Die türkisch-dschihadistische Besatzung Efrîns stellt eine Zäsur in der Geschichte des kurdischen Befreiungskampfes dar. Als Mitarbeiter von Civaka Azad hat Ali Çiçek einen Überblick über die Geschehnisse seit Anfang des Jahres verfasst, der insbesondere die Rolle der Bundesregierung und die Aktivitäten der Solidaritätsbewegung umfasst sowie einen Ausblick auf die kommende Zeit wirft.
Aufgrund seiner Bedeutung dokumentieren wir den Text in voller Länge:
Anfang dieses Jahres wurde mit dem völkerrechtswidrigen Angriff auf Afrin und dem Widerstand der kurdischen Selbstverteidigungseinheiten ein neues Kapitel in der 40-jährigen Geschichte der kurdischen Freiheitsbewegung aufgeschlagen. Dasselbe gilt für die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland und der deutschen Wirtschaft an den Verbrechen in Kurdistan, aber auch der Zusammenarbeit der kurdischen Bewegung mit linken Bewegungen bzw. gesellschaftlichen Strukturen in Europa, und vor allem Deutschland.
Die intensive Afrin-Phase wurde bereits aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Sei es die solidarische Kritik an der Linken in Deutschland aus kurdischer Sicht; der Appell an feministische Bewegungen zur Solidarität mit Afrin, da der Angriff als Angriff auf die Frauenrevolution zu bewerten ist; die Analyse der politische Situation der Revolution in Kurdistan nach Afrin; der Versuch während der Aktionsphase Antworten auf die Frage zu finden, was wir in Deutschland für Afrin machen können4 oder auch der etwas ältere, aber immer noch aktuelle Beitrag über den Wandel von klassischer Kurdistan-Solidarität hin zum positiven Bezugspunkt auf die Ideen des Demokratischen Konföderalismus5.
Mit dem folgenden Beitrag möchten wir nach vorne schauen und die vermeintliche Ruhe des Sommers dazu nutzen, einige wichtigen Aspekte der kurdischen Agenda für 2018/2019 darzulegen und gemeinsame Handlungsmöglichkeiten aufzeigen.
Die Isolation durchbrechen – Abdullah Öcalan befreien
Wer die kurdische Bewegung und die Genese der kurdischen Frage in den letzten Jahrzehnten verstehen will, kommt an den Schriften des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan nicht vorbei. Seine Ideen sind es, die auf verschiedenen Konferenzen in Hamburg diskutiert und aktuell in Rojava in die Praxis umgesetzt werden. Für Millionen von Menschen und Aktivisten sind diese Inspiration und real erfahrbar. Öcalan selbst wird dank seiner Bücher zunehmend anders gesehen. Nach fast 20 Jahren im Gefängnis ist er nicht mehr ein Guerilla-Anführer, sondern ein schreibender Politiker und Denker, dessen überragende Bedeutung für eine friedliche Lösung auf allen Seiten des Konflikts anerkannt ist. Es ist daher wichtig, Öcalan und seine Situation in der Isolationshaft auf der Insel İmralı in Erinnerung zu rufen. Er ist derjenige, der die Theorie und Praxis der Bewegung maßgeblich gestaltet und darum Teil der Lösung des Kurdistan-Konflikts sein wird. Die Kampagne für seine Freilassung steht nach wie vor auf der Tagesordnung und wird ein Schritt Richtung Frieden und Demokratie in der gesamten Region sein. Erst vor kurzem hat die „Internationale Initiative Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan“ eine überarbeitete Übersetzung des vor 15 Jahren erschienenen Standardwerks Öcalans „Gilgameschs Erben“ vorgelegt.
In diesem Sinne wird im Fokus des 1. Septembers als Weltfriedenstag für die kurdische Community und ihre Freunde vor allem Abdullah Öcalan im Fokus stehen. Unterdessen dauert die Mahnwache in Straßburg vor dem CPT (Europäische Komitee zur Verhütung von Folter – Committee for the Prevention of Torture) weiter an. Wöchentlich wechseln sich kurdische Aktivisten mit der Wache ab, die nun seit 1000 Tagen andauert. Das Vorbereitungskomitee in Straßburg ruft für den Oktober nun auch Internationalisten dazu auf, für vier Tage, vom 22. bis zum 26. Oktober, die Wache zu übernehmen. Interessenten können sich hierfür bei uns melden.
Das internationale Komplott wird sich im kommenden Jahr nun zum 20. Mal jähren. Erinnern wir uns: Seit Öcalans Verschleppung aus Kenia 1999, eigentlich schon seit seiner Ausreise aus Syrien im Oktober 1998, gab es Proteste, die sich gegen das Internationale Komplott gegen Öcalan richteten. Um die Isolation zu brechen, wird es deshalb wie auch schon im vergangenen Jahr einen langen Marsch der Internationalisten von Luxemburg nach Strasbourg geben, zu dem alljährlich das „Komitee für die Freiheit Öcalans und aller politischer Gefangenen“ aufruft. Er endet mit einer europaweiten Großkundgebung am 16. Februar 2018 in Straßburg.
Weitere Überlegungen zur »Free Öcalan«-Kampagne mit praktischen Vorschlägen für lokale Initiativen findet ihr hier.
Repression und Widerstand
Seit Beginn dieses Jahres kommt es bundesweit zu kontinuierlichen Repressionsschlägen gegen progressive Strukturen. Vor allem kurdische Vereine und Einrichtungen der deutschen Linken, die sich mit der kurdischen Bewegung solidarisch zeigen, sind Opfer dieser Repression. Der Rechtshilfefonds Azadi bewertet die seit Jahresbeginn deutlich verstärkte Repression gegen kurdische und deutsche Einrichtungen und Personen als „direkte Folge von Abmachungen, die zwischen dem damaligen Bundesaußenminister Sigmar Gabriel und seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu bei mehreren Treffen im Januar getroffen wurden. Zusätzlich zu den Waffenlieferungen an die Türkei macht sich die deutsche Bundesregierung auch durch die Bekämpfung jeglicher Solidarität mit Afrin und Rojava zur Kriegspartei an der Seite der Türkei.“
Somit werden auch die kommenden Monate von Repression und dem Widerstand dagegen geprägt sein. Während ein breites gesellschaftliches Spektrum eine Großdemonstration für den 13. Oktober plant, jährt sich auch das PKK-Verbot in Deutschland zum 25. Mal. Civaka Azad ordnete zuletzt in einem Dossier das Verbot in die deutsch-türkischen Beziehungen ein und verwies auf die weitreichenden Folgen dieser Politik in der Bundesrepublik und dem Mittleren Osten. Azadi plant in diesem Kontext eine Fachkonferenz mit dem Titel „25 Jahre PKK-Verbot – 25 Jahre Repression und Demokratieabbau im Dienste der deutschen Außenpolitik“ am 20. Oktober 2018 in Berlin. Und auch am 1. Dezember wird mit einer Großdemonstration ein Zeichen gegen das PKK-Verbot gesetzt werden.
Brücken schlagen
Neben diesen politischen Aktionen und Demonstrationen wird es in diesem Jahr auch mit dem Internationalen Kurdischen Kulturfestival die Chance geben, mit zehntausenden Menschen ein Zeichen gegen eine erneute Eskalation des Krieges in Kurdistan und im Mittleren Osten zu setzten, sowie durch zahlreiche Info-Stände und einem breiten kulturellen Programm die Vielfalt der Revolution in Kurdistan kennenzulernen.
Weltweit sind deutsche Waffen am Morden beteiligt. Deutschland liegt bei den Rüstungsexporten weltweit auf Platz 4 und in der EU-weit an zweiter Stelle. In den letzten 10 Jahren konnte Rheinmetall ohne großen Aufschrei zu einem der größten Munitionslieferanten der Welt aufsteigen. In der Vergangenheit hat es bereits eine Reihe von Aktivitäten gegen Rheinmetall gegeben, z.B. Camps und Aktionen an dem von Rheinmetall betriebenen Gefechtsübungszentrum (GÜZ) in der Colbitz-Letzlinger Heide und an Rheinmetall Fabriken. Daran möchte nun ein breites Bündnis aus zivilgesellschaftlichen Gruppen unter dem Motto „Rheinmetall entwaffnen – Krieg beginnt hier“ in diesem Jahr vom 29. August bis 4. September mit einer Demonstration, einem Friedenscamp und vielfältigen Aktionen am Produktionsstandort von Rheinmetall in Unterlüß anknüpfen. Mehr Informationen findet ihr hier.
Die Revolution in Rojava ist vor allem ein Frühling der Frauen. Das Gesellschaftsparadigma bringt auf der ganzen Welt Frauen zusammen. Einen Schritt zur Vernetzung mit dieser wird die Internationale Kurdische Frauenkonferenz am 6./7. Oktober in Frankfurt darstellen. Wie schaffen wir es gemeinsam, das 21. Jahrhundert zum Jahrhundert der Frauenbefreiung zu machen? Wie verteidigen wir uns gegen den zunehmenden Sexismus und Faschismus, gegen die Ausbeutung unserer Lebensgrundlagen? Wie schreiten wir fragend und entschlossen, kreativ und bewusst, stark und schnell gemeinsam voran? Und auch am 24./25. November wird es anlässlich des Internationalen Tages zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen wieder in vielen Städten gemeinsame Demonstrationen und Aktionen gegen die systematische Gewalt an Frauen geben.
Brücken werden nicht nur durch größere Konferenzen geschlagen, sondern auch durch lokale Initiativen, wie die Städtepartnerschaft Friedrichshain-Kreuzberg–Dêrik in Nordsyrien oder die Städtefreundschaft Frankfurt-Kobane e. V.. Initiativen wie diese gibt es in diversen Städten. Lasst uns dieses Jahr noch mehr schaffen!
Mit der Organisierung der Jineolojî in Europa ist eine große Brücke von den befreiten Gebieten Kurdistans zu den widerständigen Kräften im Herzen des patriarchalen Systems geschlagen worden. Nach einer Periode des Sich-Bekannt-Machens ist nun die Zeit gekommen, sich inhaltlich spezifischer mit der Geschichte des Patriarchats in Europa auseinanderzusetzen. Wer sich tiefgreifender mit der Jineoloji und der Frauenbefreiung auseinandersetzen möchte, kann sich beim Kurdischen Frauenbüro für Frieden – Cenî (unter ceni_frauen(at)gmx.de) melden.
In die Herzen ein Feuer – erinnern heißt kämpfen
Auch in diesem Jahr werden wir das Gedenken an die Menschen, die ihr Leben als Internationalisten in Rojava und Kurdistan ließen, hochhalten. Im vergangenen Jahr wurde für diese ein Gedenkfest mit dem Motto “In die Herzen ein Feuer – erinnern heißt kämpfen” begangen. In Hannover gab es im Juli bereits eine Gedenkdemonstration für den kurdischen Jugendlichen Halim Dener, der vor 24 Jahren als 16-Jähriger beim Plakatieren durch Polizeischüsse in den Rücken getötet wurde. Auch jährt sich in diesem Jahr die Ermordung der deutschen Internationalistin Andrea Wolf zum 20. Mal. In München wird dafür eine Demonstration am 27. Oktober organisiert. Und auch in Städten wie Frankfurt, Hamburg und Berlin werden zu ihrem Gedenken Veranstaltungen und Aktivitäten vorbereitet. Am 1. November wird der Welt-Kobanê-Tag am 1. November, als Anfang vom Ende des IS, auch im Jahr 2018 angesichts der Befreiungsoperationen der kurdischen Selbstverteidigungseinheiten in Afrin, eine besondere Bedeutung tragen.
Am 9. Januar 2013 wurden Sakine Cansız (Sara), Fidan Doğan (Rojbîn) und Leyla Şaylemez (Ronahî) in den Räumen des Kurdischen Informationsbüros in Paris ermordet. Diese politisch motivierten Morde sind bis heute nicht aufgeklärt. Das in Düsseldorf ansässige Kurdische Frauenbüro für Frieden – Cenî ruft aus diesem Anlass zur Teilnahme an einer Demonstration gegen „Sechs Jahre ohne Gerechtigkeit“ am 12. Januar 2019 um 11 Uhr am Gare du Nord in Paris auf.
Die Revolution in Rojava und Kurdistan immer wieder von neuem erzählen
Wir hoffen, mit diesem Artikel einige Anregungen für die Zusammenarbeit mit der Freiheitsbewegung Kurdistans beigetragen zu haben. Zuletzt möchten wir auf das den neuen deutschsprachigen Dienst der Nachrichtenagentur ANF aufmerksam machen, die täglich über die Entwicklungen in Kurdistan, aber auch in Deutschland berichtet. Dabei sei auch auf den Kurdistan Report, den Mesopotamien-Verlag und vor allem die neue Homepage Komun Academy hingewiesen. Das englischsprachige Projekt Komun-Academy zielt darauf ab, die Lösungsansätze aus Perspektive der kurdischen Freiheitsbewegung für Problematiken der kapitalistischen Moderne, vom Patriarchat über den Rassismus, Armut und Krieg, vorzustellen.
Auch die kurdische Frauenbewegung schafft eine Alternative zum verzerrten Bild der Frau in den Medien, indem sie einen autonomen Fernsehsender aufbaut! Frauenperspektiven und feministische Themen von überall sollen einen ganz besonderen Platz im Programm einnehmen. JinTV freut sich über alle, die Beiträge beisteuern wollen.
Die Revolution in Rojava lebt an jedem Ort der Welt, an dem von diesem Krieg, von diesem Widerstand erzählt wird. Genauso dringlich wie die Selbstverteidigung Rojavas angesichts imperialistischer Aggression ist, so dringend nötig ist es, Bewusstsein darüber zu schaffen, wofür Rojava kämpft und welche Bedeutung diese Revolution trägt. So wie die Menschen in Rojava mit kleinteiliger, täglich harter Arbeit einen Raum frei von Unterdrückung schaffen, sind solidarische Kreise dazu aufgerufen, die Revolution in Rojava immer wieder von neuem zu erzählen. Diese Solidarität nimmt in vielen kleinen Projekten Gestalt an, genau wie das Konzept der Demokratischen Autonomie. Viele Gruppen und Kollektive haben begonnen, sich mit ihren Ideen und Projekten am Aufbau des Frauendorfes Jinwar zu beteiligen. In diesem Kontext ist auch das Projekt Avahi zu erwähnen, eine Gruppe von Personen, die sich zusammengefunden hat, um Bauprojekte in der Demokratischen Föderation Nordsyrien/Rojava zu finanzieren, planen und kollektiv umzusetzen. So schrieb der Journalist Metin Yegin bereits im Jahr 2014, dass die Angriffe auf Kobanê breit in den Medien diskutiert wurden, eine inhaltliche Diskussion über die Idee Rojavas aber nur oberflächlich stattfinde. Dasselbe gilt nun auch nach den Angriffen auf Afrin. Sein lesenswerter Appell hat deshalb nichts an Aktualität verloren.
Die Bedeutung der Revolution in Nordsyrien lässt sich auch im Kontext der Bewegung „Seebrücke“, die sich aus Geflüchteten-, Antira- und Menschenrechtsgruppen zusammensetzt, herausarbeiten. So schreibt TATORT Kurdistan Berlin in einem Beitrag zur aktuellen Debatte zum Thema der Geflüchteten:
„Nehmen wir das Beispiel Kurdistan: natürlich ist es unsere Pflicht, Menschen, die vor den Kriegen und der staatlichen Unterdrückung dort flüchten mussten, ein menschenwürdiges und gleichberechtigtes Leben hier zu ermöglichen, ihre Familien nachziehen zu lassen, ihnen alle gebrauchte Unterstützung zukommen zu lassen. Und auch zur Organisierung des Widerstands in Kurdistan ist es wichtig, internationale Rückzugsräume ohne Kriegszustand und massive Repression zu haben (auch wenn der deutsche Staat gerade wieder verschärft alles tut, um diesen Rückzugs- und Organisationsraum zu sabotieren).
Gleichzeitig findet vor Ort in Rojava, dem syrischen Teil Kurdistans, eine Revolution unter schwierigsten Bedingungen statt. Diese Revolution ist ein Projekt, in dem Frauen und deren Ermächtigung im Zentrum stehen, in dem die diversen kulturellen Gruppen der Region friedlich zusammen leben und ihre Belange selbst verwalten, während was alle angeht von allen verwaltet wird. Ein Modell, in dem Basisdemokratie aufgebaut wird und versucht wird, die Wirtschaft zu demokratisieren und zu sozialisieren. Und das alles ohne den alten Anspruch, ein weiterer, aber diesmal eben viel, viel besserer Nationalstaat zu sein. Dass dieses Projekt nicht ohne Widersprüche, Schwierigkeiten und auch Fehler abläuft, versteht sich von selbst – es findet im realen Leben und in einer Kriegssituation statt, nicht in einem Seminar. Doch es ist der Versuch, eine konkrete Alternative zum schlechten Bestehenden aufzubauen und eine im Wortsinne demokratische Alternative zum modernen Nationalstaat zu schaffen.
Solche Versuche müssen von den Menschen hier als Teil des eigenen Lebens begriffen werden, denn es sind deutsche Panzer, deutsches Geld und die politische Unterstützung der deutschen Regierung, die den Krieg des türkischen Staates gegen dieses hoffnungsvolle Projekt einer radikalen sozialen Transformation ermöglichen. Das Handlungsfeld zur Bekämpfung von Fluchtursachen ist für Aktivisten in Deutschland im Fall Kurdistans also groß.“