Wo bleiben feministische Stimmen für Efrîn?
Eine Kritik und ein Appell
Eine Kritik und ein Appell
Noch vor einigen Jahren sah die ganze Welt den Widerstand von Kobanê, der der Welt vor allem durch die zahlreichen Fotos mutiger YPJ-Kämpferinnen bekannt wurde. Frauen wie Arîn Mîrkan wurden zum Symbol des Kampfes gegen Unterdrückung, Patriarchat und die kapitalistische Weltordnung. Frauen wurden das Gesicht der Rojava-Revolution, und die Worte Jin, Jiyan, Azadî zum ewigen Echo des Sieges von Kobanê.
Derzeit sind die Augen vieler von uns auf die erneuten Angriffe des türkischen Staates auf die Kurd*innen, die kurdische Freiheitsbewegung und die Selbstverwaltung der Gemeinschaften in Nordsyrien/Rojava gerichtet. Seit über einem Monat greifen die türkische Armee und mit ihr verbündete FSA-Gruppen Kämpfer*innen, Zivilist*innen, Familien, Frauen, Kinder, heilige und archäologische Stätten und Friedhöfe in Efrîn an. Was der türkische Staat dort zu vernichten versucht ist ein System, das mit seinen Werten, Strukturen, Ideen und Projekten all das repräsentiert, was die sogenannte „Republik" Türkei nie war: basisdemokratisch, anti-kapitalistisch, anti-patriarchal.
Alle Räte, Kooperativen, Akademien und anderen Einrichtungen der demokratischen Föderation Nordsyrien werden in der Vorreiterrolle von Frauen organisiert. Jede Position hat eine Doppelspitze und keine Entscheidung darf getroffen werden, wenn nicht mindestens 40 Prozent Frauen daran beteiligt sind. Die Frauen Rojavas führen jeden Tag und in jedem Bereich des Lebens Kämpfe, um die lange verlorene Freiheit über ihre Gedanken, Gefühle und ihren Körper zurückzuerlangen, den tief verwurzelten gesellschaftlichen Sexismus abzubauen und patriarchales Gedankengut durch eine gesellschaftliche Wissenschaft zu ersetzen, welche die Geschichte von Frauenwiderständen und Freiheitskämpfen im Laufe der Menschheit ans Licht bringt und in ihre heutige Praxis einbettet.
Ein Angriff auf Frauen
Insofern ist der momentane Angriff auf Efrîn vor allem als eines zu bewerten: ein Angriff auf Frauen, ein Angriff auf die Freiheit von Frauen, ein Angriff auf die Selbstverwaltung und Selbstverteidigung von Frauen. Aber wo bleiben internationale feministische Solidarität und Unterstützung? Warum erheben so wenige Feminist*innen und feministische Bewegungen ihre Stimme, sowohl damals für Kobanê als auch heute für Efrîn? Selbst als die ganze Welt die Augen vor einigen Jahren auf den mutigen Widerstand der YPJ richtete, hat das viele selbsternannte Feminist*innen nicht interessiert. Dabei ist Rojava zweifellos ein Modell, in dem Begriffe wie Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie nicht nur leere Hüllen und Versprechen sind, sondern reale Forderungen und Handlungen, die reale Früchte tragen. Es sind nicht einfach nur formelle Rechte, wie sie auch in jeder beliebigen Verfassung stehen könnten, sondern faktische Bemühungen, um 5000 Jahre alte patriarchale Strukturen und Mentalitäten zu brechen und zu überwinden. Durch Kritik und Selbstkritik, regelmäßige Versammlungen in Räten, die Errichtung von Frauenhäusern und -akademien und durch den Aufbau von autonomen Frauenverteidigungsstrukturen wurde ein permanenter revolutionärer Prozess in Gang gesetzt, der mit der Gesellschaft unmittelbar verbunden ist und durch den Probleme an der Wurzel angegangen werden.
Feminismus in der eigenen Blase
An dieser Stelle lässt sich die Frage, warum viele Feminist*innen dazu schweigen, vielleicht einfacher beantworten. Momentan kann nämlich in Bezug auf Feminismus, zumindest in Deutschland, eine Art Krise beobachtet werden, die darin besteht, dass viele feministische Bewegungen sich immer mehr in ihrer eigenen Blase zu bewegen scheinen und sich vom gesellschaftlichen Leben allmählich entfernen. Und wer sich nur in der eigenen Blase bewegt, verpasst die greifbaren Revolutionen da draußen und versteht nicht, dass Feminismus internationalistisch, im Leben verwurzelt und mit der Gesellschaft verschmolzen sein muss. Stattdessen scheint oft der Irrtum zu herrschen, dass durch erkämpfte Rechte wie das Frauenwahlrecht, das Scheidungsrecht oder andere Formen formeller Gleichberechtigung, die Freiheit von Frauen schon fast „erreicht" sei. Es wird so getan, als bestünde der „restliche" Kampf nur noch darin, gleichen Lohn für Frauen zu fordern, sich ab und zu über Diskriminierungen am Arbeitsplatz zu empören oder sich darüber zu wundern, warum die einflussreichen Positionen in Firmen oder irgendwelchen Gremien überwiegend männlich besetzt sind.
Das System ist das Problem
Diese Probleme sollen nicht kleingeredet werden, aber sie lenken von der Tatsache ab, dass das System selbst das Problem ist und Frauen nicht wirklich frei werden können in einem System, das sowieso mit der Freiheit im Widerspruch steht. Nicht umsonst betonen die kurdische und andere revolutionäre Bewegungen auf der Welt immer wieder, dass Kämpfe gegen Kapitalismus, Nationalismus, Sexismus und Patriarchat eng miteinander verbunden sein müssen, da diese Machtstrukturen einander immer wieder stützen und aufrechterhalten.
Und da diese Tatsache, die sich sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart immer wieder bestätigen lässt, nicht ausreichend verinnerlicht wird, kommt es dazu, dass immer mehr Feminist*innen ihre Arbeit darauf beschränken, dass Frauen möglichst ins herrschende System integriert werden, anstatt das System als Ganzes zu hinterfragen und zu bekämpfen. So geht es für sie etwa nicht mehr darum, dass zum Beispiel die Vermarktung durch weibliche Körper und das übertriebene Konsumverhalten der Gesellschaft im Kapitalismus kritisch hinterfragt werden, sondern dass es in den Werbungen von großen Modeketten oder Kosmetikprodukten doch bitte mehr „Vielfalt" geben solle. Unternehmen wie H&M vereinnahmen solche Forderungen sehr schnell und starten Werbekampagnen, die Frauen angeblich dazu ermutigen sollen, „ihren Körper zu lieben". Die Kehrseite dessen ist, dass für die Herstellung dieser Produkte andere Frauen auf der Welt ausgebeutet werden.
Elitär und realitätsfern statt internationalistisch und revolutionär
Das ist nur ein Beispiel von vielen, um zu verdeutlichen, dass die Befreiung von Frauen nicht bedeutet, dass sie in Institutionen des Staates repräsentiert sind oder in irgendwelchen Werbungen „vielfältiger" dargestellt werden. Das kapitalistische System interessiert sich nicht für Feminismus. Viel eher versucht es zu verschleiern, dass überhaupt ein Problem existiert, und diese Verschleierung von Problemen scheint auf viele Feminist*innen abzufärben. Eine solche Herangehensweise verhindert eine lebendige, internationalistisch-revolutionäre feministische Praxis. Das Problem trifft aber auch auf vermeintlich linke Kreise zu. Während auf vielen Teilen der Welt, zum Beispiel in Afghanistan, Kurdistan, Indien oder Argentinien, stark organisierte Bewegungen für ihre Existenz und Freiheit kämpfen und für internationale Aktionen und Solidarität aufrufen, sitzen viele linke Feminist*innen hier in Europa noch in ihren alternativen Kulturcafés, trinken zapatistischen Kaffee und zerbrechen sich den Kopf darüber, warum ihr Umfeld noch nie was von akademischen Begriffen wie „intersektional" oder „Queer-Theorie" gehört hat. Das ist das Problem: Die feministische Arbeit ist teilweise extrem elitär und realitätsfern geworden und hat immer weniger mit Revolution zutun.
Das Potential unserer Wut nutzen
Damit soll nicht behauptet werden, die genannten Themen seien unwichtig. Aber die Art und Weise der Auseinandersetzung und der fehlende Bezug zur Realität und zur Gesellschaft halten davon ab, das Potenzial unserer Wut zu nutzen und wirklich revolutionäre Ideen und Aktionen hervorzubringen. Dazu gehört, gesellschaftliche Dynamiken und Prozesse zu beobachten, zu intervenieren und offen für neue Ideen zu sein, anstatt sich dogmatisch an Begriffen und Theorien aufzuhängen. Dazu gehört, mit der Gemeinschaft zu verschmelzen und eine Praxis zu entwickeln, die im Leben verwurzelt ist. Dazu gehört Intervention und Aktion, radikal und über Grenzen hinaus.
So müssen in Zeiten wie diesen viel breitere feministische Bündnisse entstehen. Efrîn ist ein Symbol des Widerstandes von Frauen wie Arîn Mîrkan, Avesta Xabur oder Rêvan Rojava, die für die Befreiung der Frau und der Gesellschaft ihr Leben geopfert haben. Wenn Efrîn heute unter Beschuss steht, so müssen wir den in den letzten Wochen weit verbreiteten Hashtag #WomenRiseUp4Afrin wirklich mit Sinn und Inhalt füllen, also uns, unsere Stimmen und unsere Fäuste erheben, um den Widerstand in Efrîn zu unterstützen und vom „Frühling der Frauen" in Rojava lernen. Wenn Hunderte, Tausende Frauen heute nach Efrîn aufbrechen, um sich dem Widerstand anzuschließen, ist für uns nicht die Zeit um rumzusitzen und zuzusehen.
Aktionsbündnisse aufbauen und Ketten sprengen
Also lasst uns als feministische, anarchistische, sozialistische, antirassistische, ökologische und queere Bewegungen in Deutschland und weltweit verschmelzen und in den kommenden Wochen, Monaten, Jahren mit der Willenskraft und dem Geist des bevorstehenden 8. März an vorderster Front auf den Straßen protestieren, in den lokalen Gemeinschaften Aktionsbündnisse aufbauen und dem Patriarchat eine Absage erteilen. Lasst uns der Bevölkerung Efrîns zeigen, dass sie in ihrem Widerstand nicht alleine sind und dass wir uns jenen Herrschaftssystemen und Staaten, die an diesem Krieg beteiligt sind, nicht unterwerfen werden! Lasst uns die Ketten sprengen, die uns daran hindern, unseren Horizont zu erweitern, und endlich einen Glauben an fühlbare, lebendige Freiheit zuzulassen.