„Die Guerilla hat die Menschheit von dem Fluch des IS befreit“

Im zweiten Teil seines Interviews beschäftigt sich das PKK-Exekutivratsmitglied Murat Karayılan mit der jüngeren Geschichte der Guerilla, dem Kampf um Mexmûr, Rojava und Şengal. Er beschreibt die Schritte hin zum Durchbruch zur modernen Guerilla.

Im zweiten Teil des Interviews mit dem PKK-Exekutivratsmitglied und Kommandanten des Volksverteidigungszentrums (NPG), Murat Karayılan, geht der Vertreter der kurdischen Freiheitsbewegung auf die Entwicklungen der letzten Jahre und den Kampf der Guerilla gegen den „Islamischen Staat“ (IS) ein.

Karayılan wies darauf hin, dass die Guerilla eine sehr wichtige Rolle bei der Zerschlagung des IS gespielt habe: „Das ist eine historische Realität. Dies ist ein großer Dienst, den die PKK aus einer internationalistischen Perspektive heraus an der gesamten Menschheit geleistet hat.“

Was denken Sie über die Bedeutung der Erfahrungen und der Ergebnisse des Kampfes der Guerilla gegen den IS in Rojava, Şengal, Mexmûr und Kerkûk?

Der IS ist eine Struktur, die sich auf den Salafismus stützt. Er verzerrte den Islam, betrachtete diesen aus einem völlig anderen Standpunkt und schuf so eine neue fundamentalistische Linie. Aus dieser Sicht wird jeder, der nicht zu ihm gehört, als Apostat oder Ungläubiger betrachtet. Durch eine Fatwa, die besagte, dass es eine gute Tat sei, gegen die als Ungläubige bezeichneten Kräfte zu kämpfen, hat der IS den Menschen weisgemacht, dass diejenigen, die in diesem Krieg sterben, direkt ins Paradies gelangen. Da jeder IS-Kämpfer glaubt, dass er nach dem Tod ins Paradies kommt, wurde diese Struktur in hohem Maße gegenüber der Angst vor dem Tod immunisiert. Darüber hinaus verfolgte der IS auch einen militärischen Ansatz; seine Truppen wurden sehr gut ausgebildet und in verschiedenen Bereichen geschult und spezialisiert. Ein Teil des Kommandos setzt sich aus Leuten zusammen, die in Afghanistan gekämpft und dort Erfahrungen gesammelt haben, während ein weiterer großer Teil davon nach 2003 Erfahrungen im Irakkrieg sammelte. Die Tatsache, dass der IS keine Angst vor dem Tod hat und über Fachwissen und Kriegserfahrung verfügte, hat ihn zu einer effektiven militärischen Kraft gemacht.

Gleichzeitig vermittelte diese Organisation ein Schreckensbild, indem sie sich mit den Enthauptungen von Menschen selbst präsentierte. Sie nutzte die virtuellen Medien in dieser Hinsicht sehr effektiv und schuf das Bild einer terroristischen Organisation, die unaufhaltsam sei und alles erobern könne. Zunächst nahm sie einige von oppositionellen islamischen Organisationen kontrollierte Gebiete in Syrien ein. Damit hat sie sich selbst gestärkt. Sie schuf ein Bild, als ob keine Armee und keine Macht gegen sie bestehen könnte. Der IS drang mit 800 Personen in Mosul ein. Die Stadt wurde von mehr als 30.000 bewaffneten Streitkräften geschützt und vom IS binnen 24 Stunden eingenommen. Das war der IS. Gegen diese Struktur konnten Söldner oder diejenigen, die nicht ernsthaft überzeugt und entschlossen waren und keine militärische Leistung zeigten, nicht bestehen oder kämpfen. Aus diesem Grund war der IS zunächst überall, wo er hinkam, erfolgreich. Nur eine entschlossene Kraft mit ideologischem Tiefgang und militärischer Ausbildung konnte sich gegen eine solche Struktur behaupten. Daher konnte nur die Freiheitsguerilla Kurdistans, die auf der Grundlage der Ideologie und Philosophie von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] ausgebildet wurde und Opferbereitschaft sowie ein großes Maß an Kriegserfahrung und Kompetenz hat, den IS aufhalten. Tatsächlich kam es auch so.

Die Intervention in Şengal hat den IS gestoppt

Als der IS Şengal angriff, rannten sowohl die irakische Armee als auch die Peschmerga-Truppen aus Şengal um ihr Leben, während die Guerilla so schnell wie möglich dorthin zu gelangen versuchte und eine Vorhut bereits Widerstand leistete. Mit dieser aufopferungsvollen und umsichtigen Intervention konnte der IS in Şengal gestoppt werden. In der ersten Phase ging es um die Verteidigung unseres Volkes, das im Gebirge Schutz suchte. Das war der erste echte Schritt gegen den IS und das erste Mal, dass er gestoppt wurde. Aus diesem Grund landete eine US-amerikanische Delegation mit vier Hubschraubern in Şengal; ich vermute, sie wollten die Kraft kennenlernen, die den IS aufgehalten hatte. Der Kommandeur der Delegation fragte den Genossen und damaligen Kommandanten Egîd Civyan, der sie begrüßte: „Wer sind Sie?“ Genosse Egîd erklärte, wer sie und Rêber Apo seien, und sagte, sie seien kurdische Kämpfer. Daraufhin fragte der Mann: „Seid ihr die indirekte PKK oder die direkte PKK?“ Der Freund antwortete: „Wir sind die direkte PKK.“ So erfuhren sie, dass diese Intervention von der PKK durchgeführt wurde. Sie blieben drei bis vier Stunden dort und machten eine Inspektion, dann flogen sie wieder weg und kehrten nicht mehr zurück, auch boten sie keine Unterstützung an. Dies war unsere erste Begegnung mit den US-Streitkräften.

Die Guerilla spielte die Rolle eines Katalysators

Das Gleiche geschah in Mexmûr. Zwischen Mexmûr und Mosul liegen etwa 22 Gemeinden und Städte. Alle haben sich ergeben, ohne eine einzige Kugel gegen den IS abzufeuern. Die erste Kugel gegen den IS wurde vom Flüchtlingslager Mexmûr abgefeuert. Dort wurde der Vormarsch des IS gestoppt.

So war es auch in Kerkûk. Hier müssen wir die Rolle der Guerilla als die eines Katalysators beschreiben. Die kurdische Freiheitsguerilla war Treibmittel in der Organisierung des Widerstands gegen den IS. So wollte der IS zum Beispiel unbedingt Kerkûk einnehmen, weil die Stadt sowohl politische Besonderheiten als auch Ölvorkommen hatte. Zu diesem Zweck führte der IS umfangreiche Angriffe durch. Jedes Mal, wenn es zu einem solchen Angriff kam, mussten sich die Peschmerga-Kräfte, obwohl sie Tausende waren, angesichts dieser furchterregenden Angriffe zurückziehen, aber die Guerilla, die nur mit wenigen Einheiten dort war, zog sich nicht zurück, sondern kämpfte weiter und leistete Widerstand. Als die Befehlshaber und Kämpfer der Peschmerga zurückblickten und sahen, dass die Guerilla sich nicht zurückzog und weiter kämpfte, dachten sie: „Man kann also Widerstand leisten und den IS stoppen.“ Nach ein paar Stunden fassten sie Mut und kehrten zurück, um in Kampfposition zu gehen.

Nirgendwo hat sich die Guerilla gegenüber dem IS zurückgezogen. Zweifellos gibt es in Kriegen manchmal eine Rückzugstaktik, aber die Guerilla hat eine solche Taktik nicht gegen den IS angewandt. Genauso in Mexmûr. Angesichts der Angriffe des IS zogen sich die Peschmerga aus der Stadt Mexmûr immer weiter in Richtung Hewlêr [Erbil] zurück. Als sie jedoch nach ein bis zwei Tagen erfuhren, dass die PKK-Guerilla das Lager in Mexmûr verteidigte, die Höhenzüge von Qereçox hielt und an vorderster Front kämpfte, formierten sie sich neu und kamen zurück. Dies wiederholte sich mehrmals in Mexmûr. Die Guerilla war also ein Katalysator für die Entwicklung des Krieges gegen den IS. Sie machte Mut und sammelte den Widerstand hinter sich.

Die Guerilla intervenierte auch in Kobanê

Auch während des IS-Angriffs auf Kobanê, in den Tagen, als es hieß, Kobanê würde fallen, stand Kobanê in der Tat kurz vor dem Fall. Aber zu dieser Zeit gab es den Mobilisierungsaufruf von Rêber Apo. Die Guerillakräfte verstanden dies als eine Anweisung an sie selbst. Es war klar, dass Kobanê fallen würde, wenn es keine umfassende Intervention in der Stadt gäbe. Ich glaube, in einer Sitzung am 1. Oktober wurde gesagt: „Wird Kobanê fallen oder nicht; wenn nicht, dann kann es nicht mit der Verstärkung von ein paar kleinen Einheiten geschehen, der Fall der Stadt kann nur durch das Eingreifen von einer Guerillagruppe von zunächst 400 Kämpferinnen und Kämpfern verhindert werden.“ Genau das wurde beschlossen, um den Fall von Kobanê zu verhindern. Dazu wurde eine umfassende Intervention vorbereitet. Da bekannt war, dass der Angriff des IS nicht mit normalen Kräften zu stoppen sein würde, wurden Guerilla-Einheiten aus Gebieten wie Botan, Amed, Garzan und Erzîrom, also den Regionen, in denen sich die erfahrensten Kämpferinnen und Kämpfer befanden, direkt nach Kobanê entsandt. Auf dieser Grundlage entwickelte sich ein langer Prozess des Widerstands und der Fall von Kobanê wurde verhindert. Ohne eine solche umfassende Intervention wäre Kobanê zweifellos gefallen. Die Stadt stand ja bereits kurz vor dem Fall. Die YPG und YPJ leisteten Widerstand, aber es war nicht so einfach, angesichts ihrer geringen Zahl und des umfassenden Angriffs des IS mit Panzern an drei Fronten erfolgreich zu sein. Es war klar, dass die Erfahrung und die Schlagkraft der YPG/YPJ zu diesem Zeitpunkt dafür nicht ausreichten. Es wurden große Opfer gebracht, aber es gab auch ein großes Ungleichgewicht. Durch die Guerilla-Intervention wurde der Widerstand dort verstärkt und die vom IS besetzten Orte durch Gegenangriffe Schritt für Schritt zurückerobert.

Der ideologische Wille der PKK hat den Sieg errungen

Der IS zog sich niemals zurück. Im Verständnis des IS vom Krieg gab es keinen Rückzug. Bei uns gibt es diese Taktik, aber wir haben uns bewusst nicht gegenüber dem IS zurückgezogen, weil es notwendig war, den Menschen, den Peschmerga und den Kräften, die gegen den IS kämpfen, Mut zu geben. Aber beim IS gibt es das nicht. Der vielleicht grundlegendste Fehler in der Kriegsführung des IS besteht darin, dass er nicht weiß, wie man einen taktischen Rückzug vornimmt. Deshalb war es notwendig, ihn aus jedem Haus zu vertreiben, indem man ihn tötete oder ihn zur Flucht zwang. Er wäre nicht von sich aus gegangen.

Damals wurde in den Medien klar gesagt: „Die Häuserkämpfe um Kobanê werden weitergehen, Kobanê wird zu einem Stalingrad werden und Kobanê wird nicht fallen.“ Und weiter hieß es: „Der Widerstand von Kobanê wird siegen, und dieser Sieg wird der Anfang der Niederlage des IS sein. Er wird das Ende des IS sein.“ Wie alle wissen, geschah es dann auch so. Tatsächlich prallten in Kobanê die Ideologie, mit der der IS seine Kräfte ausgestattet hatte, und die Ideologie der PKK aufeinander. Und der ideologische Wille der PKK hat gesiegt.

Die Rolle der Guerilla bei der Einleitung des Endes des IS

Kurz gesagt, diese Intervention der Freiheitsguerilla Kurdistans gegen den IS hat die Menschheit vor einer großen Geißel bewahrt. Es stimmt, dass verschiedene Kräfte gegen IS gekämpft haben, wir waren nicht die Einzigen. Aber wie wir bereits erwähnt haben, hat unser Kampf alle ermutigt, und wir haben eine Vorreiterrolle gespielt. Das war entscheidend dafür, die Niederlage des IS einzuleiten. Das ist eine historische Realität. Er war ein großer Dienst, den die PKK aus einer internationalistischen Perspektive der gesamten Menschheit erwiesen hat.

Gleichzeitig hat dies zu großen Erfolgen für die Menschheit geführt. Auch für das kurdische Volk und unsere Bewegung hat es zu wichtigen Erfolgen und Ergebnissen geführt. Aber das war nicht einfach. Wir haben viele unserer wertvollen Kommanandantinnen und Kommandanten, Kämpferinnen und Kämpfer in dieser Operation verloren. Wir haben Hunderte von Gefallenen in diesem Kampf, insbesondere in Kobanê und Şengal. Aber wie wir bereits erwähnt haben, gab es auch wichtige Fortschritte für die Menschheit, für unser Volk und für unsere Bewegung. Natürlich haben unsere Kräfte hier auch viele Erfahrungen gesammelt. Unsere Kräfte haben ihre Kampffähigkeit in verschiedenen Bereichen erprobt. Zweifellos haben sich die taktischen Fähigkeiten der Guerilla verbessert.

Die Freundinnen und Freunde, die sich in die Stadt und in zivile Wohngebiete begeben haben und dort eine Zeit lang geblieben sind, haben sich jedoch auch einige Gewohnheiten angeeignet, die durch dieses Umfeld entstanden sind. Solche Gewohnheiten, Schwächen in der Disziplin und Unzulänglichkeiten, die wir als Beliebigkeiten bezeichnen können, wurden bei den Kräften beobachtet, die sich anschließend wieder in die Berge, das Hauptkampfgebiet, zurückzogen. Dennoch ist es eine Tatsache, dass wichtige Erfahrungen in Bezug auf die Steigerung der Vielseitigkeit unserer Kräfte und ihrer taktischen Manövrierfähigkeit gesammelt wurden.

Die Guerilla Kurdistans ist eine Kraft der Selbstverteidigung

Welche Bedeutung hat die Selbstverteidigung der Gesellschaft im Kampf der PKK?

In der Geschichte war es so, dass Gesellschaften, die keine Selbstverteidigung hatten, ihre Existenz nicht bewahren konnten und entweder untergingen oder in Sklaverei gerieten. Selbstverteidigung ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Existenz einer Gesellschaft oder einer kulturellen Struktur. Im Laufe der Geschichte hat sich das kurdische Volk zu seiner Selbstverteidigung meist auf Stammesverbände gestützt. In fast allen Regionen Kurdistans wurde die territoriale und gesellschaftliche Existenz durch organisierte bewaffnete Strukturen von Stämmen oder aus mehreren Stämmen bestehenden Konföderationen geschützt. Heute gibt es diese Stammesform so nicht mehr. Daher besteht heute ein Bedarf an Selbstverteidigung mit moderneren Methoden.

Die Freiheitsguerilla Kurdistans ist im Wesentlichen eine Selbstverteidigungskraft, aber sie ist eine übergeordnete und offizielle Verteidigungskraft. Daher ist sie nicht überall in der Gesellschaft präsent; sie hat nicht die Möglichkeit, überall hinzukommen. Aus diesem Grund muss die Gesellschaft an jedem Ort, in jedem Dorf, in jedem Viertel, in jeder Stadt eine andere Selbstverteidigungsstruktur haben. Es bedarf einer Struktur, die im Wesentlichen zivil ist, die aber ihre Verteidigungsaufgaben auf halbzivile, halbmilitärische Weise wahrnehmen kann, wenn die Umstände es erfordern. Das ist notwendig.

Zum Schutz der Gesellschaft ist Selbstverteidigung notwendig

Wir haben die Selbstverteidigung als „Strategie der Strategie“ bezeichnet, weil die Organisierung der Selbstverteidigung einen sehr wichtigen Platz im Überleben unseres Volkes in Kurdistan einnimmt. Vor allem angesichts der Hochtechnologie, die sich in unserer Zeit entwickelt hat, der Entwicklung von Lenkraketen, der massiven Entwicklung von Luftstreitkräften, ist die Rolle der unsichtbaren Armeen weltweit immer bedeutender geworden. Die Rolle der Verteidigungskräfte in Form einer zivilen Verteidigung, die keinen festen Sitz hat und sich in der Gesellschaft befindet, ist gewachsen. Und warum? Weil die offiziellen Verteidigungskräfte immer mit den genannten Techniken angegriffen werden können. Daher kommt einer Verteidigungsstruktur, die sich in der Gemeinschaft befindet, deren Aufenthaltsort unbekannt ist und bei der jedes Mitglied normalerweise zu Hause und bei der Arbeit ist, heute eine besondere Bedeutung zu. Es handelt sich also um eine Struktur, die sich ganz natürlich als Selbstverteidigungsreflex der Gesellschaft herausbildet und sich in das soziale Leben integriert. Es geht nicht um etwas speziell Organisiertes, sondern um eine Struktur, die sich auf natürliche Weise für den Fortbestand der Existenz bildet. Deshalb haben wir gesagt, dass dies die Strategie der Strategie ist.

In dieser Hinsicht sollten unser Volk, insbesondere die jungen Frauen und jungen Männer, daran denken, dass sie eine Rolle bei der Selbstverteidigung spielen können, auch wenn sie am Arbeitsplatz sind, und alle sollten in dieser Hinsicht ihre Verantwortung wahrnehmen. Nehmen wir an, es gibt Angriffe auf ein Viertel, es gibt Angriffe auf die Gesellschaft, Drogen werden verbreitet, es gibt Agenten des Spezialkriegs, Prostitution wird gefördert oder es werden Agenten angeworben. Um sich zu schützen, braucht es eine gesellschaftliche Selbstverteidigung, die aber nicht unbedingt die Form eines offiziellen „XY ist für die Selbstverteidigung zuständig und verantwortlich“ annehmen muss. Die Menschen des Viertels oder des Dorfes müssen in der Lage sein, sich auf natürliche Weise zu organisieren und zivile Methoden zur Selbstverteidigung anzuwenden. Es geht hier um Selbstverteidigung gegen Personen oder Aktivitäten, die das Zusammenleben im Viertel stören, die gegen die Moral und Kultur der Nachbarschaft verstoßen. Unser Volk muss das unbedingt umsetzen.

Muss Selbstverteidigung immer bewaffnet erfolgen?

Wie der Name schon sagt, handelt es sich um eine zivile Verteidigung. Manchmal, wenn es nötig ist, kann sie halb militärisch und halb zivil sein, aber die meiste Zeit darf sie überhaupt nicht militärisch sein. Man muss auf Strukturen zurückgreifen, die sich als natürliche Organisation entwickeln, die die lokalen Werte schützen, die einen Kampf auf der Grundlage gemeinsamer Interessen entwickeln, die sich mit ihrer sozialen Macht gegen jegliche Angriffe auf das Dorf oder die Nachbarschaft stellen und die zu einer Kraft werden, indem sie sich auf diese Weise organisieren. Wenn die Lücke, die durch das Fehlen des Stammes geschaffen wurde, nicht mit einer modernen solidarischen Organisierung dieser Art gefüllt wird, wird die Spezialkriegstaktik in diese Lücken stoßen und Ergebnisse erzielen können. Die Spezialkriegsführung zersetzt die Gesellschaft, korrumpiert und zerstört die Moral, die Kultur und die Werte der Gesellschaft; so hört die Gesellschaft auf, eine Gesellschaft zu sein, hört auf, eine Kraft zu sein. In der Tat ist das Ziel aller kolonialistisch-genozidalen Praktiken heute, das kurdische Volk überall als Volk, Wille und Kraft auszulöschen. Alle Angriffe sind darauf ausgerichtet. Dagegen muss sich die Gesellschaft wehren. Junge Menschen und insbesondere Frauen sind am stärksten von diesem Spezialkrieg betroffen. Täglich werden diese Gruppen auf verschiedene Weise angegriffen. Daher sollten die Jugend und die Frauen als Avantgarde der Gesellschaft sich am meisten dafür verantwortlich fühlen, sich dagegen zu organisieren. Frauen und Jugendliche können sich und die Gesellschaft verteidigen, indem sie sich solidarisch zusammenschließen. Diese Selbstverteidigung hat verschiedene Stufen: Wie wir bereits erwähnt haben, die zivile Selbstverteidigungsaktivität; ihre oberste Stufe ist der Übergang zur halbmilitärischen Form. Die am weitesten fortgeschrittene Ebene ist die Fähigkeit der Gesellschaft, sich als Guerilla gegen Angriffe auf die Gesellschaft zu verteidigen. Dies kann nur mit den Mitteln erreicht werden, die wir erwähnt haben, d.h. durch Organisierung.

Welche Erfahrungen konnte die Guerilla Kurdistans aus vorherigen Ansätzen nutzen? Welche historischen Veränderungen brachte die Entwicklung zur Guerilla der demokratischen Moderne mit sich?

Auf der Grundlage langjähriger Erfahrungen in der chinesischen revolutionären Praxis theoretisierte der große Revolutionsführer Mao Zedong die Strategie des langandauernden Volkskriegs und des Guerillakriegs. Auf der Basis dieser grundlegenden Strategie lösten der spätere Nordvietnamkrieg, die großen Erfolge, die an vielen Orten wie Kuba usw. erzielt wurden, und schließlich der Sieg der Guerilla in Südvietnam in den 1970er Jahren über die Supermacht USA weltweit und insbesondere bei den linkssozialistisch-revolutionären Kräften eine große Begeisterung aus. Diese Begeisterung zeigte sich in der Revolution in Kurdistan wie in der Türkei. Die Guerillabewegung, die sich in Kurdistan entwickelte, wurde durch den Guerillastil der chinesischen und vietnamesischen Revolutionen inspiriert.

Aber so wie Rêber Apo die Wissenschaft der Revolution brillant auf Kurdistan angewandt hat, so hat er mit der gleichen Kreativität auch eine Form entwickelt, die Strategie des langandauernden Volkskriegs und des Guerillakriegs auf die Bedingungen Kurdistans anzuwenden. Anstatt die Erfahrungen anderer Länder als Schablone zu nehmen und sie so zu übernehmen, wie sie waren, wurde anhand der Analysen von Rêber Apo eine für Kurdistan spezifische Form der an die Bedingungen angepassten Interpretation des Kampfes angewandt. Denn die Bedingungen in den Ländern sind unterschiedlich. Das Land, das den Verhältnissen in Kurdistan am ähnlichsten war, ist Vietnam. In Vietnam konnten patriotische Menschen, die keine Beziehung zur vietnamesischen Arbeiterpartei, der führenden Kraft der Revolution, hatten, Kommandanten in der Guerilla werden und sogar in den Rang eines Generals aufsteigen. Wir dachten, dass es so auch in Kurdistan möglich war, und obwohl wir viele Versuche unternommen haben, konnten wir damit in keiner Weise erfolgreich sein. Es wurde nach langen Versuchen in der Praxis festgestellt, dass eine Person, die keine apoistische Kultur hat, unter den gesellschaftlichen Bedingungen Kurdistans kein Kommandant sein kann. Mit anderen Worten, die Quelle des Vertrauens ist die Parteizugehörigkeit. In der kurdischen Gesellschaft entwickelte sich kein starker Wille, der allein auf Patriotismus beruhte. Die Sozialpsychologie in Kurdistan ist anders.

Trotz aller Unterschiede orientierte sich die Freiheitsguerilla Kurdistans von 1984 bis 2000 hauptsächlich am chinesischen und vietnamesischen Modell. Obwohl Rêber Apo Tausende von Kadern persönlich ausgebildete und die ideologische Ausbildung der Guerilla an die Bedingungen Kurdistans anpasste, um eine zähere und willensstärkere Guerilla aufzubauen, gab es dennoch viele Ähnlichkeiten. Durch seine intensiven Bemühungen, den ideologisch-politischen Charakter der Guerilla Kurdistans auf dieser Grundlage zu stärken, konnte zwar ein gewisses Niveau erreicht werden, jedoch konnte die Guerilla bis in die 2000er Jahre den Zustand einer klassischen Volksarmee nicht überwinden. Rêber Apo hat sich in seiner Zeit in Rom öffentlich kritisch zu diesem Thema geäußert. Es gab auch in unseren Reihen Fraktionalismen, die die Parteilinie immer wieder verwischten, ihre Entwicklung blockierten und ihre Umsetzung sogar zurückzuwerfen. Das waren Auffassungen, die sich in Form von Provinzialismus, Fraktionalismus usw. niederschlugen.

Auch gab es Unzulänglichkeiten in Bezug auf die Taktik und der militärischen Linie. Rêber Apo betonte und kritisierte dies immer wieder und setzte sich für eine entsprechende Anpassung ein. Wenn die Guerilla zu diesem Zeitpunkt ein gewisses Niveau erreicht hatte, war es das Ergebnis dieser Bemühungen, aber es gab eben auch Unzulänglichkeiten. Die Tatsache, dass es in dieser Zeit zu Wiederholungen kam und dass diese Wiederholungen in gewisser Weise die Grundlage für die Entwicklung des internationalen Komplotts bildeten, war auch auf diese Unzulänglichkeiten zurückzuführen.

Auf der anderen Seite gab es eine gewisse ideologische Entschlossenheit und Mut bei unseren Kräften. Letztlich war das Festhalten an der apoistischen Linie am stärksten. Der Angriffsgeist und die Opferbereitschaft waren sehr ausgeprägt. Die Linie Zîlans hatte eine deutliche Stärke erreicht. Das zeigte sich schon während des Komplotts. Hunderte von Kämpferinnen und Kämpfern schlugen sich für Selbstopfer vor und wie bekannt ist, wurden daraufhin die Spezialeinheiten Hezên Taybet aufgebaut. Neben den ganzen Unzulänglichkeiten gab es also auch eine starke apoistische opferbereite Haltung. Dennoch fehlte es an militärischem Fachwissen. Unsere Streitkräfte verfügten zwar über Manövrierfähigkeit und Geländeerfahrung, aber die Beherrschung der Technik, die militärische Professionalisierung und die Spezialisierung auf Waffengattungen waren noch nicht entwickelt. In dieser Hinsicht glich die Struktur einer klassischen Guerillaarmee. Zusammengefasst zeigte sich zwar ein gewisses Niveau der Kriegsführung, aber statt eines Durchbruchs nach vorne fanden auch immer wieder Wiederholungen statt. So lässt sich die Situation in dieser Zeit kurz erklären.