Kurdische Community im Visier der belgischen Staatsanwaltschaft

Gleich mehrfach hat die belgische Justiz klargemacht, dass die PKK nicht als terroristische Organisation einzustufen ist. Dennoch bleiben die Kurd*innen in Belgien im Visier der Generalstaatsanwaltschaft.

Seit dem Jahr 2010 sind ständige Ermittlungen gegen kurdische Aktivist*innen in Belgien zum Normalfall geworden. Mal ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft gegen bekannte kurdische Politiker*innen, ein anderes Mal sind es Personen, die an Demonstrationen teilnehmen. Auch wenn die belgische Justiz in den vergangenen drei Jahren gleich fünfmal klargemacht hat, dass sie die PKK nicht als terroristische Organisation wertet, ändert dies bislang nichts an den ständigen Ermittlungsverfahren der Generalstaatsanwaltschaft.

Laut der Rechtsanwältin Selma Benkhelifa ist dieses schier unermüdliche Vorgehen der belgischen Staatsanwaltschaft auf zwei Zusammenkünfte zwischen Vertreter*innen der US-Botschaft, der belgischen Generalstaatsanwaltschaft und Verantwortichen des türkischen Staates im Juni des Jahres 2009 zurückzuführen. Nach dieser Zusammenkunft habe die Generalstaatsanwaltschaft begonnen, gegen kurdische Einrichtungen und Aktivist*innen im Land vorzugehen. Die ersten Razzien ereigneten sich daraufhin im März 2010 gegen kurdische Politiker*innen und die Räumlichkeiten des kurdischen Senders Roj TV.

 

 

Aus den Unterlagen von WikiLeaks geht hervor, dass insgesamt zwei Treffen zwischen der belgischen Generalstaatsanwaltschaft mit Vertreter*innen der USA und der Türkei stattgefunden haben. Die Dokumente machen klar, dass die belgische Generalstaatsanwaltschaft zunächst zwar auf die von der Türkei vorgelegten „Beweise“ gegen kurdische Vertreter*innen in Belgien zögerlich reagierte. Doch auf besonderes Drängen der Vertreter der US-Botschaft ließ sich die Generalstaatsanwaltschaft auf die Forderungen aus Ankara ein. Benkhelifa macht gegenüber unserer Nachrichtenagentur deutlich, dass die belgische Staatsanwaltschaft seitdem die gesamte kurdische Community praktisch unter Generalverdacht stellt. Sie beantwortet unsere Fragen zu diesem Thema:

Seit wann und mit welchen Methoden ermittelt die belgische Generalstaatsanwaltschaft gegen die kurdische Community?

Wir können die Ermittlungsverfahren dieser Art bis auf das Jahr 2010 zurückverfolgen. In den Anklageschriften der Staatsanwaltschaft konnten wir sogar Sätze wie, „Ein großer Teil der kurdischen Bevölkerung unterstützt die PKK, obwohl bekannt ist, dass diese eine Terrororganisation ist, die einen bewaffneten Kampf führt.“ Aus Sätzen wie diesem wird deutlich, dass eine ganze Bevölkerungsgruppe unter Generalverdacht gestellt wird. Daraus erklärt sich dann auch, dass beispielsweise unzählige Menschen aus dieser Community durch die Sicherheitsbehörden abgehört werden etc.

Ist das legal?

Es ist eine äußerst problematische Herangehensweise der Staatsanwaltschaft. Im Normalfall hat man im Strafrecht einen Rechtsverstoß und ermittelt anschließend gegen die mutmaßlichen Verantwortlichen.

Und wie ist es bei unserem Thema?

Hier werden zunächst „potentielle Täter“ zu solchen erklärt und anschließend sucht die Staatsanwaltschaft nach möglichen Verstößen, die der jeweiligen Person angelastet werden können. Wir haben es also mit einer Umkehr des rechtlich legalen Wegs zu tun. Im Rahmen der Ermittlungen ist es nämlich dann das erklärte Ziel der Staatsanwaltschaft, auf jeden Fall einen Strafbestand gegen die jeweilige Person zu finden.

Verstehe ich das richtig? Erst wird beschuldigt und dann die Schuld gesucht?

Genau so ist es. Unzählige Kurdinnen und Kurden wurden auf diese Grundlage durch die Ermittlungsbehörden verhört. Die Fragen sind dann sehr politisch. Die Menschen werden mit Fragen konfrontiert, die etwa wie folgt lauten: Was halten Sie von der PKK? Was denken sie von Öcalan? Wissen Sie, dass die PKK von der EU als Terrororganisation angesehen wird? Unterstützen Sie die Organisation dennoch? Kennen Sie diese oder jene Person? Spenden Sie an die PKK?‘

Bei den Antworten zu der Spendenfrage beispielsweise versucht die Staatsanwaltschaft zwanghaft herauszuinterpretieren, dass die PKK unter Zwang spenden sammelt. Da reicht es zum Beispiel aus, wenn jemand aussagt, dass es unter der kurdischen Community nicht gern gesehen ist, wenn Menschen nicht spenden. Daraus zu interpretieren, die PKK würde unter Zwang Geld einsammeln, ist natürlich äußerst kreativ.

Wie kann die Generalstaatsanwaltschaft an dieser Praxis festhalten, wenn die Justiz Belgiens klarmacht, dass sie die PKK nicht als terroristische Organisation wertet?

Sie akzeptiert diese Urteile der Justiz nicht und geht dagegen vor den Berufungsgerichten vor.

Aber die Urteile basieren doch auf soliden Grundlagen…

Definitiv, aber wir sehen auch, dass die Generalstaatsanwaltschaft das so nicht akzeptiert. Sie ist wütend, weil sie vor Gericht eine Schlappe hinnehmen musste. Nun will sie, dass die nächste Instanz in ihrem Sinne entscheidet.

Wie viele Verfahren sind derzeit anhängig?

Ich kenne drei Verfahren in Lüttich (Liege) und zwei weitere in Bergen (Mons). Vielleicht gibt es noch weitere Verfahren, von denen ich nichts weiß.

Haben all diese Verfahren nach dem Jahr 2010 begonnen?

Ja, in den Jahren 2011, 2012 und 2013.

Können Sie uns eine Zahl zu dem Personenkreis nennen, gegen den ermittelt wird?

Wir haben keine konkrete Zahl zur Hand. Doch aus den Akten wird ersichtlich, dass praktisch alle kurdischen Familien im Visier sind. Jeder steht unter Generalverdacht und das ist ein großes Problem.

Was meinen Sie mit Problem?

Du stellst eine Migrantencommunity unter Generalverdacht. Das ist ethnische Diskriminierung. Und dass dies mitten in Europa geschieht, ist von besonderer Tragweite.

Ist dieses Vorgehen der Generalstaatsanwaltschaft Teil einer Einschüchterungsstrategie?

Ja, definitiv.

Aber weswegen verfolgt die Generalstaatsanwaltschaft eine solche Strategie?

Wir hatten anfangs auch große Schwierigkeiten, das nachzuvollziehen. Dann sind wir aber auf die WikiLeaks-Dokumente gestoßen. Eines der geleakten Dokumente trug den Titel „BELGIUM: PKK UPDATE“ und war datiert auf den Juni 2009. Aus dem Dokument ging hervor, dass es in der US-Botschaft in Belgien zu einem Treffen kam, an dem die Generalstaatsanwaltschaft und türkische Verantwortliche teilnahmen. Die türkischen Verantwortlichen waren wohl äußerst wütend auf die belgischen Sicherheitsbehörden, denn sie behaupteten, dass sie aus Belgien keinerlei Unterstützung für den Kampf gegen die PKK erhalten würden. Die Türkei wollte eindeutig, dass gegen kurdische Politiker, die in Belgien leben, vorgegangen wird.

Und haben die belgischen Verantwortlichen sich darauf direkt eingelassen?

Nein, anfangs nicht. Sie haben zunächst gezögert. Doch bei einem weiteren Treffen in derselben Zeit kommt es dann doch zu einer Grundeinigung. Danach nehmen die Ermittlungen gegen die Kurd*innen ihren Lauf. Wir verstehen daraus, dass die belgischen Behörden nicht wirklich überzeugt vom türkischen Anliegen waren, sie aber dem Druck der USA nachgegeben haben. Nun versuchen sie, die Türkei mit ihrem Vorgehen zufriedenzustellen. Das halte ich, um ehrlich zu sein, für einen Skandal.

Haben Sie die Generalsstaatsanwaltschaft mit den Wikileaks-Dokumenten konfrontiert?

Ja, und es gab eine äußerst wütende Reaktion. Wir würden eine Straftat begehen, wenn wir die Dokumente verwenden.

War das eine Drohung?

Ja, eine ganz unverhohlene Drohung. Wir sehen ja, wie mit Julian Assange nun aufgrund der WikiLeaks-Dokumente umgegangen wird. Viele sind sehr wütend. Aber keiner von ihnen, auch nicht die Generalsstaatsanwaltschaft von Belgien, hat sich bislang hingestellt und gesagt, dass die Inhalte der Dokumente erdichtet und erlogen sind. Stattdessen bedrohen sie nun nicht nur diejenigen, die die Dokumente veröffentlicht haben, sondern auch alle, die sich auf die Dokumente beziehen.

Doch stellt die Verwendung der Dokumente tatsächlich eine Straftat dar?

Man könnte sagen, dass die Verwendung eines persönlichen Dokuments ohne die Einwilligung des Urhebers eine Straftat darstellt. Doch es handelt sich eigentlich um kein persönliches Dokument, sondern um ein politisches Papier. Ich glaube deshalb, dass der Rückgriff auf die Dokumente von der Ausdrucksfreiheit geschützt ist. Wir haben das Recht zu erfahren, was hinter den politischen Kulissen passiert. Andernfalls könnten meine Mandant*innen doch noch nicht einmal verstehen, weswegen gegen sie ermittelt wird.

Und stellen die stattgefundenen Treffen in der US-Botschaft keinen größeren Rechtsbruch als die Verwendung von WikiLeaks-Dokumenten dar?

Das könnte man so sehen. Immerhin wird mit diesem Treffen Druck auf die Justiz ausgeübt.

Und die Generalstaatsanwaltschaft hat sich darauf eingelassen. Darf sie das eigentlich?

Sie begründet die Treffen mit der „internationalen Zusammenarbeit gegen den Terrorismus“. Doch aus den Akten wird keinerlei Ermittlung gegen irgendwelche terroristischen Aktivitäten ersichtlich. Das ist ein offener Widerspruch. Wir wissen ehrlich gesagt auch nicht, was sie sucht.

Und was kann man gegen dieses Vorgehen der Staatsanwaltschaft tun?

Das frage ich mich leider auch. Gewissermaßen sind uns da die Hände gebunden. Natürlich verteidigen wir unsere Mandant*innen vor Gericht. Wir können allerdings nicht unterbinden, dass es zu diesen langen und mühseligen Gerichtsverhandlungen kommt. Das ist natürlich sehr ermüdend für die Betroffenen. Und auf diese Weise sollen die Menschen letztlich dazu gebracht werden, ihr politisches Engagement ruhen zu lassen.

Wenn nun das Berufungsgericht das Urteil aus der vorangegangenen Instanz bestätigt, könnte es dann zu einem Ende der Ermittlungen dieser Art kommen?

Aus den Aussagen der Generalstaatsanwaltschaft ist das leider nicht zu erkennen. In Brüssel läuft derzeit ein Verfahren gegen bekannte kurdische Politiker*innen. Doch die Verfahren in Lüttich beispielsweise richten sich gegen einfache kurdische Aktivist*innen. Diese Verfahren könnten sich in Zukunft häufen, wenn die Staatsanwaltschaft an ihrem bisherigen Vorgehen festhält. Und dadurch wird letztlich eine Gesellschaftsgruppe als Ganzes kriminalisiert. Und zugleich müssen wir vor Augen führen, wie viel zeitliche, finanzielle und personelle Ressourcen die belgische Justiz derzeit für die Verfolgung der Kurd*innen aufbraucht. Wenn man bedenkt, dass die terroristische Gefahr für Belgien eigentlich von ganz anderen Kreisen ausgeht und dort diese Ressourcen nun fehlen, ist das Ganze schon sehr absurd.