Die Geschichte kurdischer Selbstorganisierung in Deutschland

Das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeit Civaka Azad e.V. sprach mit Mehmet Demir (AZADÎ e.V.) über die ersten Schritte kurdischer Selbstorganisierung in Deutschland und die Entwicklungen bis heute.

Das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeit Civaka Azad e.V. sprach mit Mehmet Demir (AZADÎ e.V.) über die ersten Schritte kurdischer Selbstorganisierung der 70er, 80er Jahre in Deutschland, den folgenden Beginn der Repression gegen kurdische Aktivistinnen und Aktivisten sowie deren Vereine. Mehmet Demir schildert den Widerstand gegen die staatliche Repression und die Auswirkungen des internationalen Komplotts gegen Abdullah Öcalan auf die in Europa lebenden KurdInnen und betont die Notwendigkeit eines gemeinsamen strategischen Kampfes mit linken Kräften.

Wenig ist über die kurdische Gesellschaft, eine der größten migrantischen Bevölkerungsgruppen in der Bundesrepublik, bekannt. Ihre (politische) Geschichte in Deutschland ist untrennbar mit dem Befreiungskampf in Kurdistan verbunden, der Ende der 1970er mit der Gründung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ihren Anfang nahm und bis heute andauert.

„Only bad news, are good news“, so lautet die Maxime vieler Mainstream Medien hierzulande. Die Ereignisse aus Kurdistan werden, wenn überhaupt, nur einseitig mit dem Fokus auf den Krieg beleuchtet. Wenn es um die Kurdinnen und Kurden in Deutschland geht, wird vor allem der sog. Sicherheitsaspekt in den Vordergrund gerückt, was altbekannte Stigmatisierungen und Vorurteile bekräftigt.

Doch auch in zahlreichen kurdischen Vereinen in Deutschland werden Projekte gemäß dem Paradigma des demokratischen Konfönderalismus umgesetzt. Vor allem kurdische Frauen und Jugendliche organisieren sich anhand der Parameter Demokratie, Frauenbefreiung und Ökologie. Mithilfe kurdischer Dachverbände wurde seit Jahrzehnten die zivilgesellschaftliche Organisierung der Bevölkerung vorangetrieben, und die Menschen wurden dazu animiert, Probleme basisdemokratisch selbst zu lösen. Diese innergesellschaftlichen Diskurse und Umwälzungsprozesse bei den Kurdinnen und Kurden geraten leider aufgrund der Repressalien des jeweiligen Staatsapparates in den Hintergrund oder werden medial und im gesellschaftlichen Diskurs nur oberflächlich angeschnitten.

Die geschätzten Zahlen der in der Bundesrepublik lebenden Kurdinnen und Kurden reichen von 800.000 bis hin zu einer Million. Und bereits hier beginnt das Problem. Es gibt keine offizielle Statistik über die genaue Anzahl der in Deutschland lebenden KurdInnen. Sie werden je nach ihrer Staatsangehörigkeit als TürkInnen, IrakerInnen, IranerInnen oder SyrerInnen registriert. Begründet wird dies damit, dass sie über keinen eigenständigen Staat verfügen.

Das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeit Civaka Azad e.V. hat ein Gespräch mit Mehmet Demir geführt, einem Zeitzeugen, der diese Geschichte der Kurdinnen und Kurden in Deutschland nicht nur miterlebt, sondern auch mitgestaltet hat. Er war Vorsitzender von YEK-KOM, dem früheren Dachverband kurdischer Vereine in Deutschland, und arbeitet gegenwärtig im Anti-Repressionsbereich beim Rechtshilfefond Azadî e.V. Wir hoffen, mit der Veröffentlichung dieses Interviews zu einem Verständnis der kurdischen Frage beizutragen und Interessierten einen Einblick in die von staatlicher Repression geprägte kurdische Geschichte in der Bundesrepublik zu gewähren.

Wann bist du nach Deutschland gekommen und wie hat dein politisches Engagement hier begonnen?

Ich bin in den ersten Monaten des Jahres 1978 nach Deutschland geflüchtet. Da gab es bereits viele Menschen, die seit einigen Jahren als ArbeitsmigrantInnen aus Kurdistan und der Türkei hier lebten. Bei mir hatte es allerdings politische Gründe, weshalb ich herkam. Wir gehörten zu den Menschen, die wegen der Entwicklungen in der Türkei, die in den Militärputsch vom 12. September 1980 und dem damit einsetzenden Faschismus münden sollten. Noch vor dem Militärputsch geschah das Massaker von Maraş. Das war sozusagen der erste Schritt auf dem Weg zum Faschismus des 12. Septembers. In Kurdistan und in den Gebieten, in denen die revolutionäre Jugend in der Türkei stark war, wurde damals zunächst der Ausnahmezustand ausgerufen, bevor die Junta mit dem Militärputsch die vollständige Kontrolle über das Land übernahm.

Das ist die eine Seite der politischen Lage damals. Zur anderen Seite gehört, dass damals, wie heute auch, die imperialistischen Mächte in der Region ihre Spielchen spielten. Denn der von der 68er Generation inspirierte politische Kampf und seine Werte wurden gleich einer Lawine immer stärker in der Region. Die internationalen Mächte wollten deshalb mit allen Mitteln das Anwachsen des revolutionären Potentials unterbinden. Mit dem Maraş-Massaker und dem darauffolgenden Militärputsch 1980 wurden schließlich die revolutionären Kräfte dazu gezwungen, die Flucht zu ergreifen, wenn sie nicht in den Gefängnissen landen wollten.

Wie ihr wisst, erfolgte der Anwerbestopp für GastarbeiterInnen in Deutschland im Jahre 1973. Fünf Jahre später wurden durch die Massaker und den Putsch die revolutionären Kräfte aus der Türkei zur Flucht gezwungen. Damals flüchteten Menschen in überfüllten Bussen, Zügen und Flugzeugen ins Ausland. Ihnen wurde durch bestimmte politische Kräfte ein hoffnungsvolles Leben im Ausland in Aussicht gestellt. Die Bevölkerung ganzer Landstriche suchte plötzlich Hoffnung im europäischen Ausland, nachdem ihr die Lebensperspektive in ihrer Heimat gewaltsam genommen worden war. Das revolutionäre Potential in Kurdistan und der Türkei sollte auf diese Weise ausgelöscht werden.

In einer solchen Phase kamen auch wir schließlich in Deutschland an. Ende 1979, Anfang 1980 taten wir uns dann erstmals mit einer Gruppe Freunden zusammen und bildeten ein Komitee. Wir stellten uns in dieser Gruppe die Frage, was wir in Deutschland und Europa politisch machen können. Anfangs wandten wir uns gegen die Idee, einen Verein zu gründen, weil wir glaubten, auf diesem Wege das revolutionäre Potential der Menschen falsch zu kanalisieren. Wir betrachteten die Vereine als Orte, in denen diese Kraft und das Potential der Menschen zum Erschlaffen kommen und sich der Opportunismus breitmacht. Darüber diskutierten wir eine ganze Weile und lehnten also schließlich den Weg der Vereinsgründung ab.

Wir beschäftigten uns natürlich weiterhin mit dem Maraş-Massaker und fragten uns, wie wir die Opfer und vor allem die Menschen, die vor Ort geblieben waren, unterstützen könnten. Dafür wollten wir Kampagnen in Deutschland auf die Beine stellen und um materielle Unterstützung werben. Die Militärjunta weitete gleichzeitig ihre Politik der Zerstörung und Vertreibung auf Kurdistan aus. Das führte auch dazu, dass sich die kurdische Bewegung immer besser organisierte und stärker wurde.

Einen Monat nach dem Massaker von Maraş wurde die PKK als Vorreiterin der kurdischen Bewegung gegründet. Das Gründungsdatum der PKK ist der 27. November 1978. Parallel dazu fanden auch die ersten Schritte der Selbstorganisierung der kurdischen Bevölkerung im Ausland statt. Aus den wenigen Hundert, die Teil dieser Bewegung waren, wurden schnell inner- und außerhalb Kurdistans viele Tausende. Und so mussten wir uns auch eingestehen, dass wir entgegen unserer ursprünglichen Meinung nicht darum herum kamen, Vereine zu gründen. Auch wenn unsere politische Haltung diesem Schritt widersprach, blieb uns letztlich keine Alternative übrig. Um die Menschen zusammenzuhalten, gründeten wir also die ersten Vereine.

Unser erster Verein wurde Ende 1979, Anfang 1980 in Köln gegründet. Anschließend gründeten wir einen zweiten Verein 1980 in Duisburg und einen dritten in Bochum. Die nächste Vereinseröffnung fand in Nürnberg satt. Wir akzeptierten, dass die Vereine ein wichtiges Instrument zur Organisierung der Menschen war. Nach den Vereinsgründungen kümmerten wir uns auch um die Organisierung der Pressearbeit.

Du hast erzählt, dass ihr mit einer kleinen Gruppe von Freunden diese Arbeit begonnen habt. Aber bevor ihr eure Arbeit aufgenommen habt, gab es in Deutschland ja bereits Organisierungsversuche von linken Gruppen aus der Türkei. Es gab bereits auch kurdische Gruppen, die sich in Deutschland organisierten. Wie reagierten diese Gruppen darauf, dass die kurdische Bewegung in Deutschland plötzlich Vereine gründete?

Das stimmt natürlich, in Deutschland hatten sich bereits vor uns Menschen aus der Türkei organisiert. Diese Gruppen organisierten sich unter den Menschen, die aus der Türkei nach Deutschland emigriert waren. Die Selbstorganisierung der MigrantInnen aus der Türkei hat also eine lange Geschichte. Wenn ich mich nicht irre, wurden die ersten Vereine türkischer linker Gruppen in Deutschland Ende der 60er oder Anfang der 70er Jahre gegründet.

Als wir uns dann in Deutschland selbst organisierten, wurden wir von vielen Seiten angegangen und kritisiert. Wir kannten dieses Verhalten der anderen Gruppen aber bereits aus der Heimat. Deswegen konnten wir die Reaktionen einschätzen. Unsere ersten Treffen fanden entweder in offenen Parks statt oder in Flüchtlingsunterkünften. Wir verfügten letztlich über keinerlei finanzielle Mittel. Die anderen Gruppen waren halbwegs gut unter den ArbeiterInnen organisiert. Die organisierten Menschen leisteten dort ihre monatlichen Beiträge, sobald sie ihren Lohn erhielten. Solche Möglichkeiten hatten wir damals nicht.

Doch das hielt uns nicht von unserer politischen Arbeit ab. Als die Freiheitsbewegung 1982 den Entschluss fasste, den bewaffneten Kampf aufzunehmen, ließen die Reaktionen der internationalen Mächte nicht lange auf sich warten. Die imperialistischen Mächte versuchten die Freiheitsbewegung unter ihre Fittiche zu nehmen und ihren Aktionsradius zu kontrollieren. Wir waren in dieser Zeit sehr aktiv. 1980 hatten wir einen Hungerstreik am Kölner Dom durchgeführt. Zur selben Zeit wurde in Essen das türkische Konsulat besetzt. Als es 1982 zu den großen Hungerstreiks im Gefängnis von Amed (Diyarbakir) kam, führten wir in Duisburg einen 35-tägigen Hungerstreik durch. Das waren unsere Aktionen damals. Als wir später diesen Zeitraum bewerteten, kamen wir allerdings zu dem Schluss, dass der deutsche Staat schon längst den Kampf gegen uns aufgenommen und unseren Handlungsspielraum eingeschränkt hatte. Ab 1982 hatten die deutschen Behörden uns ins Visier genommen.

Das Jahr 1982 hatte folgende Besonderheit: auf der einen Seite entwickelte sich aus dem Gefängnis von Amed heraus ein großer Widerstand, der sich über Kurdistan und den gesamten Mittleren Osten entfaltete. Die jungen Menschen des kurdischen Volkes waren bereit, Teil dieses Widerstandes zu werden und ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Auf der anderen Seite hatten verschiedene internationale Mächte ihre Expertise zusammengetan, um diesen revolutionären Kampf zu ersticken und Verrat in die Reihen der Bewegung zu tragen. So setzten sich gewisse Kreise innerhalb der Bewegung dafür ein, einen Beschluss zur Rückkehr in die Heimat[1] zu verhindern. Sie behaupteten, ein solcher Beschluss bedeute Selbstmord. Auch in den Gefängnissen wurde unter den PKK-Gefangenen der Verrat organisiert. Ich will diese Episode nicht zu sehr in die Länge ziehen. Aber was ich sagen möchte, ist, dass die internationalen Mächte auf diesem Weg über die Entwicklungen informiert waren. Um das Ganze an einem Beispiel deutlich zu machen: Als unsere Freundinnen und Freunde aus der Türkei nach Europa flüchten wollten, kümmerten sich einige Abgeordnete aus Deutschland und anderen Ländern höchstpersönlich um die Asylangelegenheiten dieser Menschen. Damals freuten wir uns über die Hilfsbereitschaft. Wir begriffen aber nicht, dass die StaatsvertreterInnen uns auf diesem Wege am besten infiltrieren konnten, unsere internen Dynamiken verstanden und uns so unter ihre Kontrolle bringen wollten. Dass wir das damals nicht verstanden, lag schlichtweg an unserer politischen Unerfahrenheit.

Das Vorgehen gegen unsere Strukturen begann also 1982. Deutschland unterstützte damals sowohl die einzelnen Leute, die sich von uns trennten, als auch Gruppen, zu denen auch die Exilorganisationen klassischer kommunistischer Parteien aus der Türkei gehörten, die in Deutschland gegen uns agierten. Der erste physische Angriff des Staates erfolgte dann 1986. Am 21. März des Vorjahres hatte sich die Nationale Befreiungsfront Kurdistans (ERNK) gegründet, und zum ersten Jahrestag, der zugleich das Datum des Newrozfestes ist, sollte in der Mercatorhalle in Duisburg eine große Feier stattfinden. An diesem Tag hatten die deutschen Sicherheitskräfte die Autobahnzufahrten in die Stadt gesperrt. Die Menschen, die in Bussen zur Feier reisen wollten, wurden raus gezerrt, auf der Autobahn mit dem Gesicht nach unten zu Boden gebracht und einzeln kontrolliert. Der Grund für diesen umfassenden Angriff war, wie sich später herausstellte, ein Gerücht, demnach Abdullah Öcalan auf dieser Veranstaltung auftreten und eine Rede halten werde. Acht Gruppen, die damals gegen uns arbeiteten, hatten mit einer gemeinsamen Erklärung dieses Gerücht in die Welt gesetzt und damit den Polizeiangriff veranlasst. Wir haben also ein Newrozfest unter Polizeiblockade veranstaltet. Die Praxis des deutschen Staates, mit der wir heute regelmäßig konfrontiert sind, erlebten wir damals zum ersten Mal.

Je größer die kurdische Bewegung wurde, desto mehr Bemühungen brachte der deutsche Staat auf, um diese Freiheitsbewegung zu ersticken. Das ist ein wichtiger Punkt. Der Kampf des deutschen Staates gegen die kurdische Freiheitsbewegung begann nicht, wie viele meinen, 1989 mit dem Düsseldorfer Prozess oder 1993 mit dem PKK-Verbot. Die Kriminalisierungspolitik der BRD gegen kurdische Aktivistinnen und Aktivisten begann bereits 1982.

Doch an jenem Tag haben wir uns nicht einschüchtern lassen. Wir haben unsere Veranstaltung 1982 in Duisburg durchgeführt, das war unsere Antwort. Es war nicht nur eine passende Antwort an den deutschen Staat selbst, sondern auch an all diejenigen, die mit dem deutschen Staat gegen die kurdische Bewegung kollaborierten.

Mit der staatlichen Kriminalisierung der Kurdinnen und Kurden fällt auch eine öffentliche Kampagne gegen die Bewegung zusammen. Oft ist die Rede davon, dass linksliberale Medien diese Kampagne angeführt hatte. Zugleich wird auch bestimmten Organisationen unter den türkischen Linken eine wichtige Rolle bei der Anti-PKK-Kampagne zugesprochen. Kannst du hierauf eingehen und uns die Situation damals näher bringen?

Das Erstarken der kurdischen Freiheitsbewegung fällt zeitlich mit der Phase zusammen, als die linksliberalen Kreise so langsam auf der politischen Bühne auftauchen. Es macht Sinn, dass ich ein wenig auf diese Zeit eingehe. Es gab damals unterschiedliche politische Strömungen: Es gab die TKP und ihr nahestehende Organisationen, die stets in Richtung Sowjetunion blickten. Dann gab es Gruppen, die nach Lateinamerika, besonders nach Nicaragua und El Salvador schauten. Natürlich gab es die MaoistInnen, die nach China blickten. Andere politische Kreise richteten ihr Augenmerk auf den Balkan und Enver Hoxha. Dann gab es Leute, und dazu gehörten auch wir, die nach Vietnam schauten. Bestimmte türkische linke Organisationen haben sich nie der kurdischen Freiheitsbewegung angenähert. Zu dieser Zeit wurde intensiv an dem Zusammenschluss „Gemeinsamer Kampf gegen den Faschismus“ gearbeitet, und diese Organisationen positionierten sich sofort dagegen.

In Deutschland unterstützten damals linksliberale Zeitungen aktiv einen Kreis innerhalb unserer Organisation, welcher Verrat beging. Dieser Kreis war derselbe, der im Düsseldorfer Prozess gegen unsere FreundInnen aussagte. Es gibt viel zu dieser Zeit zu sagen. Man könnte damit ganze Bücher füllen. Doch damals gab es auch anti-systemische und alternative Gruppen, die uns zur Seite standen, die gemeinsam mit uns arbeiteten, um gegen diese Schmutzkampagnen vorzugehen. Während die deutsche Polizei sogar zu unterbinden versuchte, dass wir Flyer drucken, haben diese Gruppen die Flyer nicht nur für uns gedruckt, sondern sie auch gleich mit uns verteilt. Wir haben damals die Zusammenarbeit mit diesen Gruppen nicht richtig zu schätzen gewusst. In Duisburg gab es damals beispielsweise genau gegenüber unseren Vereinsräumlichkeiten die Gruppe „Kopf aus dem Sand“. Das waren fortschrittliche linke Leute, die uns mit sehr wertvoller Arbeit zur Seite standen.

Kommen wir nochmal zurück auf die kurdische Selbstorganisierung in Europa. Es wurden verschiedene Dachorganisationen gegründet, dann wieder aufgelöst. Kannst du hierauf eingehen?

Unser erster Dachverband in Europa war FEYKA Kurdistan (Föderation der patriotischen Arbeiter- und Kulturvereinigungen aus Kurdistan in der Bundesrepublik Deutschland e.V.). Das war unser Dachverband damals in Westdeutschland. Am 21. März 1984 haben wir die Gründung der Föderation in Köln bekanntgegeben. Nach der Gründung haben wir zwischen dem 18. April und dem 8. Mai zwei lange Märsche veranstaltet, bei denen ein Demonstrationszug von Hannover nach Bonn und der zweite Zug von Hanau in die damalige Hauptstadt marschierte. Beide Demonstrationszüge endeten in Bonn mit einer Feier und wurden von FEYKA Kurdistan organisiert. Auch die damaligen Vorsitzenden der Föderation Rauf Özbay und Mehmet Öner nahmen teil. Die beiden Freunde sind später im Freiheitskampf gefallen. Ich möchte ihrer an dieser Stelle gedenken. Auch wegen dieser wertvollen Menschen sollte man die Arbeit von FEYKA Kurdistan richtig kennen. Die Föderation hat eine wichtige Aufgabe übernommen und auf politischer Ebene einen wichtigen Kampf geführt. Aus diesem Grund hat der deutsche Staat diese Föderation später auch in die Verbotsliste mit aufgenommen.

Du bist nun auf die zwei Freunde Rauf Özbay und Mehmet Öner eingegangen. Es gibt leider auch Personen, die hier in Deutschland aufgrund ihres Engagements für die kurdische Sache ums Leben kamen. Kannst du uns etwas zu diesen Menschen erzählen?

Bis heute wurden in Deutschland 18 kurdische AktivistInnen ermordet. Unser erster Gefallener war 1982 ein Freund aus Mardin, der in München bei einer Newrozveranstaltung die Zeitung Serxwebun[2] verteilte. Es handelte sich um eine Newrozfeier einer kurdischen Organisation. Als er die Veranstaltung verlassen wollte, wurde er umgebracht; dahinter steckten Leute dieser Organisation. Heute weiß kaum jemand etwas über diese Ereignisse. 1983 haben wieder Mitglieder dieser Organisation in Hannover bei einer ihrer Veranstaltungen einen Freund von uns angeschossen. Auch dieses Mal war der Grund, dass er unsere Zeitung verteilte. Dieser Freund leidet bis heute an den Verletzungen.

Dann gibt es natürlich den Fall von Halim Dener. Zunächst verbietet der deutsche Staat unsere Farben und Symbole. Und als sieben bis acht Monate nach diesem Verbot ein Jugendlicher gegen dieses Verbot protestiert und Plakate anklebt, wird er auf offener Straße von einem Polizisten erschossen, ermordet! Gab sich der Staat damit zufrieden? Nein! Er versucht die Freiheitsbewegung auf allen möglichen Ebenen zu bekämpfen. Eines der bedeutenden Beispiele dafür ist der Fall von Eser Altınok. Als ob es nicht reicht, die Menschen zu inhaftieren, übt der Staat psychischen Druck auf sie aus, sich gegen ihre eigene Gesellschaft und ihre moralischen Werte zu wenden. Als Reaktion darauf hat Eser Altınok seinem Leben im Gefängnis ein Ende gesetzt. Niemand kann diesen Fall anders interpretieren. Hier muss die Rolle des deutschen Staates richtig erkannt werden. Der deutsche Staat ist nicht nur heute, sondern wie bereits gesagt von Anfang an der Bewegung gegenüber feindselig eingestellt. Ist dies schon alles? Nein. Nach der Ermordung von Halim Dener gab es einen weiteren Jugendlichen, der ermordet wurde. In Neumünster wurde er von Faschisten angegriffen und buchstäblich auf offener Straße ermordet. Wir wissen, dass es türkische Faschisten waren. Danach gab es zwei Frauen namens Berîvan und Ronahî, die sich aus Protest gegen die Verbote der Newrozfeiern in der Bundesrepublik und die Beteiligung der BRD am Krieg selbst verbrannten. Sie haben dies wohl nicht ohne Grund getan. Man muss hier den erzeugten Druck sehen. Um was für einen Druck handelt es sich? Was haben die Kurden in dieser Phase denn in Deutschland erlebt, dass kurdische Jugendliche soweit gingen, ihrem Leben freiwillig ein Ende zu setzen? Hier muss man die Repressionen des Staates erkennen. Wohin haben die Eingriffe des Staates auf die KurdInnen, die sich in der kurdischen Freiheitsbewegung organisierten, geführt? Haben sie nicht zur Unterteilung in „gute Kurden, schlechte Kurden“ geführt?

Lasst uns diese Phase noch etwas weiter betrachten. Wurden nicht vier kurdische Jugendliche in Berlin vor dem israelischen Konsulat ermordet, als die kurdische Führungspersönlichkeit Abdullah Öcalan an die Türkei ausgeliefert wurde? Was für eine Strafe gab es für die Mörder? Hat der Staat jemals Rechenschaft für die Ermordeten abgelegt? Wurde Rechenschaft für Berzan Öztürk abgelegt, der sich aus Protest gegen die Abschiebepraxis und gegen den Beginn des Komplotts gegen Abdullah Öcalan im Abschiebegefängnis Stuttgart selbst verbrannte und im Militärkrankenhaus Koblenz gefallen ist? Sie werden sagen: „Wir tragen keine Schuld, er hat es selbst getan.“ Nein, wie kann ein Staat, der einen auf Schritt und Tritt verfolgt, der erfasst, wie oft man welchen Verein betritt, nicht erkennen, wenn ein kurdischer Gefangener seinem Leben in einer Gefängniszelle ein Ende bereitet? Ist dies glaubwürdig? Steht dieser Staat nicht auf einer bestimmten Seite? Die Hände des deutschen Staats sind nicht sauber. Er hat so viele Verbrechen gegen die „schlechten Kurden“ begangen, dass die Geschichte die Rechenschaft dafür sicher einfordern wird. Im gegenwärtigen Dritten Weltkrieg spielt der deutsche Staat eine sehr negative Rolle. Auch heute führt er gegen die Kurdinnen und Kurden einen Stellvertreterkrieg. In der Praxis sprechen wir von einem Staat, der nicht mehr nur den „Terroristen“ bestraft, sondern auch diejenigen, die die „Terroristen“ grüßen.

Welche Rolle spielte der Düsseldorfer Prozess für die Organisierung in Deutschland? Wie ging das PKK-Verbot vonstatten?

Der deutsche Staat leitete ein Verfahren gegen Mitglieder des Zentralkomitees der PKK ein. Duran Kalkan war und ist Mitglied des Zentralkomitees der PKK, Ali Haydar Kaytan war und ist Mitglied des Zentralkomitees der PKK; und angeklagt war auch Hüseyin Celebi, dessen ich gedenken möchte, denn er spielte eine bedeutende Rolle dabei, dieses Verfahren in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Hüseyin Celebi ließ den Staat mit seinen rhetorischen Fertigkeiten ins Leere laufen. Der Staat wusste sehr gut, was er da tat, aber die PKKler wussten auch sehr gut, warum dieser Prozess angestrengt wurde. Im Zuge des Verfahrens, das im Jahr 1989 begann und 1994 endete, war der Staat in der Situation, keine der Anschuldigungen beweisen zu können. Der einzige Ausweg war, die PKK zu verbieten, sie zu einer verbotenen Organisation zu erklären. Er hat dies getan, um mit dem Düsseldorfer Verfahren die eigenen Verbrechen und Verstöße gegen das eigene Grundgesetz und die Gesetze zu vertuschen. Es ist bekannt, welch negative Entscheidungen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) für die KurdInnen trifft. Selbst der EGMR jedoch hat der Beschwerde von Herrn Duran Kalkan gegen dieses Verfahren für Recht gegeben.

Ein Trauerspiel und eine politische Entscheidung des Justizministeriums, die mit einem Verfahren gegen das PKK-Zentralkomitee begannen und heute mit den Paragrafen 129, 129a und 129b fortbestehen. Lasst uns nun über die Situation zu sprechen kommen, in der sich die kurdische Gesellschaft damals befand. Im Jahr 1993 gab es den ersten Waffenstillstand, der von Herrn Abdullah Öcalan ausgerufen wurde. Mit der ersten Waffenstillstandsphase hat sich auf der internationalen Ebene eine sehr wichtige Tendenz entwickelt, die dem Recht der KurdInnen auf die Gründung eines eigenen Staates de facto offen gegenüberstand. Diese Tendenz hat sich in eine sehr ernsthafte Sympathie verwandelt. In der Phase des Waffenstillstands gab es später auch eine Entscheidung des Europarats, die bezüglich der KurdInnen eine revolutionäre Qualität hatte. Wie ist dies zustande gekommen? Die 90er betrachtetet man als eine Phase, die von Mehmet Ağar, Tansu Çiller, Doğan Güreş[3] geprägt wurde. Tansu Çiller besuchte im Juli 1993 Deutschland. Monate später wurde die PKK verboten. Im Jahr 1994 endete das Düsseldorfer Verfahren. Wie gesagt, es gab eine sehr große Sympathie. Nicht nur in fortschrittlichen, revolutionären Kreisen. Selbst der Europarat kam zu positiven Entscheidungen bezüglich des Rechts auf eine eigene Staatsgründung der KurdInnen. Dies hatte Folgen, die der deutsche Staat nicht einschätzen konnte. Es gab die ersten Schritte der Pressearbeit in der Geschichte der Kurdinnen und Kurden. Es gab Kürdha (Kurdistan Nachrichtenagentur) und die Zeitung Berxwedan, das Organ der nationalen Befreiungsfront ERNK. Sie wurden ebenso verboten wie die Zeitung Serxwebun. Das Logo des Kurdistan Reports wurde in dieser Zeit verboten. Darüber hinaus wurden auch Feyka-Kurdistan und 29 Vereine verboten. In dieser Phase hat die kurdische Gesellschaft alle vom deutschen Staat verbotenen Institutionen und Vereine besetzt. Die Menschen hielten Benzin-Kanister und erklärten, dass sie sich selbst verbrennen würden, wenn man in die besetzten Räumlichkeiten eintrete. Es verging nicht eine Woche und der Staat hob das Verbot der 29 Vereine auf. Er korrigierte auch einen Fehler indem er erklärte: „Wir haben eine Organisation verboten, die hier nicht existiert. Wir verbieten nicht die PKK, sondern die Betätigung der PKK.“ Als die Kurdinnen und Kurden das Spiel, das mit ihnen gespielt wurde, erkannten, haben sie ihre Organisierung beschleunigt. Der Staat hatte 29 Vereine verboten. Die KurdInnen haben innerhalb von drei Monaten 36 neue Vereine gegründet. Damals haben wir, als im März 1994 in Mannheim die Gedenkveranstaltung für Berîvan und Ronahî stattfand, in Duisburg den Dachverband Yek-Kom gegründet. Die Gründungsdaten von kurdischen Institutionen sind keine zufälligen. Ich denke, das ist wichtig zu wissen. Die Selbstverbrennung dieser zwei Freundinnen gegen die Verbote war eine sehr aufopferungsvolle Aktion. Der deutsche Staat hatte aber noch nicht genug. Die Gedenkverstaltung wurde von Polizeikräften angegriffen, und es wurde mit scharfer Munition auf Menschen geschossen. Es gibt Leute, die am Bein getroffen wurden, darunter auch mein Neffe. Der deutsche Staat könnte nur mit einer Entschuldigung bei der Freiheitsbewegung Vergebung bei den Kurdinnen und Kurden finden.

Wie bereits erwähnt hat die Unterscheidung „guter Kurde, schlechter Kurde“ mit dem PKK-Verbot begonnen. Mit der Bewertung als „gute Kurden“ wurden diese mit diversen Projekten materiell unterstützt. Es gab auch verschiedene Kreise, die sich aus unterschiedlichen Gründen von der Freiheitsbewegung getrennt haben, die gegen die Freiheitsbewegung aufgehetzt und zu KollaborateurInnen wurden. Doch die KurdInnen hatten ein hohes Bewusstsein erlangt. Denn Mitte der 90er gab es in Kurdistan von Cizre bis Nusaybin immer mehr Aktionen. Es ist eine Phase gewesen, in welcher der türkische Staat Menschen auf offener Straße ermordete. In der Menschen hinter vom deutschen Staat gelieferten Panzern über die Straße geschleift wurden. Jeden Tag wurden Verbrechen mit den geschenkten Waffenrestbeständen aus Ostdeutschland verübt. In dieser Phase haben sich die Flüchtlinge aus Kurdistan und die schon seit längerer Zeit im Ausland lebenden Menschen aus der Türkei und Kurdistan angesichts der Repressionen durch den türkischen Staat und derjenigen hier in Deutschland zusammengetan. Es entstand ein bedeutendes Widerstandspotential, und es wurden die ersten Schritte hin zu einer breiteren Organisierung getan. Der deutsche Staat konnte nicht voraussehen, wie sich die Reaktionen gegen die Politik des „guter Kurde, schlechter Kurde“ organisieren würden. Und das Verbot hat Widerstand provoziert. Ich erinnere z.B. an die Zusammenarbeit zwischen deutschen RevolutionärInnen und denjenigen der kurdischen Freiheitsbewegung, die im Düsseldorfer Prozess verurteilt worden waren, in Stammheim. Sie haben in Stammheim eine Zeitschrift namens „der rote Stern“ herausgebracht. Nach dem Erscheinen der Zeitschrift gab es eine Warnung der USA in der es wie folgt heißt: „Man muss aufpassen, es entsteht eine Widerstandsbewegung nach dem PKK-Format. Das kann gefährlich werden.“ Hier gab es eigentlich die Grundlage für ein Zusammenkommen von den vom System ausgeschlossenen Kreisen zu einer gemeinsamen Widerstandseinheit, auch wenn dies so nicht geplant war und auch keinen Namen bekommen hatte. Inzwischen können wir dies vielleicht besser bewerten. Wir konnten das damals nicht gut auswerten, und es wurde nicht nachhaltig organisiert, wie wir es eigentlich wollten. Doch es gibt einen gemeinsamen Widerstand aus dieser Zeit. Es gibt eine Tradition. Denn das PKK-Verbot war nicht nur ein Verbot gegen PKK-KaderInnen. Es gibt immer mehr ein Verbotsverständnis, das allein die Solidarität mit der PKK als Verbrechen zählt. Es gibt dafür hinreichend Beispiele. Heute gibt es einen Staat, der nicht einmal kurdische Jugendliche akzeptiert, die ein Öcalan-Tatoo am Arm tragen. Oder auch die Kleidung einer 60-jährigen kurdischen Mutter mit kurdischen Motiven. Es ist ein Staat, der die Aufenthaltserlaubnis der Menschen ins Visier nimmt. Ein Staat, der den türkischen Konsulaten die Namensgebung kurdischer Kinder überlässt. Das sind praktische Vorgehensweisen gegen die kurdische Gesellschaft, die aus der Verbots-Logik des Staates herrühren. Wir können dies politisch gesehen auch als psychologische Methoden des Spezial-Kriegs bewerten.

Doch die Menschen hier haben trotz der Repression ihre Veranstaltungen durchgeführt und weiterhin an den Aktionen und Demonstrationen teilgenommen ...

Das ist sowieso einer der Punkte, die den Staat am meisten wurmen. Der Verfassungsschutz verfasst alljährlich Berichte, in denen auch Statistiken veröffentlicht werden mit Zahlen zu AktivistInnen und Veranstaltungen. Wir können sehen, dass sich mit zunehmender Intensität der staatlichen Repression auch ein ernsthafter Widerstand entwickelt. Warum hat es dieser Staat nötig, Funktionärinnen und Funktionäre von Institutionen, die legal gegründet wurden, öffentlich zu denunzieren und anzugreifen? Was für ein Ziel wird damit verfolgt? So haben wir zunehmend einen Staat vor uns, der seine eigenen Werte missachtet.

Was erlebten wir in Deutschland in der Phase von 1999 bis 2004? Wie kamen wir aus dieser Krise heraus?

Das Komplott gegen den Repräsentanten der Kurdinnen und Kurden Abdullah Öcalan und seine daraus resultierende Inhaftierung in der Türkei waren ein schwerer Schlag, insbesondere für die kurdische Freiheitsbewegung und die kurdische Gesellschaft. Die Verhaftung wurde zu einer Art kollektivem Trauma. Deshalb kam es in Deutschland, in anderen Teilen Europas und in Kurdistan zu 76 Selbstverbrennungen von Menschen unter der Parole ‚Unsere Sonne könnt ihr nicht verdunkeln’. Nur durch die Intervention von Abdullah Öcalan selbst konnten weitere derartige Aktionen verhindert werden. Während der damaligen Zeit war die kurdische Freiheitsbewegung die einzige linke Kraft, die dem Protest angemessen Ausdruck verleihen konnte. Sowohl die Freiheitsbewegung, als auch die kurdische Gesellschaft waren zum damaligen Zeitpunkt wirklich traumatisiert von den Entwicklungen. Natürlich waren auch all die solidarischen Kreise sehr betroffen. Denn wir wussten: Die Mauer war gefallen, aber unter ihren Trümmern waren auch viele linke Kräfte begraben worden. Im Zuge des Zusammenbruchs des Realsozialismus waren viele linke Gruppen zerschlagen worden. Nun war also zehn Jahre nach dem Mauerfall eine Führungspersönlichkeit wie Öcalan in Gefangenschaft geraten. Das war sehr bedeutend für weite Kreise, denn genauso wie die palästinensischen nationalen Bewegungen eine wichtige Rolle auf internationaler Ebene spielten, hatte auch die kurdische Freiheitsbewegung eine neue Bedeutung gewonnen: Sie hatte sich in Kurdistan etabliert und eine Struktur geschaffen, auf deren Grundlage sie sowohl für sich selbst, als auch für zahlreiche andere Bewegungen aus dem Mittleren Osten militärische, politische und ideologische Bildung organisierte. Es bestand die Sorge, dass diese Struktur nun zerschlagen würde und damit auch all die anderen Gruppen verloren gehen würden. Viele Kreise waren damals von einer großen Hoffnungslosigkeit erfüllt. Es gab viele Gruppen, insbesondere in Deutschland und anderen Teilen Europas, die sich im Rahmen der Kurdistan-Solidarität organisierten. Unsere Beziehungen zu ihnen brachen nach der Festnahme Öcalans förmlich ein und gingen verloren. Denn nach der Festnahme Abdullah Öcalans und seiner Auslieferung an die Türkei wurden unterschiedlichste Kampagnen gegen die Bewegung gestartet: Personen, die sich von der Bewegung losgesagt hatten, wurden mit Privatflugzeugen aus dem Mittleren Osten nach Europa gebracht und im Rahmen von Anti-Propaganda-Kampagnen eingesetzt. All das konnten wir in den Jahren 2002 und 2003 beobachten. Als Antwort darauf kam es im Jahr 2002 zur Gründung der KADEK, im Jahr 2003 zur Gründung des Kongra Gel (Volkskongress) und im Jahr 2004 zu ähnlichen Ansätzen wie im Jahr 1982. Die damalige Verrats-Kampagne gegen die Bewegung war die umfassendste seit ihrer Gründung. Man versuchte so, die Bewegung vollständig in den zivilen Bereich zu drängen, ihre Lebensführung zu ‚normalisieren’, den Unterschied zwischen Berg, Dorf und Stadt zu verwischen und auch von außen zahlreiche Kampagnen gegen die Bewegung durchzuführen. Die Bewegung sollte auf diesem Weg vollständig zerschlagen werden. Die erneute Aufnahme des bewaffneten Kampfes im Jahr 2004 schlug damals wie eine Bombe ein und erschütterte die Kreise, die sich an der Anti-Propaganda beteiligt hatten. Der türkische Staat reagierte äußerst brutal auf diese Entwicklung. Ähnlich wie heute entschied man sich für eine Kriegslösung, und suchte die Unterstützung internationaler Mächte für die Zerschlagung der Bewegung. Die Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes im Jahr 2004 war natürlich ein sehr wirksames Gegengift gegen all diese Angriffe. Sie ließ all die Pläne ins Leere laufen, die zur Zerschlagung der Bewegung gemacht worden waren. Zudem führte der erneute bewaffnete Kampf zu einem Motivations- und Organisationsschub innerhalb der kurdischen Gesellschaft. Nach der erfahrenen Schwächung gelang so ein Neuanfang.

Ich würde gerne noch etwas hinzufügen. Vielleicht können wir das auch noch weiter ausführen. Ich sprach ja bereits von dem Kampf in den Bergen, der sich in den Jahren 1999–2004 an Abdullah Öcalan orientierte, und dem inneren Verrat gegen diesen Kampf. Ich erwähnte auch die Anti-Propaganda-Kampagnen, die zahlreiche vermeintlich befreundete Kreise gegen uns führten. Die Freiheitsbewegung begann sich ab dem Jahr 2000 entschlossen dagegen zu wehren, insbesondere in Deutschland und anderen Teilen Europas. Es wurden intensive Diskussionen über eine Abkehr von vertikalen Organisationsstrukturen hin zu horizontalen Modellen in Form von demokratischen Volksräten und kurdischen Institutionen geführt. Man diskutierte darüber, dass der erforderliche umfassende Kampf um den Aufbau sich selbst tragender kurdischer Institutionen gehen müsse. Die damaligen Diskussionen führten zu entsprechenden Entschlüssen, mit denen eine Antwort auf die Phase zwischen 1999 und 2004 gefunden wurde. Es war zu einem umfassenden inneren Verrat gekommen, und viele hatten den Weg ins Ausland gewählt. Doch die Kreise der VerräterInnen waren nicht auf die Antwort der Bewegung auf diese Entwicklungen gefasst: Die Bewegung beschloss, sich in Form von Institutionen breiter aufzustellen, ihre Arbeiten in den Vordergrund zu stellen, sich um sie herum zu organisieren und der Zivilgesellschaft eine größere Bedeutung im Rahmen der Entscheidungsfindungsprozesse zu geben. Über viele Jahre hinweg wurden Anstrengungen unternommen, um im Rahmen der Institutionen Diskussionen zu führen und die Verantwortlichen der Institutionen in einen Mechanismus für die gemeinsame Entscheidungsfindung zu integrieren. Wir müssen also sehen, dass damals wichtige Entscheidungen getroffen wurden: Der allgemeine Kampf wurde von nun an über Institutionen organisiert, die Ausdruck des gemeinsamen Willens waren. Diese Entscheidungen fanden breite Unterstützung. Die Freiheitsbewegung spielte bei diesen Diskussionen und Entscheidungen eine maßgebliche Rolle. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal allen Freundinnen und Freunden danken, die sich damals mit großem Einsatz und Entschlossenheit an den Diskussionen beteiligten.

Wenn du dir deine eigene Geschichte in der kurdischen Bewegung in Deutschland durch den Kopf gehen lässt: Gibt es Punkte, bei denen du denkst, das hätten wir eigentlich damals ganz anders machen müssen? Was waren die größten Fehler der kurdischen Bewegung in Deutschland? Und was sind die größten Erfolge, die du miterlebt hast?

Es lohnt sich wirklich zurückzublicken und zu betrachten, wie sich die kurdische Bewegung entwickelt hat und wie ihre Praxis aussieht. Es gibt viele Dinge über die wir sagen können: ‚Hätten wir es doch lieber anders gemacht’. Aber ich möchte einen meines Erachtens nach wichtigeren Gedanken ausführen. Nachdem hier in Deutschland das Düsseldorfer Verfahren beendet worden war und die Freunde frei kamen, wurde in Bonn eine bundesweite Demonstration organisiert. Sie wurde ähnlich wie heute gemeinsam mit deutschen linken Kräften organisiert. Über 10.000 Menschen beteiligten sich an dem Protest, auch deutsche Genossinnen und Genossen und anti-systemisch eingestellte Menschen. Einer der Redner auf der Demo war Ali Haydar Kaytan. Wir könnten jetzt sagen, wo sind diese Zehntausende Menschen heute? Können wir wirklich sagen, all das hätte nichts gebracht? Hatten wir damals als Bewegung in Europa etwa keine Bündnispolitik? Machten wir uns etwa keine Gedanken darüber, wie wir zu unseren BündnispartnerInnen Beziehungen unterhalten könnten? Natürlich hatten wir all das. Ich sage nicht, dass wir all das sonderlich durchdacht angegangen sind. Es gab ein- oder zweimal pro Woche, teilweise sogar noch öfter, kurdische Radiosendungen. Wenn wir uns der damaligen Erfahrungen entsinnen würden und eine ähnliche Bündnispolitik wie damals verfolgen würden, wären wir heute nicht so allein. Wer füllte damals die von uns offen gelassenen Leerstellen? Der Staat beobachtete sehr genau, wo wir in unserer Bündnispolitik Schwachstellen und Lücken hatten und intervenierte an diesen Stellen. Sie alle taten damals Folgendes: Als wäre es das wichtigste auf der Welt, machten sie die Autobahnbesetzungen der Kurdinnen und Kurden zum zentralen Thema. Man sprach in großen Tönen von den Protesten in Dortmund. Dabei war alles ganz anders. Was waren die Gründe für die damaligen Ereignisse? Wenn wir uns die aktuellen Entwicklungen ansehen, erkennen wir, dass wir ganz ähnliche Dinge heute wieder erleben. Auf der einen Seite lobt man die Kurdinnen und Kurden für ihren Kampf gegen den IS (Islamischer Staat), während man auf der anderen Seite allerlei Maßnahmen gegen sie vornimmt. Manchmal frage ich mich, was passiert wäre, wenn der Kampf gegen den IS nicht von den „bösen Kurden“, sondern den im staatlichen Sinne „guten Kurden“ geführt worden wäre. Wahrscheinlich wäre man dann ähnlich wie auf dem Balkan verfahren, wo man die Region in 15 oder 16 Teile zerstückelte, die UCK-Guerilla ausstattete und mit Auszeichnungen überhäufte. Was genau geschieht zur Zeit? Sehen wir uns nur einmal all die Maßnahmen an, die zunehmend gegen uns angewendet werden! Die geheimen Absprachen innerhalb des Innenministeriums aus dem Jahr 2007 und auch aus 2018 zeigen, dass der Staat bereit war so weit zu gehen, selbst den Kontakt zu Menschen unter Strafe zu stellen, die sich im Spektrum der kurdischen Bewegung organisieren. Sind die Kurdinnen und Kurden nur aktuell solch umfassenden Repressionen ausgesetzt? Natürlich nicht. Ich sprach bereits ein bisschen davon. Wie wehren sich die KurdInnen gegen derlei Maßnahmen? In der Zeit vom Verbot 1993 bis zum Beginn der 2000er meldeten wir unsere Proteste und Veranstaltungen häufig im Namen anderer an. Doch der Ansatz, den eigenen Willen im Rahmen von Institutionen zu organisieren und auf diesem Weg nach Lösungen zu suchen, führte zu Folgendem: Man war in der Lage, durch die Entschlossenheit der Verantwortlichen aus den Institutionen bei der Anmeldung von Protesten und durch den rechtlichen Kampf die beliebigen staatlichen Maßnahmen zum Großteil ins Leere laufen zu lassen. Heute wird immer wieder kritisch nachgefragt, warum man damals gegen das PKK-Betätigungsverbot keine rechtlichen Mittel eingelegt habe. Doch die Kurdinnen und Kurden zur damaligen Zeit isoliert zu betrachten wäre falsch. „Hätten wir doch“ – das können wir heute natürlich sagen. Doch heute sehen wir ja, dass der deutsche Staat die bestehenden Gesetze sehr beliebig auslegt und zu einem Gegenstand diplomatischer Spielchen macht. Die deutlichsten Beispiele dafür sind die Erlasse des Innenministeriums vom 2. März 2017 und vom 29. Januar 2018. Aber wer bitte glaubt das Innenministerium zu sein? Das Verfassungsgericht etwa? In der heutigen Phase ist es daher sehr wichtig, im Bewusstsein unserer vergangenen Erfahrungen und Unzulänglichkeiten aus den Jahren 1996 bis 2004 unseren Kampf noch intensiver zu führen. Dafür bedarf es auf der einen Seite des juristischen Kampfes und auf der anderen Seite des politischen Kampf für unsere legitimen Rechte. Letzteren müssen wir führen, indem wir uns nach innen durch Diskussionen stärken und strategische Bündnisse mit unseren BündnispartnerInnen eingehen. Diese Bündnisse dürfen nicht dazu dienen, sich gegenseitig auszunutzen oder sich mit einem Tunnelblick zu begegnen. Vielmehr müssen wir uns gemeinsam gegen die Pläne der imperialistischen Mächte stellen. Dafür können wir uns um die von Abdullah Öcalan entworfene Vision einer Demokratischen Moderne versammeln, die ein Gegenmodell zur Kapitalistischen Moderne darstellt und auf gemeinsamen universellen Werten der gesamten Menschheit basiert. Dafür ist es nötig, dass wir uns nicht mehr nur auf uns selbst beziehen, sondern ein System aufbauen, das auf den gemeinsamen Werten aller Menschen fußt. Natürlich müssen wir auch selbst anerkennen, dass wir dem bisher nicht gerecht werden konnten und hinter unseren Ansprüchen zurück geblieben sind. Ich betone noch einmal: Wir sind bis zum heutigen Punkt gelangt, indem wir unter den verschiedensten Umständen aus eigener Kraft heraus die unterschiedlichsten Proteste, Veranstaltungen durchgeführt und Institutionen aufgebaut und auf dieser Grundlage Kämpfe geführt und Siege errungen haben. Es ist natürlich wichtig zu sehen, dass wir auch heute noch Fehler machen und von Unzulänglichkeiten geprägt sind.

Was waren 1996 die positivsten Aspekte? Wir unternahmen 1996 wirksame Schritte, um der Öffentlichkeit die Rechtmäßigkeit unserer eigenen Positionen im Konflikt mit dem Staat zu erklären. Trotz des massiven staatlichen Drucks gelang es den Kurdinnen und Kurden Proteste und Veranstaltungen durchzuführen. Wir führten sowohl den juristischen, als auch den politischen Kampf aus eigener Kraft heraus und mithilfe unserer eigenen Institutionen. In diesem Punkt machten wir keinerlei Zugeständnisse. Das waren die positiven Seiten unserer Aktivitäten. All diese Aktivitäten sollten natürlich noch deutlich ausgeweitet werden. Zudem führte die Öffnung der Bewegung im Rahmen der Veränderung von vertikalen hin zu horizontalen Organisationsstrukturen dazu, dass die Öffentlichkeit besser erreicht wurde und ganz neue Möglichkeiten entstanden. Nehmen wir die Befreiung von Kobanê als Beispiel. Es gelang uns damals trotz des großen staatlichen Drucks mit linken, sozialistischen und anti-systemischen Kräften zusammenzufinden und uns für den Kampf der Kurdinnen und Kurden einzusetzen, den sie allein aus eigener Kraft führten. Auch die deutschen Medien wurden darauf aufmerksam. Dieses Beispiel zeigt uns, dass es möglich ist, jeglichen staatlichen Maßnahmen zu trotzen, wenn die Interessen der kurdischen Gesellschaft zur richtigen Zeit und auf die richtige Art und Weise zum Ausdruck gebracht werden. Es zeigt uns auch, dass die Menschlichkeit eben nicht vollständig gestorben ist und es ein großes Potential gibt, sich für alle mit diesem Kampf verbundenen Werte einzusetzen und sie selbst zu leben. Ich bin daher auch davon überzeugt, dass es möglich ist, unsere eigenen Unzulänglichkeiten zu überwinden und mit der Unterstützung und dem Einsatz der Gesellschaft unsere Erfolge auszuweiten bzw. zu vervielfältigen.

Wie siehst du die Arbeit der kurdischen Organisierung heute? Wie wertest du die Arbeit innerhalb der kurdischen Community und die Zusammenarbeit mit internationalistischen Kreisen?

Wir können Folgendes feststellen: Unser Kampf hat viel Positives hervorgebracht. Dafür gibt es sowohl in der jüngeren als auch in der weiter zurückliegenden Vergangenheit viele Beispiele. Es ist unmöglich für uns jemals zu vergessen, dass Internationalistinnen und Internationalisten sich mit der kurdischen Freiheitsbewegung verbunden haben, Jahre lang gemeinsam intensive Kämpfe geführt haben oder nach Rojava gegangen sind und dort ihr Leben gegeben oder sich für längere Zeit an den Arbeiten vor Ort beteiligt haben. Wir werden auch niemals vergessen können, dass viele von ihnen wieder zurück in ihre Heimatländer gegangen sind, um dort den Menschen von der Rechtmäßigkeit unseres Kampfes zu berichten. Daraus folgern wir: Wenn wir eine lebenswerte Welt, ein lebenswertes Deutschland ohne Unterdrückung und Ausbeutung wollen, müssen wir einen internationalistischen Kampf führen und uns dafür unser ideologisch-politisches Paradigma zur Grundlage nehmen. Wir haben die Verantwortung, all das weiterzuentwickeln und weiterzugeben, was all diejenigen geschaffen haben, die zu Zehntausenden mit uns auf den Straßen waren, die trotz des immensen staatlichen Drucks ihre Beziehungen zu uns aufrecht erhalten und uns weiter unterstützt haben, die in Rojava ihr Leben gegeben haben oder die Rojava durch den Aufbau von Schulen oder andere Projekte unterstützt haben. Wir müssen alle Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, all unsere Institutionen und Strukturen so gestalten, dass die Internationalistinnen und Internationalisten sie als ihre eigenen Institutionen und Strukturen begreifen. Wir müssen uns von der Haltung befreien, all diese Dinge nur eng, klein und als ausschließlich unsere eigenen zu betrachten. Tun wir dies nicht, werden wir in Zukunft vielleicht vor dem Problem stehen, große Möglichkeiten zu haben, aber niemanden aus unseren Reihen finden zu können, der uns Gehör verschaffen kann. Aber ich bin mir sicher, dass es uns gelingen wird, in Zukunft noch erfolgreichere Arbeit zu leisten, indem wir unsere Schwächen klar benennen, uns auf dieser Grundlage erneuern und ohne zu zögern die notwendige Selbstkritik für unsere Unzulänglichkeiten leisten. Das kurdische Volk hat eine derartige Tradition begründet. Das ist unser aller Geschichte. Uns wurde so viel Wertvolles anvertraut. Ausgehend von all dem sind wir in der Lage, den richtigen Weg einzuschlagen und uns unseren internationalistischen Freundinnen und Freunden angemessen anzunähern.

Es gibt da noch etwas. Es ist uns zwar gelungen mit all dem fertig zu werden, aber die brutalen Repressionsmaßnahmen des deutschen Staates dauern an. Da wäre das Beispiel von Gülnaz Karataş aus Berlin. Sie beteiligte sich während ihrer Schwangerschaft an einem Hungerstreik. Die Polizei stürmte den Ort, an dem sich die Hungerstreikenden aufhielten. Gülnaz Karataş verlor aufgrund dieser Razzia ihr ungeborenes Kind und starb in Folge der Fehlgeburt selbst. Die Akte dieses Staates ist sehr schmutzig.

Es ging bei den damaligen Protesten und Veranstaltungen darum, auf die Maßnahmen des türkischen Staates in den Gefängnissen aufmerksam zu machen und die internationale Öffentlichkeit darüber zu informieren. Ich selbst trage aus dieser Zeit noch eine lange Narbe an meinem Kopf. Damals nahm ich an dem Hungerstreik teil und wurde dafür von der deutschen Polizei angegriffen. Diese Polizei ist es auch, die Gülnaz Karataş umgebracht hat und Türen zahlreicher kurdischer Vereine mit Feuerwehrautos aus den Angeln reißen ließ. Es ist sehr wichtig, all das nicht zu vergessen. Das gilt für alle Orte in Europa, aber insbesondere für Deutschland, denn in Deutschland liegt das Zentrum der Aktivitäten der Freiheitsbewegung. Insbesondere in Köln. Es gibt also den deutschen Staat, der stets darauf bedacht ist, Rache an uns zu nehmen und entsprechend gegen uns vorgeht. Warum sonst sollte der deutsche Staat an einem 23. November den Entschluss für das Betätigungsverbot fassen und diesen an einem 26. November verkünden? Das ist doch ganz eindeutig eine Antwort auf den Gründungstag der PKK am 27. November 1978.

Es gibt gegenwärtig europaweite Proteste gegen den Rechtsruck, zuletzt sind in Berlin auf der unteilbar-Demonstration Hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen, es gab den Protest im Hambacher Forst zum Schutz der Wälder. Wie bewertest du diese Proteste?

Natürlich ist das sehr, sehr wichtig! Bei diesen Protesten handelt es sich um genau die Kämpfe, an denen wir uns am stärksten beteiligen müssen. Heute findet überall auf der Welt eine massive Zerstörung der Umwelt statt. Was ist angesichts dieser Umweltzerstörung der Unterschied zwischen dem, was heute im Hambacher Forst zerstört wird und der Umweltvernichtung, die gestern in Dersim stattgefunden hat? Oder nehmen wir die gestrige unteilbar-Demonstration in Berlin. Meiner Meinung nach hätten wir uns gestern zu Zehntausenden an dieser Großdemonstration beteiligen müssen. Wir hätten die Parolen auf der unteilbar-Demo auch zu unseren Parolen machen müssen. Nur wenn wir uns auch an derartigen Protesten beteiligen, können wir erwarten, dass sich andere Kreise der deutschen Gesellschaft wie zur Kobanê-Zeit an unseren Protesten beteiligen, z.B. gegen die Isolationshaft Abdullah Öcalans. Nur zu Demos zu gehen, ein paar Parolen zu rufen und sich aktionistisch zu geben, reicht nicht aus. Sonst besteht die Gefahr, dass wir irgendwann wieder beklagen, dass wir uns anders hätten verhalten sollen. Eine Selbstkritik danach ist nicht sehr sinnvoll. Wir können ja ganz klar erkennen, dass an vielen Orten auf dieser Welt mit ähnlichen Problemen gekämpft wird, wie wir sie auch haben. Wir kämpfen mit all diesen Problemen, aber da sind noch weitere Dinge, die damit verbunden sind: Der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital, z.B. Konflikte mit Arbeitgebern um Arbeitszeiten. Was also ist in diesem Zusammenhang unsere Aufgabe? Wir dürfen die Themen und Proteste nicht alle in einen Topf werfen. Stattdessen sollten wir uns mit der passenden Haltung und auf die passende Art und Weise an den jeweiligen Protesten beteiligen. Denn jeder Protest hat einen eigenen Ausdruck und eigene Inhalte. All diese Proteste stehen uns ja offen. Es ist daher unsere größte Verantwortung, uns auf die richtige Weise an all diesen Protesten zu beteiligen. Wenn wir uns nur mit unseren eigenen Anliegen und Perspektiven beteiligen, werden wir den vielfältigen Protesten nicht gerecht. Wir werden letztendlich allein dastehen. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass unsere Gesellschaft zu großen Teilen in die Flucht getrieben wurde. Fast 50 Prozent unserer Bevölkerung sind Geflüchtete. Ich spreche nicht davon, sich jedem Ort, an den wir geflüchtet sind, bedingungslos anzupassen und uns zu assimilieren. Aber wir müssen eine realitätsbezogene Politik verfolgen, ohne uns der Realität zu unterwerfen – genauso wie unser Kampf schon immer geführt wurde. Das bedeutet nicht, die bestehenden Verhältnisse einfach zu akzeptieren und sich ihnen zu unterwerfen. Es geht darum anzuerkennen, dass viele mit ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen haben wie wir. Wir sind z.B. ein unterdrücktes Volk, das sich mit der nationalen Frage auseinandersetzen muss. Unser Kampf hat eine gesellschaftliche Dynamik ausgelöst und dadurch Kräfte entwickelt, über die nicht einmal diejenigen verfügen, die seit 300, 1000 oder 3000 Jahren einen Staat haben. Wir müssen uns also darum bemühen, ohne ein Problem klein zu reden oder zu vergessen, Dialoge einzugehen und uns gegenseitig zu überzeugen. Unser langfristiges Ziel muss es sein, durch passende Aktionen oder Veranstaltungen universelle und gemeinsame Werte zu schaffen, um zusammenzukommen und unsere Anliegen und Probleme zu unserer gemeinsamen Sache zu machen.

Fußnoten:

1 Gemeint ist die Aufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK. Der Beschluss wurde 1982 gefasst und 1984 umgesetzt. Die in der Bekaa-Ebene im Libanon ausgebildeten Guerillakräfte der PKK kehrten in Gruppen zurück ins Land (Türkei/Nordkurdistan), um den bewaffneten Kampf gegen die türkische Armee aufzunehmen.

2 Zeitung der Arbeiterpartei Kurdistans

3 Mehmet Ağar war oberster Polizeichef der Türkei, später Innenminister, Tansu Çiller Ministerpräsidentin und Doğan Güreş Generalstabschef.