NGOs: Feindstrafrecht gegen Cihan Karaman

NGOs in Colemêrg sehen in der Verurteilung des abgesetzten Bürgermeisters Cihan Karaman zu über zehn Jahren Haft ein konkretes Beispiel für die Anwendung von Feindstrafrecht. Damit werde in der Person des Politikers die gesamte Bevölkerung abgestraft.

Zivilgesellschaftliche Organisationen in der kurdischen Provinz Colemêrg (tr. Hakkari) sehen in der Haftstrafe gegen den HDP-Politiker Cihan Karaman ein konkretes Beispiel für die Anwendung von Feindstrafrecht. Mit dem Urteilsspruch gegen den abgesetzten Ko-Bürgermeister hätte die türkische Justiz erneut demonstriert, dass sie nicht unabhängig sei und sich als Werkzeuge der Regierung instrumentalisieren lasse, kritisierten Vertreterinnen und Vertreter eines Bündnisses aus Gewerkschaften, Berufsverbänden und zivilrechtlichen Organisationen am Samstag im Rahmen einer gemeinsamen Pressekonferenz. „Diese staatliche Missbilligung sowie die rechtliche Ächtung demokratisch gewählter Bürgervertreter, die als Staatsfeinde betrachtet werden, hat System. Das Sonderrecht, das gegen sie gesprochen wird, richtet sich gegen die gesamte Gesellschaft. Es handelt sich um eine Abstrafung aller Kurdinnen und Kurden, denen damit signalisiert wird: Ihr seid völlig rechtlos und habt ständig Repressalien zu erdulden“, sagte der Rechtsanwalt Azad Özer von der Juristenvereinigung ÖHD.

Die Mär von den „Terror“-Kurden

Cihan Karaman war erstmals Anfang 2021 wegen „terroristischen Aktivitäten“ von einem Gericht in Colemêrg zu einer Freiheitsstrafe von 25 Monaten verurteilt worden. Die Anklage beruhte im Wesentlichen auf den Aussagen eines anonym gehaltenen Zeugen. Dem Politiker wurde unter anderem vorgeworfen, durch die Einrichtung des Modells der genderparitätischen Doppelspitze einen „Befehl der Organisation“ (gemeint ist die PKK) befolgt zu haben. Zudem wurde Karaman der Teilnahme an einer „Terroristenbeerdigung“ beschuldigt. Dazu hatte er vor Gericht gesagt: „Das stimmt. Es handelte sich um meinen Sohn.“

Cihan Karaman (r.) und die mit ihm abgesetzte Ko-Bürgermeisterin Hümeyra Armut

Erste Strafe für Berufungsgericht zu niedrig

Ein regionales Berufungsgericht in Wan hob das Urteil gegen Karaman jedoch auf und verwies den Fall zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das erstinstanzliche Gericht zurück. Vergangenen Donnerstag wurde der 45-Jährige erneut verurteilt, diesmal zu zehneinhalb Jahren Haft - wegen der angeblichen Mitgliedschaft in der PKK. Karaman wurde noch im Gerichtssaal mit Verweis auf eine vermeintliche Fluchtgefahr verhaftet und in ein örtliches Hochsicherheitsgefängnis überstellt. Eine vorzeitige Haftentlassung kann nach türkischem Recht erst nach Verbüßen von drei Viertel der Strafe erfolgen.

Opfer einer Justizfarce

„Cihan Karaman ist Opfer einer Justizfarce“, konstatierte Özer. Der Jurist hält den Haftbefehl noch vor Rechtskraft des Beschlusses für rechtswidrig. „Unser Mandant hat sich an allen Verhandlungen in dem Prozess beteiligt, seine Ehefrau befindet sich ebenfalls im Gefängnis und er ist nicht im Besitz eines Reisepasses. Der Haftgrund der Fluchtgefahr liegt also nicht vor. Wir haben dem Gericht dargelegt, dass Vermutungen zur Annahme der Fluchtgefahr nicht ausreichen sondern hinreichend bestimmt sein müssen. Darauf ist man nicht eingegangen“, betonte Özer. „Karamans Verhaftung stellt einen Angriff auf unsere Stadt dar, den wir nicht akzeptieren werden.“

Zusammenhang mit der „Politik der Zwangsverwaltung“

Das Urteil müsse aber auch vor dem Hintergrund der „Politik der Zwangsverwaltung“ betrachtet werden, führte der Jurist weiter aus. Karaman war bei der Kommunalwahl im März 2019 mit knapp 60 Prozent der Stimmen zum Ko-Bürgermeister von Colemêrg gewählt worden. Und das, obwohl die AKP von Erdogan im Vorfeld in Colemêrg und anderen kurdischen Kommunen tausende ortsfremde Sicherheitskräfte in die Wahlregister eingetragen hatte. So machten die in den Wahllisten registrierten Soldaten und Polizisten vielerorts ungefähr dieselbe Anzahl aus wie die ortsansässigen Wahlberechtigten. Am 17. Oktober 2019 folgte die Verhaftung und anschließende Amtsenthebung von Karaman. Nur einen Tag später zog bereits ein vom Innenministerium ernannter Zwangsverwalter anstelle des Politikers im Rathaus der HDP-Hochburg ein.

Solange Demokratisierung nicht stattfindet, ist Putschmechanismus in Kraft

„Zwangsverwaltung bedeutet, den demokratischen Willen des Volkes nicht zu respektieren. In Ländern wie der Türkei, die von einem autokratischen Regime beherrscht werden, kommt es nicht überraschend, dass ein Putschmechanismus in Kraft tritt, solange keine Demokratisierung entsteht“, erklärte Özer. Karaman war nicht die einzige gewählte Person, die nach der Kommunalwahl vor knapp vier Jahren ihres Amtes beraubt wurde. Die türkische Regierung ließ in 48 der insgesamt 65 von der HDP gewonnenen Kommunen die gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister absetzen und durch staatliche Zwangsverwalter ersetzen. In sechs Kommunen konnten die Gewählten ihr Amt gar nicht erst antreten, weil der Wahlausschuss ihnen die Anerkennung verweigerte. An ihrer Stelle wurden die bei der Wahl unterlegenen AKP-Kandidaten ins Bürgermeisteramt gehievt. Heute werden nur noch sechs Rathäuser von der HDP regiert.

Antiterrorgesetze zur Missachtung des Wählerwillens

Özer charakterisiert die Einsetzung von Zwangsverwaltern als „den schrittweisen Aufbau eines Regimes, in dem Mandatsträger nicht mehr gewählt, sondern ernannt werden“. Unter Anwendung der Antiterrorgesetzgebung werde der Willen der Bevölkerung missachtet und unterdrückt sowie das passive und aktive Wahlrecht abgeschafft. Damit verstoße die türkische Justiz nicht nur gegen die eigene Verfassung, sondern auch gegen die von der Türkei ratifizierten internationalen Abkommen. Und: „Mit rechtswidrigen Urteilen legitimiert die Justiz dieses Unrecht – die Abstrafung einer gesamten Gesellschaft.“

Verteidigung bereitet sich auf Berufungsverfahren vor

Dabei stelle Kommunalpolitik das Rückgrat von Demokratie dar und sei die Essenz von demokratischen Gesellschaften, führte Özer weiter aus. Dass die türkische Regierung seit Jahren versuche, dieses Prinzip zu zerschlagen, stehe für den „Vernichtungsfeldzug gegen die Demokratie“. Dieser „Krieg“ werde ausgetragen von einem „monistischen und imperialistischen Verständnis“, welches die Herrschenden über den Willen des Volkes stellten. „Wir müssen ein verfeinertes Verständnis von lokaler Demokratie entwickeln, das auf die direkte Beteiligung der Bürger an der Verwaltung abzielt und ihnen eine Stimme gibt. Es liegt in unser aller Verantwortung, die lokale Demokratie für den Aufbau eines wahrhaftig demokratischen Systems zu sichern.”