Bayik: Die kurdische Frage wurde von Europa geschaffen

Europa hat die kurdische Frage geschaffen und an den türkischen Staat weitergegeben. Deshalb muss dieses Problem gemeinsam mit Europa gelöst werden, fordert Cemil Bayik (KCK).

Cemil Bayik, Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), hat sich in einer Sondersendung bei Stêrk TV zu aktuellen Themen geäußert. In dem Interview legte Bayik seine Ansichten zu dem internationalen Komplott gegen die kurdische Befreiungsbewegung, das mit der erzwungenen Ausreise von Abdullah Öcalan aus Syrien am 9. Oktober 1998 begann, der Guerillaaktion gegen eine Polizeistation in Mersin, den in Ostkurdistan und Iran nach dem Mord an Jina Mahsa Amini ausgebrochenen Aufständen, dem tödlichen Anschlag auf die Jineolojî-Forscherin Nagihan Akarsel in Silêmanî, dem Guerillakampf in Kurdistan und der Staatspolitik in Nordkurdistan und der Türkei dar. Wir veröffentlichen den ersten Teil des Interviews.

Vor 24 Jahren wurde von internationalen Mächten und regionalen Kollaborateuren ein Komplott gegen Abdullah Öcalan geschmiedet. Wie würden Sie das Ziel dieses Komplotts beschreiben?

Es ist bekannt, dass kurz nach Beginn des internationalen Komplotts Proteste unter dem Motto „Ihr könnt unsere Sonne nicht verdunkeln" von Halit Oral angeführt wurden. Das Ziel dieser Proteste war es, einen Kreis um Rêber Apo [Abdullah Öcalan] zu bilden und so das Komplott zu vereiteln. Diese Proteste hatten eine große Wirkung. Viele Menschen nahmen später an ihnen teil. Mit dem Gedenken an unseren Freund Halit Oral möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um all unserer Gefallenen zu gedenken, die sich gegen das Komplott gestellt und die Führung [Abdullah Öcalan] verteidigt haben. Alle diese Gefallenen sind in den Herzen des kurdischen Volkes noch lebendig. Dank dieser heldenhaften Gefallenen haben wir die heutige Etappe erreicht. Denn sie haben für uns Werte geschaffen und uns gezeigt, wie wir kämpfen müssen. Das internationale Komplott wurde gegen unsere Bewegung und unser Volk in Form des Angriffs auf Rêber Apo entwickelt, aber es war nicht nur darauf beschränkt.

Dieses Komplott richtete sich gegen alle Völker und die Menschheit. Es ist ein riesiges Komplott. Ich möchte noch einmal alle Kräfte verurteilen, die dieses Komplott durchgeführt haben. Alle, die dieses Komplott gefördert, ihm gedient, daran teilgenommen und es angeführt haben, sollten ehrlich zu sich selbst sein: Sie müssen sehen, was sie getan haben, welchen Zielen sie gedient haben. Sie sollten nicht länger auf dem Komplott beharren und lieber ihre Fehler eingestehen. In der Tat haben sie ein großes Verbrechen begangen, nicht nur einen einfachen Fehler. Sie müssen ihre Politik gegen die PKK und das kurdische Volk aufgeben. Rêber Apo hat sich immer für die Lösung der kurdischen Frage eingesetzt. Sie zu lösen bedeutet, die Probleme der Völker des Nahen Ostens zu lösen. Rêber Apo hat sein ganzes Leben diesem Ziel gewidmet. Dafür hat er gekämpft. Er hat immer versucht, dieses Problem durch einen Dialog zu lösen.

Europa hat die kurdische Frage geschaffen. Deshalb muss dieses Problem gemeinsam mit Europa gelöst werden. Europa hat das Poblem geschaffen und es an den türkischen Staat weitergegeben. Sie haben dem türkischen Staat aufgetragen, diese Politik zu betreiben, und genau das tut der Staat immer noch. Das Ziel von Rêber Apo war immer die Lösung der kurdischen Frage. Er will einen Wandel in der derzeitigen Mentalität und im Bewusstsein herbeiführen. Er will eine Revolution der Demokratie und der Freiheit entwickeln. Um dieses Ziel zu erreichen, hat er immer versucht, das Problem mit denjenigen zu lösen, die es verursacht haben. Das heißt, mit Europa. Doch jedes Mal, wenn Rêber Apo das Problem lösen wollte, war die Antwort Europas: „Ihr könnt dieses Problem nicht lösen. Wir werden dieses Problem auch nicht lösen. Das dient nicht unseren Interessen. Die Lösung der kurdischen Frage entspricht nicht unseren Interessen." Mit anderen Worten: Sie wollen einen ständigen Krieg zwischen Kurden und Türken. Denn auf dieser Grundlage haben sie ihr System im Nahen Osten entwickelt.

Als Rêber Apo nach Europa reiste und seinen Acht-Punkte-Plan zur Lösung dieses Problems vorstellte, hätten die dortigen Kräfte seine Bemühungen begrüßen müssen. Rêber Apo hat sein Leben für diese Sache aufs Spiel gesetzt. Er sagte: „Ich will dieses Problem lösen." Aber die Antwort der internationalen Mächte war das Komplott. Denn wenn die kurdische Frage gelöst würde, würde sich im Nahen Osten ein demokratisches System entwickeln und dies würde zu einer Veränderung in der ganzen Welt führen. Deshalb haben diejenigen, die dieses Problem geschaffen haben, es weiter verschärft. Rêber Apo hatte alle Bedingungen für eine Lösung des Problems erfüllt, aber sie antworteten mit einem Komplott und bauten das Imrali-System auf. Das internationale Komplott wurde von den USA, England und Israel angeführt, aber es war Europa, das es geplant und gefördert hat. Rêber Apo sagte später, als er gefangen genommen und nach Imrali gebracht wurde, war die erste Person, mit der er dort sprach, ein Vertreter des CPT (Europäisches Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe). Das CPT hat damals klar gesagt, dass es das Imrali-System ins Leben gerufen hat und dass es dieses System überwachen wird. Daher ist nicht nur die Türkei, sondern auch Europa für Imrali verantwortlich.

Rêber Apo hat gesagt, dass die Türkei nur der Wächter ist. So wie der türkische Staat heute den Barzanîs eine Aufgabe gibt, die sie dann erfüllen, haben die Komplott-Mächte diese Aufgabe dem türkischen Staat übertragen und der türkische Staat erfüllt seine Pflicht. Die AKP/MHP-Regierung täuscht das türkische Volk, wenn sie die Lüge verbreitet, nationalistisch und gegen die USA und Europa zu sein. Sie ist mit der Unterstützung dieser Kräfte an die Macht gekommen. Denn diejenigen, die das Komplott und das Imrali-System aufgebaut haben, wollten einen kurdischen Krieg. Dieses Ziel wollten sie mit Hilfe der AKP/MHP-Regierung erreichen. Deshalb brachten sie die AKP/MHP an die Macht.

Noch nie zuvor wurde ein so großes Komplott gegen eine Person, ein Volk oder eine Bewegung durchgeführt. Rêber Apo ist kein gewöhnlicher Führer. Er ist nicht wie andere Anführer. Je größer ein Führer und je größer eine Bewegung, desto größer ist das Komplott gegen ihn. Das ist der Grund, warum die internationalen Mächte an dem Komplott beteiligt sind. Denn sie haben gesehen, dass Rêber Apo die kurdische Frage lösen wollte. Die Lösung der kurdischen Frage bedeutete die Lösung der Probleme der für Freiheit und Demokratie kämpfenden Völker im Nahen Osten. Die an dem Komplott beteiligten Kräfte erkannten, dass dies eine große Gefahr für sie darstellte. Deshalb wollten sie, dass die kurdische Frage ungelöst bleibt und sich die Geschwisterlichkeit der Völker im Nahen Osten nicht entwickelt. Sie wollten, dass die von ihnen geschaffenen Widersprüche in Kurdistan, in der Türkei und im Nahen Osten fortbestehen.

Das war das Ziel des Komplotts. Deshalb wollten sie die Bewegung neutralisieren, die Rêber Apo für die Menschheit und für die Sache der menschlichen Werte aufgebaut hatte. Das Ziel war die vollständige Vernichtung von Rêber Apo. Erst physisch, dann politisch wollten sie Rêber Apo vernichten. Aus diesem Grund wird die Isolation von Tag zu Tag strenger. Deshalb schweigen das CPT, die USA und Europa. Ihr Ziel ist es, Rêber Apo zu vernichten. Sie denken, wenn sie ihn vernichten, werden sie auch die Bewegung zerschlagen. Denn Rêber Apo und die PKK verhindern den Völkermord am kurdischen Volk. Rêber Apo hat dem Komplott die Stirn geboten und es damit besiegt. Mit seinem Paradigma hat er der Menschheit eine große Waffe in die Hand gegeben, um auch das Komplott zu besiegen. Er hat allen eine klare Antwort auf die Frage gegeben, welche Art von Philosophie und Ideologie diejenigen brauchen, die sich der Sklaverei und der Macht widersetzen und für Freiheit und Demokratie kämpfen, um ihre Ziele zu erreichen. Heute haben diejenigen, die Rêber Apo verteidigen, erkannt, dass sich das Komplott nicht nur gegen Rêber Apo und die Kurdinnen und Kurden richtet, sondern gegen die gesamte Menschheit. Deshalb verteidigen sie Rêber Apo und die PKK.

Der Kampf gegen das Komplott wird jeden Tag stärker. Es ist wichtig, dass alle dies verstehen. Die Komplott-Mächte dürfen nicht auf ihrer Politik bestehen, sondern müssen sich selbst erlösen. Sie können keine Politik ohne das kurdische Volk und die PKK machen. Wenn sie Politik machen wollen, wenn sie mit dem kurdischen Volk befreundet sein wollen, dann müssen sie ihre Politik gegen die PKK und Rêber Apo aufgeben. Auch die PKK, das kurdische Volk und die internationalen Freundinnen und Freunde der Kurdinnen und Kurden haben Aufgaben zu erfüllen. Wir müssen verstehen, warum das Komplott begonnen wurde und wovon die daran beteiligten Kräfte seither profitiert haben. Wir müssen auch unsere Unzulänglichkeiten und Fehler in dieser Hinsicht verstehen und sie dann korrigieren. Unser Volk muss sehr genau wissen, dass das Komplott weitergeht, solange die kurdische Frage nicht gelöst ist. Unsere Bewegung hat die Kampagne „Dem dema azadiyê ye" [Die Zeit für Freiheit ist jetzt] gestartet. Wenn wir dem internationalen Komplott ein Ende setzen wollen, müssen wir diese Kampagne noch weiter verstärken. So können wir die physische Freiheit von Rêber Apo sicherstellen.

Das CPT reiste Ende September nach Imrali. Nach dem Besuch kündigte das Komitee an, dass es der Türkei in sechs Monaten einen Bericht vorlegen und ihr dann weitere sechs Monate Zeit für eine Antwort geben werde. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Unsere Leute müssen gut verstehen, warum das CPT kürzlich nach Imrali gereist ist. Es geschah, weil das CPT gesagt hatte, dass der türkische Staat bis Ende September einen Plan [bezüglich der Isolierung von Abdullah Öcalan] veröffentlichen muss. Nun ist der September vorbei, aber der türkische Staat hat immer noch keinen Plan vorgelegt. Als Reaktion darauf haben die internationalen Proteste für die Freiheit von Rêber Apo zugenommen. Die Menschen haben gefordert, dass Europa seine Gesetze einhält. Sie fordern, dass Rêber Apo aus dem Gefängnis entlassen wird und dass sie ihn sehen können. Dadurch wurde ein großer Druck aufgebaut. Obwohl die dem türkischen Staat gesetzte Frist abgelaufen ist, hat die Türkei ihren Plan nicht veröffentlicht und damit die europäischen Gesetze nicht erfüllt. Aus diesem Grund musste das CPT nach Imrali fahren. Wäre das nicht geschehen, wären die Verbrechen gegen Rêber Apo, das kurdische Volk und die Menschheit noch deutlicher geworden. Von dieser Last wollte sich Europa befreien. Weder die Türkei noch Europa halten sich an ihre eigenen Gesetze. Es gibt kein Recht und keine Gerechtigkeit, nur einen totalen Krieg.

Nicht nur die Türkei, sondern auch Europa ist schuldig an der Politik gegen Rêber Apo. Denn sie sind diejenigen, die das Imrali-System geschaffen haben. Unser Volk und unsere internationalen Freundinnen und Freunde müssen wissen, dass die bestehenden Gesetze nicht für Kurdinnen und Kurden angewendet werden. Die Gesetze existieren nur, um alles zu beseitigen, was den Namen Kurdistan oder kurdisch trägt. Europa betrachtet es als sein Recht, all dies zu tun. Das einzige, was Rêber Apo aus dem Gefängnis holen kann, ist unser Kampf. Alles, was die Kurdinnen und Kurden bisher gewonnen haben, haben sie erkämpft. Was immer sie von jetzt an gewinnen werden, werden sie auch durch die Fortsetzung dieses Kampfes gewinnen. Alle anderen Wege sind für die Kurdinnen und Kurden verschlossen, niemand sollte sich in dieser Hinsicht Illusionen machen.

Die Kurdinnen und Kurden sollten nicht sagen: „Es gibt Gesetze, Demokratie, Menschenrechte und sie gelten auch für uns." Diese Gesetze gelten nicht für die Kurden, sondern für die Herrschenden. Deshalb sind die Kurdinnen und Kurden nicht mehr verpflichtet, nach den Gesetzen dieser Mächte zu handeln. Sie sollten von diesen Mächten nichts erwarten. Wenn es Recht und Gerechtigkeit gäbe, würden diese Mächte dann so mit Rêber Apo umgehen? Das CPT sagt, es werde in sechs Monaten einen Bericht veröffentlichen und der Türkei dann weitere sechs Monate Zeit geben, darauf zu reagieren. Das Ganze wird also noch ein Jahr dauern. Sie versuchen einfach, sich über alle lustig zu machen. Das kurdische Volk sollte dies nicht akzeptieren. Das CPT muss die Ergebnisse seines jüngsten Besuchs auf Imrali unverzüglich veröffentlichen. Das sollten unser Volk, die Anwältinnen und Anwälte, Kunstschaffende und Intellektuelle fordern. Es muss Druck auf das CPT ausgeübt werden.