Colemêrg (tr. Hakkari) ist eine der Hochburgen des kurdischen Freiheitskampfes und gleichzeitig eine Region, in der die Kriegspolitik des türkischen Staates am intensivsten umgesetzt wird. Die Provinz im äußersten Südosten des türkischen Staatsgebiets wird von allen Seiten belagert und gleicht einem offenen Gefängnis. Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger, Migration, Unterdrückung, Tod und Verhaftungen gehören zum Normalzustand. Die Stammeskultur ist nach wie vor weit verbreitet und in letzter Zeit versucht der Staat, die Einheit der Bevölkerung von Colemêrg über eine Instrumentalisierung der Stämme zu brechen.
In der Provinz, deren historischer Name Colemêrg ist, liegen die Landkreise Gever, Çelê und Şemzînan (Yüksekova, Çukurca und Şemdinli). Eine Seite der Provinz grenzt an Rojhilata Kurdistanê (Ostkurdistan) auf iranischem Staatsgebiet und die andere Seite an Başûrê Kurdistanê (Südkurdistan) im Nordirak. In der Region leben 285.000 Menschen. Es gibt eine starke Abwanderung, fast 70.000 Menschen aus Colemêrg leben an anderen Orten. Mit fast 200.000 Wahlberechtigten ist Colemêrg weiterhin die Hochburg der kurdischen Freiheitsbewegung. Diese Haltung hat einen hohen Tribut erfordert. Menschen aus der Region wurden von staatlichen Kräften auf der Straße und andere entlang der Grenze brutal ermordet. Von der Bevölkerung gewählte Ko-Bürgermeister:innen und Abgeordnete wurden verhaftet und die Gemeinden beschlagnahmt.
Zu allen Zeiten im Visier des Staates
Leyla Güven, die als Ko-Vorsitzende des Demokratischen Gesellschaftskongresses (KCD) verhaftet und ins Diyarbakır-Gefängnis gebracht wurde, wurde bei den Wahlen am 24. Juni 2018 in Colemêrg zur HDP-Abgeordneten gewählt. Die HDP erhielt 75 Prozent der Stimmen im Zentrum von Colemêrg, 81 Prozent in Gever, 64 Prozent in Çelê und 50 Prozent in Şemzînan und gewann alle drei Parlamentssitze. Aufgrund von gestohlenen Stimmzetteln und Stimmen aus dem Ausland wurde ein Abgeordnetenmandat an die AKP vergeben. Leyla Güven wurde später als politische Geisel genommen und ins Gefängnis gesteckt.
Im Jahr 2015 nahmen die AKP und ihr Staat auch die Verwaltung von Colemêrg ins Visier. In der von der HDP regierten Gemeinde wurde ein staatlicher Zwangsverwalter eingesetzt. Die gewählten Ko-Bürgermeister:innen Dilek Hatipoğlu und Nurullah Çiftçi wurden ebenfalls verhaftet und werden seit etwa acht Jahren als Geiseln im Gefängnis festgehalten.
Trotz der Verhaftungen und der Usurpation durch den Staat hat die Bevölkerung von Colemêrg bei den Kommunalwahlen am 31. März 2019 erneut ihren Willen kundgetan und Cihan Karaman zum Bürgermeister gewählt. Der HDP-Politiker wurde wie Hatipoğlu und Çiftçi verhaftet und der Wille des Volkes zum zweiten Mal ausgehebelt.
Zerstörung durch Zwangsverwaltung
Alle, die man in der Stadt anspricht, sind wütend auf die AKP und ihre Treuhänder. Die Regierung hat die Stadt seit etwa acht Jahren in ein offenes Gefängnis verwandelt. Trotz der Assimilationspolitik, der Verbote und der Gesetzlosigkeit der AKP sprechen immer noch hundert Prozent der Bevölkerung Kurdisch. Colemêrg kann auf eine 10.000 Jahre alte und tief verwurzelte Tradition zurückblicken. In der Provinz werden jedoch keine Dienstleistungen in kurdischer Sprache angeboten. Die Muttersprache der Bevölkerung soll durch Assimilierung eliminiert werden.
Auch für Frauen gibt es keine Angebote. Es wurden und werden viele schmutzige Maßnahmen ergriffen, um die Frauen in ihren Häusern einzusperren. Mit der Beschlagnahmung der Gemeinden wurden die kommunalen Arbeiten eingestellt. Unter der HDP eingeführte Projekte und Angebote wurden von den Zwangsverwaltern zerstört. Viele Einrichtungen für Frauen, Kinder und Jugendliche wurden geschlossen. Frauen und junge Menschen, die in diesen Einrichtungen arbeiteten, wurden entlassen. Anstatt den Menschen zu dienen, begannen die Treuhänder, diese Projekte und Einrichtungen zu nutzen, um die kurdische Bevölkerung zu assimilieren und ihre Kultur und Sprache zu zerstören. Die Treuhänder haben dafür gesorgt, dass fast die gesamte Stadt keinen Zugang zu sauberem Wasser hat. Die belebtesten Straßen und Stadtteile sind mit Müll übersät.
Stadt unter Belagerung
Die Einfahrt in die Stadt steht unter staatlicher Blockade. Alle Personen und Fahrzeuge, die in die Stadt hinein- oder aus ihr herausfahren, werden festgehalten und durchsucht, oftmals stundenlang. Bei den Straßenkontrollen und Durchsuchungen werden Menschen beleidigt und manchmal auch in Gewahrsam genommen. Auf allen anderen Straßen in die Stadt sind Gräben und Barrikaden errichtet worden. Die Menschen müssen zwangsläufig die Kontrollstelle Depin am Eingang von Colemêrg passieren.
Handel ist untersagt
Obwohl es in Gever, Şemzînan und Çelê Grenzübergänge gibt, können die Menschen keinen Grenzhandel betreiben. Der grenzüberschreitende Handel ist verboten. In der Provinz herrschen Verbote und und es gibt keine öffentlichen Dienstleistungen. Viele Gewerbetreibende mussten ihre Geschäfte und Arbeitsstätten schließen. Tausende Menschen sind aufgrund von Arbeitslosigkeit und Armut in die Großstädte abgewandert. Da der Staat Hochebenen, Weiden und Bergdörfer als Sicherheitszonen deklariert und gesperrt hat, mussten die Menschen, die in den Dörfern Viehzucht betreiben, ihre Tiere verkaufen. Durch diese Politik des Staates ist die Landbevölkerung, die Bäuerinnen und Bauern, die früher Produzent:innen waren, zu Konsument:innen geworden.
Große Hoffnung in die Wahlen
Die gesamte Bevölkerung ist von den Verboten betroffen, die die AKP und ihr Staat in Colemêrg verhängt haben. Heute wartet Colemêrg sehnsüchtig auf die Wahlen am 14. Mai. Die Menschen verfolgen die Entwicklungen genau und setzen große Hoffnungen in die Wahlen, die zu einem Sturz des Erdogan-Regimes führen könnten. Dass die HDP aufgrund des gegen sie laufenden Verbotsverfahrens gar nicht antritt und stattdessen die Grüne Linkspartei (Yeşil Sol Parti, YSP) unterstützt, scheint für die Bevölkerung keine große Rolle zu spielen. „Es ist egal, wer die Kandidaten sind, wenn die Partei sie auswählt, werden wir sie unterstützen", sagen die Menschen. Bei den Kandidat:innen der YSP handelt es sich um junge, dynamische, gebildete und erfahrene Menschen aus der Region. Die Grüne Linkspartei hat gute Chancen, alle drei Abgeordnetenmandate in Colemêrg zu gewinnen.