Belgien: Keine Gerechtigkeit für zweijährige Mawda

Vor einem Jahr wurde das zweijährige kurdische Mädchen Mawda von der belgischen Polizei bei der Jagd auf Flüchtlinge erschossen. Ihr Tod droht ungesühnt zu bleiben.

Mawda steht ebenso wie Alan Kurdi und viele andere Kinder, die an den Grenzen der Festung Europa verstorben sind, für die skrupellose Abschottungspolitik. Nach langer Flucht stieg sie vor einem Jahr in der Nacht vom 16.-17. Mai in der französischen Hafenstadt Dunkerque mit ihrer Familie auf einen Lastwagen, der sich durch Belgien auf den Weg nach England machte. Bis die Polizei auftauchte, bestand keinerlei Gefahr. Doch 15 Polizeifahrzeuge hatten den Lieferwagen, der ihnen verdächtig erschien, rund 80 Kilometer über die Autobahn verfolgt, vom zentral gelegenen Namur bis in die Nähe von Mons im Westen des Landes. Dabei feuerten die Polizisten zwei Schüsse auf das Fahrzeug ab, um es zum Halten zu bringen. An der Folge eines dieser Schüsse starb Mawda. Sie saß mit ihrer Familie direkt hinter dem Fahrer und wurde von der Kugel am Kopf getroffen.

Erst abgestritten, dann eingeräumt, aber Verurteilung erfolgte nicht

ANF hat mit Selma Benkhelifa, der Anwältin der Familie von Mawda gesprochen. Die Juristin berichtet von Manipulation sofort nach dem Tod des Mädchens: „Zunächst behaupteten die Behörden, das Mädchen sei gar nicht durch eine Kugel getötet worden. Sie behandelten den Fall so, als wäre es ein gewöhnlicher Autounfall gewesen und sprachen von einem Hirntrauma. Als bei der Autopsie klar wurde, dass Mawda erschossen worden war, behaupteten die Behörden, es habe einen Kampf gegeben. Aber niemand außer der Polizei hatte Waffen. Normalerweise hätten die Polizisten, das Feuer eröffnen dürfen, schließlich befanden sie sich nicht in einer Notsituation. Dann räumte die Behörde ein, dass ein Polizist ohne persönlich Bedrohung das Feuer eröffnet habe. Es hieß, der Wagen sei im Zickzack gefahren, aber das stellt noch lange keinen Grund dar, das Feuer zu eröffnen“, so Benkhelifa. Obwohl ein Jahr vergangenen ist, gibt es immer noch keine offizielle Anklage gegen den Polizisten, der Marwa erschoss. Die Anwältin sagt: „Der Täter ist bekannt. Er hat es zugegeben.“

Flüchtlinge werden terrorisiert

Die Anwältin hinterfragt, welche Form der Polizeiausbildung hinter diesem Angriff steckt und weist auf den Namen der Operation hin, bei der Mawda getötet wurde. Die Operation trug den Namen „Medusa“ – einem Wesen aus der griechischen Mythologie, dessen Anblick die Menschen so erschreckte, dass sie zu Stein erstarrten. Die Anwältin sagt dazu: „Sie haben den Namen Medusa gewählt, denn die Idee dahinter ist es, Flüchtlinge zu terrorisieren. Es gibt eine politische Verantwortung für eine Operation, bei der Flüchtlinge terrorisiert und ein kleines Mädchen getötet wurden. Was steht hinter dem Polizisten, der ohne jeden Grund das Feuer eröffnet hat? Was wird diesen Polizisten gesagt, wie werden sie ausgebildet? Ich weiß es nicht. Aber folgendes steht fest, die Menschen in dem Laster waren Opfer. Es waren Menschen, die versucht haben zu fliehen, keine Straftäter. Selbst wenn es sich um einen fliehenden Straftäter gehandelt hätte, wäre ein Schusswaffeneinsatz nicht gerechtfertigt gewesen.“

Politik der Straflosigkeit

Zur Aussicht eines Verfahrens sagt die Anwältin: „In solchen Verfahren ein Urteil zu fällen ist sehr schwer. Es herrscht Straflosigkeit. Wenn es sich um irgendeine andere Person  gehandelt hätte und nicht um einen Polizisten, der geschossen und ein Kind getötet hat, wäre er ohne Zweifel verurteilt worden.“ Selma Benkhelifa beschreibt eine Systematik hinter den Fällen: „Die Behörden denken, sie seien im Recht. Sie denken, die Operation Medusa sei gut und sie wäre notwendig, um die Flüchtlinge zu stoppen. Die Politik rutscht massiv nach rechts.“

Auch die Medien schlossen sich diesem Diskurs an. Die Anwältin beschreibt: „Die Medien spielten ihre Rolle in der Vertuschung der Wahrheit. Eine Zeit lang behauptete die Polizei, die Familie des kleinen Mädchens hätte die Tochter als Schutzschild benutzt. Alle Medien verbreiteten dies.“ Insofern sollten sich die Medien als Kontrollinstitution selbst hinterfragen.

In der belgischen Politik wurden aus dem Tod von Mawda ebenfalls keine Konsequenzen gezogen: „Es wurde keine Begrenzungen für den Schusswaffeneinsatz durch die Polizei eingeführt. Die politisch Verantwortlichen haben die Tat nicht verurteilt. Die Polizei erklärte, dass die Untersuchung des Komitees der Polizei ergeben habe, es hätte sich um einen Unfall gehandelt. Aber ein Unfall ist ein zweitrangiges, weniger bedeutsames Ereignis. Der Tod des kleinen Mädchens ist nicht Pech sondern ein Drama. Die Worte haben eine Bedeutung.“

Gegendruck ist notwendig

Der Tod Marwas mache eine Straflosigkeit für Polizisten, eine Schwäche des Rechts und eine politische Verantwortung deutlich. Auf die Frage, wo denn dann Gerechtigkeit gesucht werden könne, antwortet Benkhelifa: „Es gibt politischen Druck auf die Justiz.“ Daher sei „Gegendruck“ notwendig.