Keine Aufarbeitung staatlicher Morde in Kurdistan

Das als „JITEM-Prozess von Kızıltepe“ bekannte Verfahren um das „Verschwindenlassen“ von 22 kurdischen Zivilisten in Qoser zwischen 1992 und 1996 wurde wegen Verjährung eingestellt. Die Täter – Soldaten und Dorfschützer – bleiben auf freiem Fuß.

Das als „JITEM-Prozess von Kızıltepe“ bekannte Verfahren um das „Verschwindenlassen“ von 22 kurdischen Zivilisten in Qoser (türkisch: Kızıltepe, Provinz Mêrdîn/Mardin) zwischen 1992 und 1996 ist wegen Verjährung eingestellt worden. Ein türkisches Gericht in Ankara hat die Täter – Todesschwadronen aus Angehörigen des Geheimdienstes der Militärpolizei JITEM – freigesprochen.

Zum Hintergrund: Als der Befreiungskampf der Arbeiterpartei Kurdistans PKK in den 1990er Jahren bei der kurdischen Bevölkerung im Südosten der Türkei an Bedeutung gewann, reagierte der Staat mit einer Politik der verbrannten Erde. Mindestens 4.000 Dörfer brannte die Armee nieder und vertrieb ihre Einwohner*innen, um der PKK ihre Basis zu entziehen.

Gleichzeitig operierten Todesschwadronen, die unter dem Etikett der „Terrorbekämpfung“ mit dem „Verschwindenlassen“ des zivilen Umfelds der kurdischen Freiheitsbewegung beauftragt waren. Zwei Organisationen waren hierfür berüchtigt: Die türkisch-kurdische Hizbullah, eine islamistische Terrororganisation, die vom türkischen Staat im Kampf gegen vermeintliche Dissidenten eingesetzt wurde, und die Konterguerilla aus Spezialeinheiten der Armee, der faschistischen Grauen Wölfe und des Geheimdienstes der Militärpolizei JITEM. Den systematischen „Morden unbekannter Täter“ an kurdischen Geschäftsleuten, Intellektuellen und Politikern, Journalisten, Linken, Liberalen und Gewerkschaftern, die dem Staat kritisch gegenüberstanden, fielen in den 90er Jahren unter der schützenden Hand des Staates rund 17.000 Menschen zum Opfer. Sie wurden in Massengräbern verscharrt, auf Müllhalden geworfen oder in Brunnenschächten versenkt. Von den berüchtigten Todesschwadronen wurden unter anderem der kurdische Schriftsteller Musa Anter, der Geschäftsmann Savaş Buldan - Ehemann der HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan -, der Abgeordnete der Demokratiepartei DEP Mehmet Sincar sowie acht Journalisten und 19 Mitarbeiter der prokurdischen Tageszeitung Özgür Gündem, deren Redaktionsräume in Istanbul und Ankara 1994 durch Bombenanschläge der Konterguerilla zerstört wurden, ermordet.

Gericht: Zeitlich bereits zu weit zurückliegende Vorwürfe

Der „JITEM-Prozess von Kızıltepe“ wurde 2014 angestrengt. Eröffnet wurde das Verfahren im März 2015. Zwar hatte damals das Schwurgericht von Mardin die Anklage gegen die führenden Militärs Hasan Atilla Uğur (Stabsoffizier a.D.), Eşref Hatipoğlu (Stabsoffizier a.D., damals Provinzkommandant der paramilitärischen Gendarmerie in Amed/Diyarbakir), Ahmet Boncuk (Gendarmerie-Kompanieführer), Ünal Alkan (Unteroffizier) wegen des Vorwurfs der Gründung einer bewaffneten Organisation, Entführung, Folter und Mord angenommen, aufgrund von „Sicherheitsbedenken“ war der Prozess allerdings nach Ankara verlegt worden. Anklagen wurden auch gegen die Dorfschützer Abdurrahman Kurğa, Mehmet Emin Kurğa, Ramazan Çetin, Mehmet Salih Kılınçaslan und İsmet Kandemir erhoben. Ihre Opfer: Abdulvehap Yiğit, Süleyman Ünal, Mehmet Nuri Yiğit, Tacettin Yiğit, Zübeyir Birlik, Abdulbaki Birlik, Kemal Birlik, Zeki Alabalık, Menduh Demir, Nurettin Yalçınkaya, Necat (Şemsettin) Yalçınkaya, Mehmet Emin Abak, Hıdır Öztürk, Abdulvahap Ateş, Mahmut Abak, Yusuf Tunç, Şeyhmus Kaban, İzzettin Yiğit, Yusuf Çakar, Abdurrahman Öztürk, Mehmet Ali Yiğit und Abdulbaki Yiğit.

1995 wurden in einer Jauchegrube im Dorf Tilzerin (türkisch: Aysun) in Qoser die sterblichen Überreste von Mahmut Abak gefunden. Ganz in der Nähe wurden dann 2013 die Knochen von Mehmet Emin Abak, Abdurrahman Olcay und Abdurrahman Coşkun ausgegraben. Olcay und Çoşkun waren gemeinsam mit fünf weiteren Personen am 30. Oktober 1995 in Kerboran (Dargeçit, Mêrdîn) von JITEM-Angehörigen verschleppt worden. Danach wurden sie nicht mehr lebend gesehen.

Im „JITEM-Prozess von Kızıltepe“ kam es in den letzten viereinhalb Jahren zu insgesamt 17 Verhandlungstagen. Am Montag stellte die 5. Schwurgerichtskammer von Ankara das Verfahren um das Verschwindenlassen der 22 Kurden mit Verweis auf die zeitlich bereits zu weit zurückliegenden Vorwürfe ein.

Öcalan forderte Gerechtigkeitskommission für Aufklärung dieser Morde

Als die seit 2009 geführten Gespräche zwischen Abdullah Öcalan, der PKK und des türkischen Staates nach den Parlamentswahlen von 2011 nicht wie erwartet in Verhandlungen übergingen sondern abgebrochen wurden, folgte die größte Verhaftungswelle seit dem Militärputsch von 1980. Ausgedehnte Militäroperationen der türkischen Armee ließen den Krieg zudem neu entfachen. Um gegen diesen Zustand zu protestieren, begaben sich 2012 über 10.000 politische Gefangene aus PKK- und PAJK-Verfahren in einen unbefristeten Hungerstreik, der erst durch einen Aufruf Abdullah Öcalans beendet werden konnte. Kurz darauf verkündete Recep Tayyip Erdoğan, der damals noch das Amt des Ministerpräsidenten bekleidete, offizielle Gespräche mit dem PKK-Gründer.

Während diesem Friedensprozess war eine der wesentlichen Forderungen Öcalans, eine Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission einzurichten, wie sie etwa auch in Südafrika während der Apartheid geschaffen worden war, um politisch motivierte Verbrechen zu untersuchen. Die Forderung Öcalans blieb ein ständiger Streitpunkt in den Verhandlungen, weil sich die türkische Seite diesem Ansinnen strikt verweigerte. 2015 beendete die Erdoğan-Regierung auch diese Gespräche und setzte wieder auf den physischen Vernichtungskrieg gegen das kurdische Volk, der weiterhin anhält. Unter diesem Aspekt ist mit einer Aufarbeitung der staatlichen Morde und Kriegsverbrechen der Türkei in der nächsten Zeit nicht zu rechnen.