Bayik: Stärker eintreten für das Paradigma der demokratischen Nation

Nach der Türkei-Wahl haben sich staatliche Angriffe auf Abdullah Öcalan, die PKK und die demokratische Politik verschärft. Cemil Bayik (KCK) ermutigt dazu, sich mehr zu positionieren und für das Projekt einer demokratischen Nation stärker einzutreten.

Cemil Bayik hat sich als Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) in einer Sondersendung auf Stêrk TV zu den Ergebnissen der Wahlen in der Türkei, der Isolation von Abdullah Öcalan, der Lage in Rojava und dem andauernden Widerstand der Guerilla gegen die Angriffe des türkischen Staates geäußert. Wir dokumentieren im Folgenden den zweiten Teil einer leicht gekürzten Fassung des TV-Interviews.

Vor kurzem fanden in der Türkei und Nordkurdistan wichtige Wahlen statt. Diese Abstimmung war auch aufgrund der Intensität der Unterdrückung, der Verfolgung und des Faschismus durch den Staat bedeutsam. Was sind die wichtigsten Schlussfolgerungen, die Sie aus den Wahlergebnissen ziehen?

Die Wahl im Mai war sehr wichtig. Deshalb diskutieren jetzt alle über die Ergebnisse. Es ist nicht falsch, diese Art von Diskussionen zu führen. Das ist auch notwendig, aber wichtig ist, dass diese Diskussionen, die von freiheitlichen und demokratischen Kräften geführt werden, zu positiven Entwicklungen und Erfolgen führen. Das Bündnis für Arbeit und Freiheit wurde vor den Wahlen mit dem Ziel gegründet, die Türkei zu demokratisieren und die Einheit der Völker der Türkei gegen den Faschismus zu schaffen. Das war eine gute Entscheidung. Vielleicht hätte dieses Bündnis noch mehr gestärkt werden müssen. In der Praxis hat es sich nicht so entwickelt, wie es notwendig gewesen wäre. Es mag Unzulänglichkeiten und Fehler gegeben haben, aber daraus müssen jetzt Lehren gezogen werden. Dann werden diese Fehler überwunden werden. Wer Erfolg haben will, muss dieses Thema so angehen.

Alle Kräfte, die an diesem Bündnis beteiligt sind, müssen ihre Beziehungen zu den Menschen stärken. Denn es hat sich gezeigt, dass es einige Schwächen in der Verbindung zur Basis gibt. Ohne solche Beziehungen wird ihre Politik niemals zu Ergebnissen führen. Dies ist ein Bündnis für Freiheit und Demokratie. Deshalb muss es sich auf die Gesellschaft stützen. Es muss die Gesellschaft organisieren und den Willen des Volkes zum Ausdruck bringen. Es muss Entscheidungen gemeinsam mit der Gesellschaft treffen. Wenn die Verbindungen zur Gesellschaft schwach sind, werden die Bündniskräfte nicht in der Lage sein, über die Politik Ergebnisse zu erzielen. Die AKP schart gläubige Menschen um sich. Dies ist ein großer Teil der türkischen Gesellschaft. Deshalb muss das Bündnis für Arbeit und Freiheit verhindern, dass Erdoğan diese Menschen missbraucht, damit er sie nicht für seine Politik benutzen kann. Wenn man diesen Fakt nicht anerkennt, keine entsprechende Politik entwickelt und die Gesellschaft nicht einbezieht, wird man in der Türkei keine Ergebnisse erzielen. Das war auch bei den letzten Wahlen der Fall.

Aus diesem Grund hat Rêber Apo [Abdullah Öcalan] eine Politik dagegen entwickelt. Seine Politik basiert auf der Politik des demokratischen Islam. Der Islam ist in der Türkei vorherrschend. Es gibt Menschen verschiedener Glaubensrichtungen und Religionen, aber es ist überwiegend ein muslimisches Volk. Wenn man das nicht anerkennt, kann man keine Ergebnisse erzielen, egal was man tut. Alle Mitglieder des Bündnisses für Arbeit und Freiheit müssen dies anerkennen. Deshalb müssen sie auf der Grundlage der Politik des demokratischen Islam auf diese Menschen zugehen. Wenn sie das tun, wird dieses Bündnis in der Türkei große Erfolge erzielen. Bei den jüngsten Wahlen ist auch die Bedeutung des Paradigmas der demokratischen Nation deutlich geworden. Die Probleme in der Türkei können nur auf der Grundlage dieses Paradigmas gelöst werden. Deshalb ist es notwendig, darauf zu beharren und keinen Schritt zurückzuweichen. Warum sage ich das? Weil es Angriffe auf dieses Paradigma gibt. Diese Angriffe können sogar Auswirkungen auf bestimmte Personen haben. Man muss wissen, warum diese Angriffe durchgeführt werden und welche Ziele sie verfolgen. Gegen diese Angriffe muss das Paradigma der demokratischen Nation noch stärker verteidigt werden.

Im Bündnis für Arbeit und Freiheit gibt es intensive Diskussionen über die Wahlergebnisse. Sind Sie mit dem einverstanden, was über die Arbeit dieses Bündnisses gesagt wird?

Es gibt Leute, die sich für das Wahlergebnis verantwortlich fühlen. Sie wollen die bestehenden Probleme lösen und arbeiten hart daran. Die Kritik, die sie geäußert haben, ist gut. Sie werden vielleicht auf einige Schwierigkeiten stoßen, aber ich glaube, dass sie gute Ergebnisse erzielen werden. Während die einen verantwortungsbewusst an dieses Thema herangehen und sich in ihren Diskussionen darauf konzentrieren, wie man Erfolg haben kann, gibt es andere, die Unsinn reden. Denn sie sind von der Gesellschaft losgelöst und fühlen sich ihr gegenüber nicht verantwortlich. Stattdessen dienen sie dem Faschismus und dem Völkermord. Deshalb äußern sie sich so ungehemmt. Ihre Reden sind voll von Angriffen auf Rêber Apo, sein Paradigma und die PKK. Einige von ihnen tun dies ganz offen, andere auf subtilere Weise.

Seit 50 Jahren wird unter der Führung von Rêber Apo ein unerbittlicher Kampf geführt. Im Laufe dieses Kampfes wurden viele Werte und patriotische Grundsätze geschaffen. Einige Personen stellen sich gegen diese Werte und behaupten, nationale Interessen zu vertreten. Sie greifen Rêber Apo und die PKK an und bezeichnen sich als Verteidiger der nationalen Interessen. Doch mit diesen Interessen haben sie nichts zu tun. Diejenigen, die für nationale Interessen kämpfen, zahlen den notwendigen Preis dafür. Aber wenn wir uns diese Leute anschauen, sehen wir, dass sie weder einen Kampf führen noch den Preis dafür bezahlen. Sie haben keinen einzigen Tag gegen den türkischen Staat Stellung bezogen und nicht den geringsten Preis dafür gezahlt. Sie stellen sich auf die Seite des türkischen Staates und greifen Rêber Apo, die PKK, die demokratische Politik und die von Rêber Apo entwickelten Projekte an. Was sind das für Verfechter der nationalen Interessen? Wer nationale Interessen verteidigt, steht auf der Seite derjenigen, die für die kurdische Gesellschaft kämpfen, und nicht auf der Seite derjenigen, die einen Völkermord an den Kurden begehen. Wir sehen deutlich, dass diejenigen, die Rêber Apo und die PKK angreifen, auf der Seite des türkischen Staates stehen. Faschisten, Rassisten und Chauvinisten verüben diese Anschläge im Rahmen der Politik von Erdoğan. Unter ihnen befinden sich nicht nur Türken, sondern auch Kurden. Diese Leute betreiben die Politik des türkischen Staates.

Während die Völker der Türkei und das kurdische Volk das Paradigma der demokratischen Nation mit großer Leidenschaft begleiten und auf dieser Grundlage Widerstand leisten, haben andere Angst und greifen es an. Diejenigen, die das tun, sind Faschisten, Chauvinisten und Rassisten. Sie stehen ganz in den Diensten der Politik des türkischen Staates. Die Kräfte der Demokratie und der Freiheit müssen genau verstehen, warum diese Angriffe erfolgen, damit sie die Demokratisierung der Türkei und den Sozialismus verteidigen können. Denn angegriffen wird das Projekt Rêber Apos für eine Demokratisierung der Türkei. Die Absicht dahinter ist die Zerschlagung des Bündnisses für Arbeit und Freiheit. Deshalb ist es jetzt notwendig, dieses Projekt noch intensiver zu unterstützen. Wir müssen die Demokratisierung der Türkei und die Einheit der Völker als unsere Grundlage begreifen. Wenn das Bündnis für Arbeit und Freiheit dies zum Ausgangsbündnis nimmt, werden alle Angriffe zurückgeschlagen. Dann wird das Bündnis stärker werden.

Was ist die dringendste Aufgabe, die das Bündnis für Arbeit und Freiheit jetzt angehen muss?

Erdoğans Allianz existiert immer noch. Das von Kılıçdaroğlu aufgebaute Bündnis ist jetzt zusammengebrochen. Der einzige Zusammenschluss, der sich von jetzt an am meisten entwickeln wird, ist das Bündnis für Arbeit und Freiheit. Diejenigen, die sich daran beteiligen, müssen daher verantwortungsbewusst handeln. Mit anderen Worten, sie müssen eine demokratischere Politik sowohl in Kurdistan als auch in der Türkei entwickeln.

In Kurdistan und in der Türkei tut sich derzeit viel. Vor allem in Kurdistan. Zum Beispiel haben sich neulich in Bismîl Kurden gegenseitig umgebracht. Unser Volk sollte sich nicht gegenseitig töten, sondern seine Probleme im Dialog lösen. Die demokratische Politik ist in der Verantwortung, die Menschen zu schützen und diese Art von Problemen zwischen den Völkern zu verhindern. Denn der türkische Staat will, dass solche Probleme eskalieren und die Kurden sich gegenseitig umbringen. Deshalb muss die demokratische Politik ihre Rolle in dieser Hinsicht spielen.

Und das kurdische Volk selbst, welche Haltung sollte es Ihrer Meinung nach jetzt nach den Wahlen einnehmen?

Der türkische Staat greift die Menschen in Kurdistan im Rahmen seiner auf Genozid ausgelegten Politik auf jede erdenkliche Weise an. Er forciert eine Vergewaltigungskultur, schickt die Gebeine von Gefallenen in Plastiksäcken an ihre Familien, schlachtet Kinder, Frauen und alte Menschen mit Panzern ab, fördert Prostitution und Drogenkonsum, setzt auf die Methode der Agentenanwerbung. Er beutet die Natur Kurdistans aus, holzt Bäume ab, baut Staudämme, betreibt Bergbau und zerstört Dörfer. Mit anderen Worten, er zerstört die Grundlage des Lebens in Kurdistan. Deshalb darf unser Volk zu all dem nicht schweigen. Wo immer der türkische Staat diese Angriffe durchführt, sollten sich die Menschen dort erheben. Das ist der richtige Weg. Das ist es, was die kurdische Identität, die Religion und das Menschsein verlangen.

Eine letzte Frage zu den Wahlen: Halten Sie die neue Regierung in Anbetracht der allgemeinen Atmosphäre während der Wahl und des Betrugs für legitim?

Die Wahlen haben deutlich gezeigt, dass das kurdische Volk Erdoğan ablehnt. Es akzeptiert ihn nicht. Nicht nur das kurdische Volk, sondern auch die Völker der Türkei haben Erdoğan bei der Wahl die rote Karte gezeigt. Deshalb ist diese Regierung nicht legitim. Die Entscheidungen, die sie in Bezug auf das kurdische Volk trifft, sind ebenfalls illegitim. Die Regierung in der Türkei ist vollkommen faschistisch und genozidär. Sie hat nur mit Hilfe der Macht des Staates gewonnen.

Am 30. Juni jährt sich der 27. Jahrestag des Gefallenentodes von Zeynep Kınacı (Zîlan), die sich in einer türkischen Militäreinheit in Dersim in die Luft sprengte und damit eine der ersten Fedai-Aktionen der PKK verübte. Wie interpretieren Sie diesen Opfergeist, der in diesem Kampf auch heute noch herrscht?

Zuallererst möchte ich in der Person von Hevala Zîlan sowie Sema und Gûlan aller Gefallenen der Revolution mit großem Respekt gedenken. Außerdem möchte ich alle Freiheitskämpfer:innen grüßen. Hevala Zîlan bezog Stellung gegen den Anschlag auf Rêber Apo [im Mai 1996 in der syrischen Hauptstadt Damaskus]. Damit sandte sie eine Botschaft an die Guerilla, das kurdische Volk und den türkischen Staat. Und sie hat dem türkischen Staat klar zu verstehen gegeben, dass, wenn er versucht, die Führung [Abdullah Öcalan] zu beseitigen, er auch versucht, uns alle zu beseitigen – was uns das Recht gibt, den türkischen Staat zu beseitigen. Heute kämpfen unsere Partei, unser Volk und unsere Guerilla immer noch im Geiste Zîlans. Vom ersten Tag an war die PKK immer von dieser Art von Opferkraft geprägt. Das wurde durch Zîlan und die Freunde im Kerker von Amed deutlich. Heute wird in den Medya-Verteidigungsgebieten – in Zap, Metîna und Avaşîn – der Geist von Zîlan lebendig gehalten. In den Gefängnissen, nicht nur in der Türkei, sondern auch in anderen Ländern, leisten alle, die für Demokratie und Freiheit des kurdischen Volkes kämpfen, auf der Grundlage dieses Geistes Widerstand. Niemand kann die PKK zerstören oder den Völkermord am kurdischen Volk beenden, weil dieser Geist des Widerstands in ihm steckt. In diesem Geist sind Glaube und Aufopferung verborgen. Wenn dies nicht der Fall wäre, hätten wir nicht so viele Jahre gegen die türkische Armee kämpfen können. Wir haben den Widerstand bis heute fortgesetzt und dank dieses Geistes viele Werte geschaffen.

Am 29. Juni 2023 sind 98 Jahre vergangen, seitdem Şêx Seîd hingerichtet wurde. Doch so viele Jahre nach seiner Ermordung hat der türkische Staat noch immer nicht das Geheimnis seiner Grabstätte gelüftet. Warum eigentlich?

Am 29. Juni [1925] vollstreckte der völkermörderische türkische Staat das Todesurteil gegen Şêx Seîd. Mit ihm zusammen wurden auch 46 Patrioten hingerichtet. Die Stelle, an der sie begraben wurden, ist bis heute unbekannt. Der türkische Besatzungsstaat stellte auch Rêber Apo vor Gericht und fällte am 29. Juni 1999 gegen ihn ein Todesurteil. Mit anderen Worten, er fällte das Todesurteil für Rêber Apo am selben Tag wie für Şêx Seîd. Das zeigt den Charakter des türkischen Staates. Wenn man diesen Charakter und die historische Realität des kurdischen Volkes versteht, kann man begreifen, was heute geschieht. Dann kann man auch verstehen, warum Rêber Apo so brutal gefoltert wurde. Der türkische Staat will nur den Tod für die Kurden. Er erfreut sich an Massakern, Todesfällen und Völkermorden. Deshalb will er Rêber Apo und das kurdische Volk vernichten. Das ist alles, woran sie denken. Deshalb haben sie alle Mittel der Türkei in Bewegung gesetzt. Jeder Kurde, jeder Mensch muss das sehen. Jeden Tag müssen sie darüber nachdenken, wie sie ihre Werte schützen können, wie sie sich gegen den türkischen Staat stellen werden. So müssen sie ihre Verantwortung verstehen und wahrnehmen. Sie werden dafür vielleicht einen Preis zahlen und leiden, aber am Ende werden sie gewinnen. Unser Volk weiß heute, wer ein echter Patriot ist, wer einen Preis gezahlt und gelitten hat. Denn jeden Tag führen Rêber Apo, die PKK und die Guerilla einen unerbittlichen Kampf für die Freiheit des kurdischen Volkes. Jeden Tag erleiden sie Verluste und geben Gefallene. Deshalb erinnere ich an dieser Stelle noch einmal an die Gefallenen des Freiheitskampfes. Ich verneige mich respektvoll vor ihrem Andenken, mein Mitgefühl gilt ihren Familien aller Gefallenen. Allen Kämpferinnen und Kämpfern wünsche ich Erfolg in ihrem Widerstand.