„Volksverhetzung“: Neues Verfahren gegen Leyla Güven

Gegen die inhaftierte kurdische Politikerin Leyla Güven ist ein weiteres Verfahren eröffnet worden, diesmal unter dem Vorwurf der angeblichen Volksverhetzung. Grundlage bildet ihre Forderung nach Rechenschaft für Massaker an der kurdischen Bevölkerung.

Die Staatsanwaltschaft von Silopi (ku. Silopiya) hat Anklage gegen die kurdische Politikerin Leyla Güven erhoben. Die Behörde beschuldigt die 59-Jährige der Volksverhetzung und fordert eine Freiheitsstrafe zwischen einem und drei Jahren. Hintergrund der Anklage ist eine Rede, in der Güven ihre Forderung nach Rechenschaft für Massaker an der kurdischen Bevölkerung bekräftigte.

Besagte Rede hielt Güven im Dezember 2020 auf einer Gedenkveranstaltung für Taybet Inan in Silopiya. Die 57-Jährige, die bereits zu Lebzeiten „Mutter Taybet“ genannt wurde, war während der am 14. Dezember 2015 ausgerufenen Ausgangssperre in der Kreisstadt im Süden der Provinz Şirnex (tr. Şırnak) vom türkischen Militär auf offener Straße erschossen worden. Inans Tod war besonders dramatisch, weil der Leichnam der elffachen Mutter sieben Tage lang nicht geborgen werden konnte. Die türkischen Sicherheitskräfte schossen auf alles, was sich bewegte. Ihr Schwager Yusuf Inan wurde bei dem Versuch, den toten Körper von Inan zu evakuieren, ebenfalls erschossen.

Leyla Güven, die wenige Tage nach der Gedenkveranstaltung verhaftet worden war, hatte an der Gedenkveranstaltung in ihrer Funktion als Ko-Vorsitzende der Graswurzelbewegung „Demokratischer Gesellschaftskongress“ (KCD) teilgenommen. In einer Ansprache erklärte sie damals: „Der Kampf um Gerechtigkeit für Taybet Inan und alle anderen Menschen, die Opfer der genozidalen Politik des türkischen Staates geworden sind, geht entschlossen weiter. Wir werden Rechenschaft verlangen von den Mördern, die auch heute Massaker an der kurdischen Gesellschaft begehen, um dieses Volk zu vernichten.“

Die Staatsanwaltschaft wertet die Worte Güvens als Hassrede. „Gerade die verhetzenden Aussagen ‚Rechenschaft‘ und ‚Widerstand‘ sind geeignet, gegen einen Teil der Bevölkerung zum Hass aufzustacheln, die Menschenwürde anderer dadurch anzugreifen und den öffentlichen Frieden zu stören“, heißt es in der Anklage. Das Papier wurde bereits von der 3. Strafkammer des Landgerichts Silopi angenommen. Der Prozess soll am 31. Oktober eröffnet werden.

Wer ist Leyla Güven?

Leyla Güven befindet sich seit dem 21. Dezember 2020 hinter Gittern, derzeit in einem Hochsicherheitsgefängnis in Xarpêt (Elazığ). An jenem Tag wurde die Mutter von zwei Kindern in Amed (Diyarbakir) wegen vermeintlicher PKK-Mitgliedschaft zu einer Freiheitsstrafe von 22 Jahren und drei Monaten verurteilt. In der Person Leyla Güvens stilisierte das Gericht in seinem Urteil die matriarchale Frühgeschichte der Völker Mesopotamiens zum Feindbild für die Sicherheit des türkischen Staates. Wenige Monate zuvor war Güven das Abgeordnetenmandat entzogen worden. Im Juni 2021 wurde die Haftstrafe bestätigt.

Vergangenen Oktober wurde Güven erneut zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, ebenfalls in Amed, diesmal jedoch wegen „Propaganda für eine Terrororganisation“. Elf Jahre und sieben Monate Haft erhielt sie für ihre Äußerungen in drei verschiedenen Reden, die sie als Abgeordnete getätigt hatte. Rund ein Jahr zuvor hatte bereits ein Gericht in Colemêrg (Hakkari) wegen desselben Vorwurfs eine fünfjährige Haftstrafe gegen Güven verhängt. Zum ersten Mal im Gefängnis ist sie jedoch nicht.

Erstmals verhaftet wurde Leyla Güven 2009 im Rahmen der international kritisierten „KCK-Operationen”, frei kam sie erst nach fünf Jahren. Zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung war sie Bürgermeisterin der kurdischen Stadt Wêranşar (Viranşehir). Im Januar 2018 wurde Güven erneut in Untersuchungshaft genommen, diesmal wegen ihrer Kritik am türkischen Angriffskrieg gegen Efrîn in Nordsyrien. Damals erlangte sie auch internationale Bekanntheit, als sie im darauffolgenden November aus ihrer Haft heraus eine 200-tägige Hungerstreikbewegung für die Aufhebung der Isolationshaftbedingungen für den seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan initiierte. Im Juni 2020 wurde Leyla Güven erneut verhaftet, nur wenige Stunden nachdem das Parlament in Ankara ihnen ihr Mandat und damit auch ihre Immunität entzogen hatte. Als Begründung wurde das inzwischen rechtskräftige Urteil im KCK-Verfahren herangezogen. Zusätzlich zum Verfahren wegen der angeblichen Volksverhetzung sind auch weitere Prozesse gegen Güven anhängig.