Karasu: Der Genozid am kurdischen Volk ist ein kultureller Völkermord

In allen Teilen Kurdistans droht die Gefahr eines Völkermords. Kein Staat sollte mit der Türkei verhandeln und den Freiheitskampf des kurdischen Volkes als Verhandlungsmasse nutzen, meint Mustafa Karasu (KCK).

Mustafa Karasu, Mitglied im Exekutivrat der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), hat sich in einer Sondersendung im TV-Kanal Medya Haber über die neuesten Entwicklungen in Kurdistan, im Nahen Osten und in der Welt geäußert, einschließlich der aktuellen Situation von Abdullah Öcalan, der anhaltenden Angriffe auf das kurdische Volk, des Besatzungskrieges des türkischen Staates in Südkurdistan/Nordirak mit Hilfe der PDK, des vor hundert Jahren abgeschlossenen Vertrags von Lausanne, der Bedeutung der Rojava-Revolution für den Nahen Osten und des Rechts des ezidischen Volkes in Şengal [Sinjar] auf Selbstbestimmung.


Die kurdische Freiheitsbewegung ist allen möglichen Angriffen ausgesetzt. Einer der wichtigsten ist die Isolierung des Anführers des kurdischen Volkes, Abdullah Öcalan. Was können Sie uns über seine aktuelle Situation sagen?

Ein Angriff auf den Kampf eines Volkes richtet sich immer in erster Linie gegen seine Führung und seine politische Organisation. Denn ohne diese zu zerstören, kann der Kampf eines Volkes für Freiheit und Demokratie nicht verhindert und ein Volk nicht dem Genozid ausgesetzt werden. Seit dem Widerstand von Şêx Said und der Bevölkerung von Dersim sind immer wieder die Anführer massakriert worden. Rêber Apo [Abdullah Öcalan] hat die Hinrichtung von Şêx Saîd immer als den Beginn des Völkermordes an den Kurdinnen und Kurden betrachtet. Insofern sind der Kampf gegen den Völkermord und der Kampf gegen die Isolierung von Rêber Apo miteinander verwoben. Die gegen Rêber Apo im Gefängnis von Imrali verfolgte Isolationspolitik ist Teil der Politik des Völkermordes. Die Kurdinnen und Kurden müssen sich darüber im Klaren sein, dass es ohne einen effektiven Kampf gegen die Isolation keinen effektiven Kampf gegen den Völkermord geben kann. Ein Volk erlangt Macht, wenn es gemeinsam mit Führungspersönlichkeiten, seiner politischen Bewegung und seiner Organisation kämpft. Jetzt, wo es einen völkermörderischen Angriff auf Rêber Apo gibt, muss es natürlich einen Kampf dagegen geben. Dieser Kampf dauert nun schon seit fast 25 Jahren an. Heute haben sich Gewerkschaften, Kommunen und Intellektuelle in der ganzen Welt dem Kampf für die Freiheit von Rêber Apo angeschlossen, denn seine Freiheit liegt nicht nur im Interesse der Kurden oder der demokratischen Kräfte in der Türkei, sondern ist zum Interesse der gesamten Menschheit geworden.

Dennoch setzt der türkische Staat seine Politik der Isolation und des Völkermords beharrlich fort. So kommentierte Merdan Yanardağ [Chefredakteur des türkischen Fernsehsenders Tele 1] kürzlich die Haltung von Rêber Apo in Imrali. Er sagte, dass kein Gefangener in der Geschichte der Türkei jemals ein solches System erlebt habe. Er ist ein politischer Anführer, der länger inhaftiert ist als jeder andere [in der Türkei]. Merdan Yanardağ hat das selbst gesagt. Er sagte auch, dass es in der Türkei keine Rechtsgrundlage dafür gibt. Warum darf sich Rêber Apo nicht mit seinen Anwältinnen und Anwälten treffen? Warum ist der Weg, ihn aus dem Gefängnis zu holen, blockiert, obwohl er schon so lange inhaftiert ist? Yanardağ kritisierte dies und gab eine Einschätzung darüber ab, warum sich die Türkei nicht an ihre eigenen Gesetze hält. Als Reaktion darauf wurde er sofort verhaftet. In der Vergangenheit hat es ähnliche Fälle gegeben, z.B. Şebnem Korur Fincancı, die wegen einer Äußerung über den Einsatz von Chemiewaffen [durch die türkische Armee] verhaftet wurde.

Weil die Verbindung zwischen der Demokratie in der Türkei und der kurdischen Frage noch nicht hergestellt ist, kommt die Demokratisierung in der Türkei nicht voran.Ohne die Verbindung herzustellen, wird es keine Entwicklung geben. Diejenigen, die sich als Linke, Demokraten oder Liberale bezeichnen, sich aber nicht gegen die Isolierung von Rêber Apo wehren, machen sich nur etwas vor. Der Kampf gegen den Völkermord an den Kurdinnen und Kurden und die Isolation ist zweifellos ein Kampf für die Demokratisierung der Türkei. Deshalb darf dieses Thema nicht von der Tagesordnung genommen werden. Dieser Kampf muss ständig geführt werden. Er muss als Teil des Kampfes für Demokratie und Freiheit gesehen werden. Es ist wichtig, dass die Beendigung des Völkermordes und des Faschismus die höchste Priorität unseres Kampfes wird.

Seit mehreren Jahren führt der türkische Staat einen intensiven Krieg in den südkurdischen Medya-Verteidigungsgebieten. Erst vor wenigen Tagen wurde eine neue Offensive gestartet. Was können Sie uns über die aktuelle Situation in dem Gebiet sagen?

Wie im Jahr 2015 haben sie [die türkische Armee] zum Jahrestag des Vertrags von Lausanne einen umfassenden Angriff gestartet, um die [südkurdischen/nordirakischen] Regionen Zap, Metîna und Avaşîn zu besetzen. Symbolische Tage wie dieser sind für den türkischen Staat sehr wichtig.

Mit diesem Angriff zeigen sie offen, dass es ihr wesentliches Interesse ist, den Völkermord an den Kurdinnen und Kurden zu vollenden und den eigentlichen Zweck des Vertrags von Lausanne zu erreichen. Das gilt für alle kurdischen Kräfte, einschließlich der PDK und der YNK, und für alle vier Landesteile, d.h. auch für Rojava und Rojhilat [Ostkurdistan/Westiran]. Der Angriff zum Jahrestag des Vertrags von Lausanne ist ein Angriff gegen alle Kurdinnen und Kurden. Es ist nicht nur ein Angriff gegen die Kurden in Nordkurdistan. Denn der Vertrag von Lausanne ist ein Abkommen zur Durchführung eines Völkermordes. So sollte er verstanden werden. Deshalb sagen wir, dass der Angriff sehr umfassend ist.

Es gibt einen großen und historischen Widerstand gegen diese Politik. Trotz der Tatsache, dass die türkische Armee diesen Krieg seit 2021 führt und alle Arten von militärischer Ausrüstung, Strategien und Techniken einsetzt, ist es ihr nicht gelungen, irgendwelche Ergebnisse zu erzielen.

Natürlich wurde dieser Krieg auch auf dem jüngsten NATO-Gipfel diskutiert. Die NATO-Vertreter sagen immer wieder: „Wir verstehen die Empfindlichkeiten des türkischen Staates". Sie ignorieren die Tatsache, dass sie damit den Völkermord an einem Volk, nämlich dem kurdischen Volk, legitimieren.

Der türkische Staat versucht, seinen Krieg zu legitimieren, indem er Folgendes wiederholt: „Wir sind nicht gegen die Kurden. Wir kämpfen gegen den Terrorismus" und „Wir sind nicht gegen die Kurden. Sehen Sie, wir haben Beziehungen zur PDK." Sie benutzen also ihre Beziehungen zur PDK, um ihre völkermörderische Politik zu verschleiern. Die NATO macht das Gleiche. Sie behauptet ebenfalls, nicht gegen die Kurden zu sein, und verweist auf ihre Beziehungen zur PDK als Beweis dafür. Man muss also anerkennen, dass die NATO in diesem Krieg ein aktiver Partner auf der türkischen Seite ist. Natürlich werden sie von der PDK unterstützt, da der Krieg in den Gebieten stattfindet, die formal unter der militärischen Kontrolle der PDK stehen. Die PDK schränkt die Bewegungsfreiheit der Guerilla ein und versucht, die Gebiete voneinander abzuschneiden, um jegliche Unterstützung für sie zu verhindern. Das ist auch als Unterstützung der PDK für diese Angriffe zu verstehen.

Es reicht natürlich nicht aus, diese Angriffe nur zu beobachten. Es reicht auch nicht aus, nur auf den heldenhaften und aufopferungsvollen Widerstand der Guerilla hinzuweisen. Das gesamte Volk, insbesondere die Jugend und die Frauen, müssen bei diesem Widerstand eine wesentliche Rolle spielen. Der faschistische türkische Staat verfolgt eine Politik des Völkermordes, zu der auch die Vernichtung der Guerilla gehört. Deshalb ist ein breiter antifaschistischer Kampf notwendig. Daher rufe ich alle Menschen, Intellektuellen, politischen Parteien und alle, die sich als Kurdinnen und Kurden bezeichnen, dazu auf, aufzustehen und das wahre Gesicht des türkischen Staates zu enthüllen.

Auf welche anderen Methoden stützt sich der türkische Staat in seinem Krieg gegen das kurdische Volk?

Eine der gängigsten Methoden, die der türkische Staat derzeit anwendet, um den Freiheitskampf des kurdischen Volkes zu unterdrücken, ist die Bespitzelung von Menschen. Der Staat versucht, Menschen zu kaufen, und wenn sie sich weigern, zu spionieren, wird Druck auf sie ausgeübt, indem ihre Familien bedroht werden. Ihnen wird gedroht, ihre Geschäfte zu ruinieren, oder ihnen wird gesagt, dass sie ins Gefängnis geworfen werden und nie wieder herauskommen. Die grundlegendste Methode der Sonderkriegsführung, die der türkische Staat derzeit gegen die Kurdinnen und Kurden führt, ist die Spionage. Es ist die größte Feindschaft, ein Volk zu zwingen, Spione zu werden.

Die Öffentlichkeit muss sehen, dass dieser Staat ein Feind des kurdischen Volkes ist, der die Kurden nicht einmal als Menschen anerkennt. Der einzige gute Kurde ist in ihren Augen ein Schurke, Spion und Verräter. Das hat sich sehr verbreitet und muss von der Gesellschaft verurteilt werden. Verrat und Spionage sind die größten Übel der Welt. Das ist unmoralisch, skrupellos und verdient es, mit allen möglichen Namen belegt zu werden. Deshalb rufen wir alle dazu auf, bei diesem Thema sehr sensibel zu sein. Ja, es gibt viel Druck von Seiten des Staates, aber es ist keine Option, sich zu ergeben. Selbst der Tod ist besser als das. Und für die Menschen, die in der Vergangenheit kapituliert und Verrat begangen haben, besteht die einzige Möglichkeit, ihre Menschlichkeit wiederzuerlangen, darin, ihre Schuld einzugestehen und Reue zu zeigen.

Sie haben bereits mehrfach erwähnt, dass der türkische Staat einen Genozid am kurdischen Volk begeht und es ein wesentliches Ziel der türkischen Regierung ist, diesen zu beenden. Was genau meinen Sie damit? Womit ist die kurdische Gesellschaft im Moment konfrontiert?

Wenn wir von einem Genozid am kurdischen Volk sprechen, meinen wir eigentlich kulturellen Völkermord. Dabei geht es nicht um physische Vernichtung, was bedeutet, dass alle Kurdinnen und Kurden einfach abgeschlachtet werden. Kultureller Völkermord ist noch schlimmer, weil es sich um ein soziales Massaker, einen Massenmord handelt. Bei einem physischen Massaker kann man 50.000 oder 100.000 Menschen töten. Mit kulturellem Völkermord können Sie einen Genozid an Millionen begehen. Kurden, die kurdische Volkslieder und traditionelle Musik in türkische Lieder umwandeln und sich selbst als türkische Künstler bezeichnen, sind Teil dieses Völkermords. Sie sind schuldiger als diejenigen, die Hunderte von Menschen getötet haben. Als kurdische Gesellschaft müssen wir im Hinblick auf den kulturellen Völkermord, insbesondere an der kurdischen Jugend, sensibel sein. Gegenwärtig wird der Völkermord an den Kurdinnen und Kurden vor allem auf kultureller Ebene verübt. Sie wollen, dass die kurdische Identität aufhört zu existieren. In dieser Hinsicht müssen nicht nur die Kurden, sondern alle Menschen Stellung beziehen. Vor allem Kunstschaffende, Autoren und Intellektuelle müssen eine wesentliche Rolle spielen.

Es ist notwendig, diejenigen, die Festivals [die dem kulturellen Völkermord dienen] besuchen, zu aktiven Unterstützern des Völkermords zu erklären. Ob türkische Künstler oder kurdische Künstler, Linke oder was auch immer, wenn sie Teil davon werden, werden sie zu Tätern des Völkermords. Diese Festivals werden nicht organisiert, um Kurden und die kurdische Jugend kulturell und sozial zu machen. Sie sind Teil einer besonderen Kriegsführungsstrategie. Ob ein Angriff auf das kurdische Volk mit Atombomben oder ein kultureller Angriff mit solchen Festivals, das ist dasselbe und alles andere als etwas Unschuldiges. Das ist gefährlicher als Waffen, weil tödliche Waffen leicht zu erkennen sind. Alle sollten sich dieser Thematik bewusst sein und sich gegen solche Festivals aussprechen. Diejenigen, die diese Feste besuchen, sollten verurteilt, isoliert und entlarvt werden.

In wenigen Tagen jährt sich der Völkermord an den Ezidinnen und Eziden. Was möchten Sie zu diesem Anlass sagen? Und welche Perspektiven hat die ezidische Gesellschaft heute?

Vor neun Jahren wurde in Şengal eines der brutalsten Verbrechen der Geschichte verübt. Sie versuchten, die ezidische Gesellschaft völlig auszulöschen. Doch dies wurde in letzter Sekunde von der HPG-Guerilla verhindert. Die Trennung eines Volkes von seiner eigenen Geographie stellt einen Völkermord dar. Jede Kultur gedeiht auf ihrem eigenen Boden. Jede Blume verleiht ihre schönste Farbe und ihren schönsten Duft, wenn sie auf ihrem eigenen Boden wächst. Die Guerillagruppe, die nach Şengal kam, war eine wirklich kleine Gruppe, aber sie begann sofort, Widerstand zu leisten gegen die IS-Horden, die einen Völkermord durchführten. Später trafen Kämpfer und Kämpferinnen der YPG und YPJ ein und schafften es, einen Korridor für die Flucht der Zivilbevölkerung zu öffnen. Somit wurde die ezidische Gesellschaft gegen den Völkermord verteidigt. Sie erinnern sich noch sehr gut daran. Was viele nicht wissen: Rêber Apo hatte bereits vor der Ankunft des IS gewarnt und zum Schutz der ezidischen Gesellschaft aufgerufen. Es war eine direkt von Rêber Apo erteilte Anweisung, die von der Guerilla der HPG und YJA Star sowie den Kämpfern und Kämpferinnen der YPG und YPJ ausgeführt wurde. Auch heute noch kehrt die ezidische Gesellschaft in ihre Heimat zurück. Diesem Volk muss nach allem, was es erlebt hat, die Möglichkeit gegeben werden, frei und autonom zu sein. So viele unterschiedliche Identitäten und Kulturen auf der Welt haben gezeigt, dass man seine Existenz und Freiheit nur durch Autonomie und Selbstverwaltung schützen kann. In diesem Zusammenhang müssen am Jahrestag des Völkermords an der ezidischen Gemeinschaft durch den IS alle Völker der Welt und alle Kräfte der Demokratie und Humanität den Kampf der Ezidinnen und Eziden für Freiheit, Demokratie und ihre Existenz unterstützen. Der beste Weg, Ihre Liebe zur ezidischen Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen, besteht darin, ihre Selbstverwaltung zu akzeptieren. Sonst werden sie kaum überleben können. Gerade unter den Bedingungen der kapitalistischen Moderne können Kulturen, Identitäten und Überzeugungen nur durch Selbstverwaltung überleben. Ansonsten ist im Zeitalter der kapitalistischen Moderne und des Nationalstaates das Schicksal aller Identitäten und Glaubensrichtungen Völkermord.

Vor Kurzem war der 100. Jahrestag des Vertrags von Lausanne. Es war ein historischer Tag, dessen Auswirkungen noch heute spürbar sind. Können Sie uns mehr über den Hintergrund dieses Vertrags erzählen?

Der Vertrag von Lausanne hatte enorme Auswirkungen nicht nur auf die kurdische Gesellschaft, sondern auf alle Völker des Nahen Ostens. Dieser Vertrag ist die Grundlage für einen Völkermord. Tatsächlich fanden vor der Unterzeichnung in Lausanne zwei Kongresse in den [nordkurdischen/osttürkischen] Städten Erzîrom und Sivas statt. Als Ergebnis wurde der Misak-ı Milli [Nationalpakt] erklärt, d.h. das Ziel, gemeinsam als Türken und Kurden ein Heimatland und eine Regierung zu errichten. Die Kurden unterstützten die Errichtung eines freien und unabhängigen Landes. Aber was geschah später? Während die Existenz des kurdischen Volkes in der Verfassung von 1921 anerkannt wurde, begann mit der Verkündung der neuen Verfassung im Jahr 1924 die Verleugnung. Diese Leugnung basiert auf dem Vertrag von Lausanne. In diesem Vertrag geht es im Wesentlichen um Folgendes: Die Briten verlangten vom türkischen Staat, ihnen Mosul und Kerkûk zu überlassen. Im Gegenzug versprachen sie, dem türkischen Staat zu gestatten, innerhalb seiner eigenen Grenzen einen Völkermord an den Kurdinnen und Kurden zu begehen. Sowohl der türkische Staat als Ganzes als auch die kemalistische Regierung im Besonderen haben das akzeptiert. Mit anderen Worten: Lausanne ist ein Völkermordabkommen. Dafür sind der britische und der französische Staat ebenso verantwortlich wie die Vereinten Nationen. Die türkische Regierung erlangte das Recht, mit Zustimmung dieser Staaten einen Völkermord an den Kurden zu begehen, indem sie Mosul und Kerkûk aufgab. Der von der kapitalistischen Moderne geschaffene Nationalstaat ist an sich ein Instrument des Völkermords, nicht nur in dieser Region. Wenn wir uns die Geschichte ansehen, wird sichtbar, dass viele verschiedene Menschen und Kulturen mit diesem Werkzeug Opfer eines Völkermords wurden.

Insofern muss nicht nur der Vertrag von Lausanne und die Politik des Völkermords bekämpft werden, sondern auch der Nationalstaat selbst. Die vom Nationalstaat geschaffene Mentalität führt zum Völkermord. Der türkische Wille, einen eigenen Nationalstaat zu schaffen, hat zum Völkermord an der kurdischen Gesellschaft geführt. Das Gleiche gilt für die Perser und die Araber, die auf der Grundlage eines kulturellen Völkermords ihre eigenen Nationalstaaten gründeten. Aber der türkische Staat ist das konkretste Beispiel. Der türkische Staat erhielt in Lausanne das Recht, einen Völkermord an den Kurdinnen und Kurden durchzuführen. Und als ob das noch nicht genug wäre, will er nun durch die Zerschlagung der kurdischen Freiheitsbewegung die gesamte kurdische Geographie, die sie Misak-ı Milli nennt, zum Expansionsgebiet der türkischen Nationalität machen. Er will Rojava und Südkurdistan unter seine Hegemonie nehmen und auch dort eine türkische Nationalität etablieren. All das kann nicht unabhängig vom Vertrag von Lausanne betrachtet werden.

Vor einigen Tagen fand in Lausanne eine sehr wichtige Konferenz zum 100. Jahrestag der Unterzeichnung des Vertrags statt. Genau in der Stadt, in der Kurdistan vor hundert Jahren in vier Teile geteilt wurde, wurde über die kurdische nationale Einheit gesprochen. Aber wenn wir über eine nationale Einheit sprechen, müssen wir realistisch sein. Über Einheit zu sprechen, ohne die aktuelle Situation der PDK zu sehen, bedeutet, keinen Schritt weiter zu kommen. Denn das ist ein wesentliches Thema. Es besteht die Auffassung, dass es ohne die PDK keine nationale Einheit geben kann. Natürlich wäre es das Beste, wenn sich die PDK den Bemühungen um Einheit anschließen würde, aber sie hat gezeigt, dass sie das nicht will. Sie wollen die ganze Nation beherrschen und die gesamte politische Macht an sich reißen. Es gab eine Zeit, da wollten sie reden. Das war während des Waffenstillstands von 2012 und 2013. Nachdem der Waffenstillstand erklärt und der Krieg beendet worden war, kam die PDK auf uns zugerannt und wollte reden. Doch als die Türkei den Waffenstillstand brach und neu startete, zog sich die PDK sofort zurück. Nationale Einheit ist wichtig. Alle kurdischen Gruppen und Parteien sollten zusammenkommen. Heute stellt die PDK ein Hindernis für die nationale Einheit dar. Der Vertrag von Lausanne wurde unterzeichnet und Kurdistan wurde geteilt. Aber es gibt immer noch eine Chance, diesen Völkermord zu stoppen. Dabei geht es nicht darum, einen eigenen kurdischen Staat zu schaffen. Vielmehr geht es um die Verhinderung dieses anhaltenden Völkermords und den Schutz der kurdischen Existenz.

Die nationale Einheit wird die kurdische Selbstverwaltung in allen Teilen Kurdistans gewährleisten. In dieser Hinsicht wurden wichtige Schritte unternommen und große Fortschritte erzielt. In Rojava und Südkurdistan gibt es erhebliche Fortschritte, aber auch in Nord- und Ostkurdistan ist der Kampf des kurdischen Volkes sehr groß. Die wichtigste Errungenschaft besteht darin, dass es eine starke Anerkennung der kurdischen Existenz gibt. Der Kampf, der in den vier Teilen Kurdistans geführt wird, hat dies ermöglicht.

In letzter Zeit gab es wieder viele Diskussionen über die Revolution in Rojava, sowohl über die Perspektiven, die sich daraus ergeben haben, als auch über Probleme beim Aufbau von Strukturen für die Gesellschaft. Konnten Sie diese Diskussionen verfolgen? Was denken Sie darüber?

Erstens ist die Rojava-Revolution eine große Revolution. Im Nahen Osten gibt es viele wesentliche Probleme und offene Fragen in Bezug auf Nation, Glauben, Kultur, Frauen, Demokratie und vieles mehr. Durch die Rojava-Revolution wurden für all diese Probleme richtige Lösungen gefunden. In gewisser Weise ist es nicht nur eine Revolution, die die kurdische Frage löst, sondern eine Revolution, die eine Lösung für die Probleme des gesamten Nahen Ostens vorschlägt. Es gibt das Verständnis der demokratischen Nation, der Demokratie, des Zusammenlebens verschiedener Glaubensrichtungen und der Freiheit der Frauen. Das bedeutet, konfessionelle, nationale und Machtkonflikte beiseite zu lassen und Rechte als Teil der Demokratie zu erlangen, statt Machtkämpfe und die Suche nach einem Staat. Es geht darum, Probleme zu lösen, ohne sich eine Machtmentalität anzueignen. Das ist besonders wichtig, da es die Mentalität von Staat und Macht ist, die alle Probleme schafft und unlösbar macht. Sobald man in die Sphäre von Staat und Macht eintritt, verliert man die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Die Menschen in Rojava haben gezeigt, dass sie das gut verstehen. Es ist die praktische Umsetzung der von Rêber Apo geschaffenen Perspektive. Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass das Paradigma von Rêber Apo in Rojava noch immer nicht vollständig umgesetzt ist. Trotzdem haben alle gesehen, wie wichtig und wertvoll auch diese mangelhafte Umsetzung ist. In dieser Hinsicht ist die Rojava-Revolution ein Feld der Freiheit, ein Modell im Umfeld von Unterdrückung und Verfolgung im Nahen Osten. Wir glauben, dass die Rojava-Revolution und die Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens ein Vorbild sein werden.

Kann es eine andere Lösung für ein neues Syrien geben, während all diese mit der Türkei verbundenen Banden und Gruppen versuchen, im Land an die Macht zu gelangen? Nein, das geht nicht. Kann in Syrien Stabilität erreicht werden, ohne das Verständnis des derzeitigen Regimes zu ändern? Nein. Der einzige gemeinsame Nenner für die Stabilisierung Syriens sind die sozialen und politischen Grundsätze der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens. Die Führung Nord- und Ostsyriens ist zu einem Kompromiss fähig. Doch wie gelingt eine Versöhnung mit Banden, mit Gruppen, die unter dem Einfluss der Türkei stehen? Solange sich das Regime nicht selbst ändert, kann es keine Stabilität und keine Lösung bieten und ein Kompromiss wird nicht möglich sein.

Darüber hinaus hat die Rojava-Revolution eine wichtige Rolle bei der Vereinigung der demokratischen Kräfte des Nahen Ostens gespielt. Sie hat in Syrien ein arabisch-kurdisches Bündnis gegen die Aggression des türkischen Staates geschaffen. Das sind wirklich wichtige Entwicklungen nicht nur für Syrien, sondern für den gesamten Nahen Osten. Deshalb möchte ich diese Revolution begrüßen. Wir glauben, dass die Kurden, Araber, Assyrer und Tscherkessen diese Revolution auf der Grundlage der Idee einer demokratischen Nation vor Angriffen aller Art schützen werden. Diese Revolution ist eine sehr schöne Revolution, auch wenn sie ihre Mängel haben mag. Die bestehenden Probleme ergeben sich aus der Tatsache, dass das Paradigma von Rêber Apo nicht vollständig umgesetzt wurde. Es ist dennoch eine Revolution, die von allen Völkern unterstützt wird und ein Vorbild für den Nahen Osten sein wird. Deshalb grüße ich alle mit Respekt, die zu dieser Revolution beigetragen haben.

Kürzlich fand in Vilnius ein NATO-Gipfel statt, bei dem bekannt gegeben wurde, dass die Türkei grünes Licht für den Beitritt Schwedens zum Bündnis gegeben habe. In diesem Zusammenhang wurden die außenpolitischen Interessen des türkischen Staates intensiv diskutiert. Wie bewerten Sie die Bündnispolitik der Türkei?

Den Kurdinnen und Kurden in allen vier Teilen Kurdistans droht die Gefahr eines Völkermords. Um den Völkermord abzuschließen, nutzt die Türkei jede Gelegenheit, um die internationalen Mächte zu erpressen. Sie tun dies mit Flüchtlingen, ihrer NATO-Mitgliedschaft und den Beziehungen zu Russland. Die türkische Staats- und Regierungsfunktion basiert auf dieser Erpressungsmentalität. Es ist überhaupt kein demokratisches Land. Es verfolgt die Kurdinnen und Kurden. Wenn sie die Europäische Union (EU), die sich immer demokratisch nennt, um Hilfe bei ihrer Völkermordpolitik bitten, kommt die EU sofort nach. Die Haltung der EU ist wirklich heuchlerisch und schamlos. Kein Staat sollte mit der Türkei verhandeln und den Freiheitskampf des kurdischen Volkes als Verhandlungsmasse nutzen.

Was genau hat der türkische Staat jetzt getan? Angeblich waren Schweden und einige andere Länder nicht bereit, der Türkei bestimmte Waffen zu geben, weil sie sagten, dass die türkische Armee sie missbrauchen und gegen die Kurden einsetzen würde. Sie sagten, dass die Türkei diese Waffen nicht richtig einsetze und sie stattdessen gegen die Kurden einsetze. Aber jetzt sagen sie, dass sie diese Waffen an die Türkei verkaufen werden. Das war schon immer das Hauptziel des türkischen Staates. Hinzu kommt die Forderung der Türkei, eine Reihe von Kurden auszuliefern. Um das zu erreichen, übt die Türkei Druck aus. Aber das grundlegende Ziel der Türkei ist es, politische Unterstützung für den Völkermord zu bekommen. Dafür wollen sie diese Waffen und die NATO ist bereit, sie bereitzustellen. Der türkische Staat bildet alle Arten von Allianzen und Beziehungen mit Institutionen, z.B. NATO und EU. Der einzige Grund ist die Durchführung des Völkermords an den Kurdinnen und Kurden. Er bildet diese Bündnisse, um Unterstützung für den Völkermord zu erhalten. Wenn diese Bündnisse von ihm verlangen würden, den Völkermord zu stoppen, würde die Türkei keine Sekunde dabei bleiben. Jetzt versucht der türkische Staat erneut, Mitglied der EU zu werden. Das liegt nicht daran, dass sie wirklich eintreten wollen. Sie wollen nur die Vorteile der EU-Mitgliedschaft nutzen. Sie werden versuchen, sie zu bekommen, nachdem sie den Völkermord an den Kurden abgeschlossen haben. Die Türkei wird nicht ernsthaft versuchen, der EU beizutreten, bis der Völkermord an den Kurdinnen und Kurden abgeschlossen ist. Denn die EU hat ihre eigenen Kriterien, Maßnahmen, die lokale Autonomiecharta usw. Wenn die Türkei Mitglied der EU wird, muss sie ihre Politik des Völkermords an den Kurden aufgeben. Aber sie will die EU nur für diesen Völkermord nutzen. Derzeit hat die Türkei kein Interesse an einem EU-Beitritt. Das ist eine Tatsache, über die sich niemand etwas vormachen sollte. Insofern sind sowohl die NATO als auch die EU zu Institutionen geworden, die der türkische Staat für die kurdische Frage nutzt. Als Kurden möchten wir diese Institutionen warnen, diesen Völkermord nicht zu unterstützen. Sie sagen, dass sie die Sensibilität des türkischen Staates verstehen, aber ich möchte sie fragen, wo ihre Sensibilität ist, während Rojava jeden Tag bombardiert wird. Wo bleibt ihre Sensibilität für die kurdischen politischen Gefangenen in der Türkei? Kurz gesagt, der jüngste NATO-Gipfel war ein wirklich beschämendes Treffen. Dort fanden Verhandlungen über die Kurden und die PKK statt, ohne dass Kurdinnen und Kurden beteiligt waren. Insofern müssen wirklich alle Kurdinnen und Kurden Stellung beziehen gegen die NATO und gegen diese Haltung der EU. Die NATO und die EU sollten beim Völkermord an den Kurden keine Partner sein, sind es aber derzeit. So wie sie in der Vergangenheit Partner beim Völkermord an den Armeniern waren. Die Politik und Konflikte dieser Zeit führten zum Völkermord an den Armenierinnen und Armeniern. Jetzt machen sie sich am Völkermord an den Kurden mitschuldig. Sie müssen dies so schnell wie möglich aufgeben.