefangennahme anerkannt. Ich denke, dass diese Punkte den Hauptcharakter des internationalen Komplotts beschreiben.

Wie wird es in die europäische Geschichte eingehen, dass dem Anführer eines aus über vierzig Millionen Menschen bestehenden Volkes, das einen Befreiungskampf gegen den türkischen Staat führt, alle Türen verschlossen wurden?

Wie bereits gesagt war die eigentliche Angst, dass der von Öcalan angeführte Kampf für Menschlichkeit größer wird. Heute sehen wir was passiert, wenn Öcalans Gedankenwelt, die er als demokratische Moderne gegen die kapitalistische Moderne setzt, auch nur ansatzweise mit der Menschheit zusammentrifft. Beispielsweise gibt es weltweit internationalistische Gruppen, die durch den Kontakt mit der kurdischen Befreiungsbewegung selbst aktiv werden.

Und warum hat Europa Öcalan die Türen verschlossen? Weil die von ihm angeführte Bewegung sich weder materiell noch ideell manipulieren lässt und unabhängig bleibt. Öcalan hat selbst wiederholt gesagt: „Wir wollen nicht im Schoß von irgendwem sitzen und uns den Rücken kraulen lassen. Wir sind eine Bewegung, die gleichberechtigt neben anderen Platz nimmt und tut, was getan werden muss.“ Deshalb basiert sein gesamter Kampf auf dem Volk und hat sich mit dieser Eigendynamik entwickelt. Meiner Meinung nach lohnt es sich, daran zu erinnern, dass es keiner Bewegung und keinem Kampf so gut wie der kurdischen Befreiungsbewegung gelungen ist, ökonomisch und politisch unabhängig zu bleiben. Auf der anderen Seite ist sichtbar geworden, dass die Frauenbefreiung nirgendwo sonst einen so großen Entwicklungssprung erfahren hat wie durch die von Öcalan angeführte Bewegung in der kurdischen Gesellschaft, die unter den strengen Regeln des Islams und dem starken Einfluss des Feudalismus steht. Auch das hat Angst ausgelöst und bereits damals dazu geführt, dass Öcalan kein Raum gelassen wurde.

Ich möchte an dieser Stelle noch ein Beispiel geben: Unter anderem der deutsche Staat hat die UÇK ausgebildet und ausgerüstet und sogar Kämpfer mit Zügen in den Krieg im Kosovo geschickt. Der gleiche Staat müht sich ab, weil mit Rojava als Modell für den Mittleren Osten und die Menschheit der Kampf um Befreiung nähergerückt ist. Deutschland war jahrelang damit beschäftigt, Symbole der YPJ/YPG und sogar der YBŞ zu verbieten. Letztendlich wird in der Menschheitsgeschichte nicht vergessen werden, welche Rolle die von Deutschland, England und Frankreich angeführten europäischen Staaten bei der Gefangennahme von Abdullah Öcalan gespielt haben.