Massive Chemiewaffeneinsätze und internationales Schweigen

Der türkische Staat setzt massiv auf den Einsatz verbotener chemischer Kampfstoffe. Durch das Ausspielen der Veto-Karte im NATO-Beitrittsverfahren von Schweden und Finnland hat er sich internationales Schweigen erneut erkauft.

Seit dem 14. April findet ein türkischer Großangriff auf die südkurdischen Medya-Verteidigungsgebiete statt. Insbesondere die Zap-Region steht im Fokus der Attacken, aber auch Metîna und Avaşîn werden immer wieder angegriffen. Seit dem 17. April versucht sich die türkische Armee am Boden festzusetzen, stößt jedoch auf erbitterten Widerstand der Guerilla, die mit einer Kombination aus Tunnelkrieg und hochmobilen Einheiten der türkischen Armee schwere Verluste beibringt. Die türkische Armee ist mit konventionellen Mitteln offensichtlich nicht in der Lage, ihre Invasion fortzusetzen, und greift daher zum Einsatz von Chemiewaffen. Diese verbotenen Waffen werden von Flugzeugen aus, aber auch aus Haubitzen und Mörsern auf die Guerilla abgefeuert. Insbesondere die Kriegstunnel befinden sich im Visier dieser kriegsverbrecherischen Attacken.


Wie Berichte aus der Region zeigen, sind insbesondere die Gebiete Çiyareş, Şikefta Birîndara, Şehîd Şahîn, Werxelê und Kuro Jahro von den Chemiewaffeneinsätzen betroffen. Dabei wird nicht allein die Guerilla angegriffen, es werden stattdessen weite Teile unberührter Natur langfristig verseucht.

Auch im vergangenen Jahr setzte die türkische Armee massiv auf den Einsatz von chemischen Waffen. In diesem Jahr wurde die Benutzung dieser verbotenen Waffen noch ausgeweitet. Aktuell werden Gase eingesetzt, die nach Seife und Chlor riechen und grau oder weiß sind.

Giftgas setzt sich überall fest

Die Stellung Şehîd Berxwedan im Widerstandsgebiet Şehîd Şahîn wurde fast zwei monatelang von einer Guerillaeinheit gegen die türkische Armee gehalten. In den 47 Tagen des Widerstands setzte die türkische Armee ihre gesamte Technik gegen die Guerillaeinheit unter dem Kommando von Bager Gever und Avzem Çiya ein. Über Funk teilte Bager Gever am 2. Juni 2022, bevor er zusammen mit drei seiner Genoss:innen fiel, mit: „Sie haben mehrfach chemische Waffen eingesetzt. Die Rückstände dieser Gase haften an den Tunneln. Sie werden wieder aktiv, wenn sie bewegt werden. Diese Rückstände kleben an den Haaren und der Kleidung unserer Freund:innen, wir haben diese Situation dokumentiert.“

Gelbes Gas und geruchlose Gase

Der Einsatz von Chemiewaffen wurde durch die am 25. Juni 2022 von ANF veröffentlichten Aufnahmen aus der gleichen Stellung erneut belegt. In den Aufnahmen erklärt ein Guerillakämpfer, der eine Gasmaske trägt, an der sich chemische Rückstände von schwarzem und weißem Pulver befinden, dass die eingesetzten Gase einen sehr starken Geruch haben. Derselbe Kämpfer berichtet, dass diese Gase direkt die Atemwege angreifen und die Luft rauben, während sich die Wände des Tunnels durch das Gas dunkel verfärben.

Auch er bestätigt, dass die Rückstände immer noch aktiv sind und weiter töten können, wenn sie als Staub aufgewirbelt werden und sich erneut mit der Luft mischen. Wie der Kämpfer berichtet, wurden aber auch andere Stoffe wie Pfeffergas und ein gelbes Gas eingesetzt. Bei dem gelben Gas könnte es sich um Senfgas (Schwefellost) oder Chlor handeln. Insbesondere die im Video gezeigten gelben, flüssigen Rückstände deuten auf Senfgas hin. Bei einem massiven Senfgaseinsatz ist die Bildung von flüssigen Rückständen wahrscheinlich, da der Giftstoff bei Raumtemperatur flüssig ist und eine gelblich-ölige Form hat. (GESTIS-Stoffdatenbank (dguv.de)) Weiterhin werden auch vollkommen geruchlose Giftgase eingesetzt.

Aufnahmen aus Staatsfernsehen bestätigen gelbes Giftgas

In einer 2004 auf TRT 1 ausgestrahlten Dokumentation über die „Anti-Terror-Einheit“ der türkischen Armee wurde ein türkischer Soldat gezeigt, der den Einsatz von „Tränengas“ testete. In den Aufnahmen wird nach dem Abwurf einer Sprengbombe in eine Höhle eine „Tränengasbombe“ geworfen und gelber Rauch stieg auf. Experten, die das Filmmaterial 2011 analysierten, stellten damals fest, dass es sich nicht um Tränengas handelte, sondern um eine andere chemische Waffe. Auch der Einsatz von Tränengas ist im Kriegseinsatz verboten.

779 Chemiewaffeneinsätze in zwei Monaten

In einer Bilanz berichtet das Pressezentrum der HPG von 779 Einsätzen von Chemiewaffen zusammen mit Sprengstoff zwischen dem 14. April und dem 14. Juni. Mindestens 13 HPG- und YJA-Star-Kämpfer:innen sind im ersten Monat des Krieges durch Chemiewaffen ums Leben gekommen. Von diesen Guerillakämpfer:innen sind acht am Çiyareş und fünf in Kuro Jahro gefallen.

HPG-Quellen und ANF-Korrespondent:innen in der Region berichteten, dass die türkische Armee in den letzten Wochen den Umfang der Invasionsoperation kontinuierlich ausgeweitet und verstärkt auf verbotene chemische Waffen zurückgegriffen hat. Demnach hat die türkische Armee zwischen dem 15. Juni und dem 5. Juli 2022 mindestens 162 Mal verbotene chemische Waffen eingesetzt.

Die Bilanz der letzten 20 Tage

Allein in den letzten 20 Tagen wurden folgende Chemiewaffeneinsätze festgestellt:

15. Juni: HPG-Guerilleinheiten stoppen den Versuch der türkischen Armee, sich den Kriegstunneln von Şehîd Zemanî im Widerstandsgebiet Girê Hekarî zu nähern. Die türkische Armee muss sich zurückziehen. Die Kriegstunnel werden daraufhin mit Granaten beschossen, die ein graues, nach Waschmittel riechendes Gas verströmen.

16. Juni: Soldaten zünden vor den Kriegstunneln in Werxelê Feuer an und setzen viermal Giftgas ein.

20. Juni: Die Kriegstunnel von Şehîd Hêjar im Widerstandsgebiet Girê Hekarî werden fünfmal mit Chemiewaffen attackiert.

21. Juni: Die Kriegstunnel im Widerstandsgebiet Werxelê werden fünfmal mit chemischen Waffen angegriffen. Am selben Tag werden auch die Kriegstunnel am Girê Şehîd Çekdar mit chemischen Waffen beschossen.

24 Juni: Die Kriegstunnel Şehîd Çekdar, Şehîd Yıldız und Şehîd Yunus im Widerstandsgebiet Girê Cûdî werden 13 Mal mit chemischen Waffen und Sprengstoff angegriffen. Am selben Tag wurden die Widerstandsgebiete Şikefta Birîndara und Karker in der Region Zap ebenfalls 13 Mal mit chemischen Waffen und das Widerstandsgebiet Werxelê vier Mal mit chemischen Waffen und Sprengstoff attackiert.

25. Juni: Die Şehîd-Yunus-Kriegstunnel im Widerstandsgebiet Girê Cûdî werden 12 Mal mit chemischen Waffen und Sprengstoff attackiert.

25-26 Juni: Die Widerstandsgebiete Şehîd Berxwedan und Şikefta Birîndara wurden an beiden Tagen 24 Mal mit chemischen Waffen und Sprengstoff angegriffen.

28 .Juni: Die Kriegstunnel in den Widerstandsgebieten Girê Cûdî, Karker und Şikefta Birîndara werden siebenmal mit chemischen Waffen und Sprengstoff angegriffen.

30. Juni: Die Kriegstunnel von Girê Şehîd Rêber im Karker-Widerstandsgebiet werden drei Mal mit chemischen Waffen und Sprengstoff angegriffen.

1. Juli: Die Kriegstunnel in Şikefta Birîndara, Girê FM und das Widerstandsgebiet Girê Cûdî Area werden elf Mal mit chemischen Waffen und Sprengstoff angegriffen. Die eingesetzten chemischen Waffen riechen nach Bleiche und Chlor.

2. Juli: Die Kriegstunnel in Kokerê, Şikefta Birîndara, Werxelê, Girê Hekarî und dem Widerstandsgebiet Girê Cûdî werden 17 Mal mit chemischen Waffen und Sprengstoff angegriffen.

3. Juli: Die türkische Armee greift die Widerstandsgebiete Girê Cûdî, Şikefta Birîndara, Karker und Kokerê 21 Mal mit chemischen Waffen und Sprengstoff an. Dabei wurde ein weißes Gas eingesetzt.

4. Juli: Die türkische Armee weitet ihre Invasionsoperation in die Gebiete westlich des Zap in Richtung der Girê-Amêdî-Front aus und setzt intensiv chemische Kampfstoffe gegen Guerillastellungen und Kriegstunnel ein. Die Stellungen am Girê Hekarî, Girê Cûdî, Şikefta Birîndara, Şehîd Umîd und Koker werden 22 Mal mit chemischen Waffen und Sprengstoff attackiert. Die HPG berichten, dass bei diesem Angriff sechs verschiedene Arten von chemischen Waffen eingesetzt wurden.

Türkei kann straflos Kriegsvölkerrecht brechen

Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), der der türkische Staat seit 1997 angehört, zieht es vor zu schweigen. Trotz aller Berichte der HPG zum Einsatz chemischer Waffen und der Aufrufe kurdischer Institutionen und Organisationen war die OPCW nicht einmal bereit, die Anfrage von ANF, ob die OPCW eine Untersuchung einleiten werde, zu beantworten.

Obwohl es den ganzen Mai und Juni über Proteste gegen die Chemiewaffeneinsätze vor dem Gebäude der OPCW gab, hat die Organisation bisher keine Stellungnahme abgegeben. Darüber hinaus blockierten Vertreter:innen der OPCW die Versuche von Delegationen, Gespräche mit ihnen zu führen, und weigerten sich sogar, ein Dossier mit konkreten Dokumenten und Beweisen für den Einsatz chemischer Waffen entgegenzunehmen.

Der Kommandant des Volksverteidigungszentrums (NPG), Murat Karayılan, sieht eine Verbindung zwischen dem NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens und dem Verhalten der OPCW. Die Türkei habe sich das Schweigen mit dem Ausspielen der Veto-Karte erkauft.

In einer Ansprache an die Guerilla erklärte Karayılan am 20. Juni 2022: „Der faschistische Staat TR setzt die NATO-Karte gegen das kurdische Volk ein. Er nutzt sein Vetorecht gegenüber dem Beitritt Schwedens und Finnlands, damit keine Einwände gegen den Einsatz chemischer Waffen laut werden. Dies ist das erste Ziel des Vorgehens der Türkei, das zweite Ziel ist die Aufhebung des Waffenembargos. Es geht im Wesentlichen darum, beide Forderungen erfüllt zu bekommen.“