Wenn wir den Dreisatz „Jin, jiyan, azadî" (Frau, Leben, Freiheit) nicht richtig verstehen, kann es sein, dass wir auch vergessen, dass jede einzelne ermordete Frau ein Grund für eine Revolution ist. Der organisierte Kampf um unsere Existenz, unser Leben und unsere Freiheit ist die Aufgabe einer jeden Frau. Schon Nietzsche sagte, dass die, die am meisten über Moral reden, oft sehr unmoralisch leben würden. Diese Erkenntnis kommt mir in den Sinn, wenn ich die Praxis der iranischen „Sittenpolizei" betrachte. Wie können die, die Gewalt und den Tod von Frauen wie Jina Mahsa Amini legitimieren, über die Moral wachen? Sie sind es doch, die von Staats wegen einen Schleier tragen und dabei die größte Unmoralität leben.
Im Würgegriff eines Völkermords
In Kurdistan sind Frauen mit unterschiedlichen Vernichtungsstrategien konfrontiert. Über die Frauen soll ein Genozid an der Gesellschaft, der Kultur und der Ethik vollzogen werden. In seinen Verteidigungsschriften zum kulturellen Genozid am kurdischen Volk unterstreicht Abdullah Öcalan, dass eine Gesellschaft, die ihre moralischen Prinzipien verloren hat, auch ihr politisches Gedächtnis verliert und daher zu einer Gesellschaft wird, die sich selbst wehrlos macht. Als Kurdinnen und Kurden erleben wir heute das beste Beispiel dafür. Wer kann in einer Gesellschaft, in der jeden Tag Frauen ermordet werden, von aufrichtiger Moral sprechen? Wer kann von politischem Fortschritt in einer Gesellschaft sprechen, in der die Realität der Frauen, die der Spiegel der Gesellschaft sind, unverändert ist? Vor allem für eine im Würgegriff eines Völkermords gefangene Gesellschaft, die bemüht ist, sich zu verteidigen und sich aus der tödlichen Umklammerung zu befreien, ist es wichtig, sich mit den Begriffen Moral, Politik und Selbstverteidigung auseinanderzusetzen und Schlussfolgerungen zu ziehen. Ohne diese drei Grundpfeiler einer Gesellschaft wird der Staat, der diese Gesellschaft vernichten will, jeden Tag die Frauen dieser Gesellschaft angreifen und zur Zielscheibe machen. Beispiele dafür haben wir in vielen Staaten gesehen, allen voran in der Türkei. Wenn es um Kurdistan und die Kurd:innen geht, werden die Angriffe auf Frauen noch massiver. Das jüngste Beispiel dafür ist Rojhilat, der Osten Kurdistans.
Wenn wir etwas erreichen wollen
Das kurdische Volk hat zum Tod von Jina, die in Teheran ermordet wurde, nicht geschwiegen. Es hat sich in Rojhilat und Iran mit großer Wut erhoben. Darüber hinaus haben Frauen in vielen Teilen der Welt, insbesondere in den anderen Teilen Kurdistans, ihre Kampfbereitschaft unter Beweis gestellt. Das zeigt, wie stark das Gefühl der Solidarität unter Frauen ist. Wenn diese Energie jedoch nur dann kurzfristig einsetzt, wenn wieder Frauen ermordet werden, und sie sich nicht zu einem dauerhaften Strom entwickelt, kann keine organisierte Selbstverteidigung entstehen. Wenn Frauen im Kampf etwas erreichen wollen, ist es existenziell wichtig, die Prinzipien Organisierung, Kampf und Selbstverteidigung in die Praxis umzusetzen. Denn es geht um die Existenz. Wir sprechen hier von schmutzigen Machenschaften und einem Vernichtungsfeldzug gegen die Mentalität und Kultur einer ganzen Gesellschaft. Die Verwirklichung dieses Ziels auf dem Rücken der Frauen, die das soziale Leben aufbauen, entspringt einer patriarchal-etatistischen Ideologie.
Die am meisten beflügelnde Inspiration, aus der Frauen die notwendige Kraft ziehen können, sich diesem Wirken entgegenzustellen, ist der Kampf der kurdischen Freiheitsguerilla. Die YJA Star, die in den Bergen für Freiheit kämpft und Widerstand gegen die türkische Armee leistet, inspiriert die ganze Welt. Wir wissen sehr gut, dass dieses Stadium nicht leicht erreicht wurden. Warum hat Abdullah Öcalan die Gründung einer Frauenarmee und die Fähigkeit von Frauen zur Selbstverteidigung mit soviel Nachdruck auf die Tagesordnung gesetzt? Warum meinte er, dass Frauen sich autonom organisieren müssen? Warum schlug er die Formel „Jin jiyan azadî" vor?
Immer dann, wenn wieder Probleme in unserem Land auftreten, wirken die Perspektiven von Abdullah Öcalan wie eine weckende Ohrfeige. Wenn wir seine Voraussicht nicht mit dem vorhandenen Erbe verbinden und daraus die richtigen Schlussfolgerungen ziehen, kann es sein, dass wir vergessen, dass jede einzelne Frau, die ermordet wird, ein Grund für eine Revolution ist.
Es liegt in der Verantwortung jeder einzelnen Frau
Wir wissen, dass Vergessen bedeutet, sich selbst zu verlieren. Und wir wissen, dass unser Kampf als Frauen, unser Kampf für die Freiheit, bedeutet, unsere wahre Existenz zu erschaffen. Mit anderen Worten: Wir dürfen die in Şengal entführten ezidischen Frauen nicht vergessen. Wir dürfen Zeynab Jalalian in Rojhilat und Ekin Van, die in Bakur ermordet und deren entstellte nackte Leiche zur Schau gestellt wurde, nicht vergessen. Wir dürfen die Politikerinnen nicht vergessen, deren Willen mit der Schmutzkampagne gegen Semra Güzel gebrochen werden soll. Wir dürfen Sakine Cansız (Sara) und ihre Genossinnen Fidan Doğan und Leyla Şaylemez, die in Paris ermordet wurden, niemals vergessen. Deshalb liegt es in der Verantwortung einer jeden Frau, sich zu organisieren und für die Freiheit zu kämpfen, um unsere eigene Existenz zu schützen. Es ist an der Zeit, diesen Auftrag anzunehmen, unsere Mission zu erfüllen und unsere Freiheit selbst zu gestalten.