Istanbul-Konvention: TTB ficht Entscheidung von Staatsrat an

Der Bund der türkischen Ärztinnen und Ärzte zieht vor das oberste Verwaltungsgericht, um die umstrittene Entscheidung zum Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention anzufechten.

Der Bund der türkischen Ärztinnen und Ärzte (TTB) zieht vor das oberste Verwaltungsgericht, um die umstrittene Entscheidung zum Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention anzufechten. Wie der Verband mitteilte, ist die Klage am Freitag beim Vorsitz der Kammern für Verwaltungssachen in Ankara eingereicht worden. Die Stelle fungiert als Revisionsinstanz beim türkischen Staatsrat, der die Aufkündigung des internationalen Frauenschutzabkommens im Juli bestätigt hatte.

Zuvor hatte der TTB gegen den Rückzug der Türkei aus der Istanbul-Konvention geklagt, allerdings ohne Erfolg. Die Organisation hält den Austritt für unzulässig und hat sich der Argumentation zahlreicher weiterer klagender Verbände und Einzelpersonen angeschlossen, wonach die Aufhebung des Übereinkommens verfassungswidrig war. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte in einer Nacht-und-Nebel-Aktion im März 2021 Fakten geschaffen und ein Dekret unterschrieben, in dem er den Rückzug aus der Konvention erklärte. Damit kam er konservativen und islamistischen Kreisen entgegen, die den Austritt mit der Begründung gefordert hatten, die Übereinkunft würde Scheidungen und Homosexualität normalisieren und sozialen und familiären Werten der Türkei schaden. Der Austritt wurde trotz zahlreicher Proteste am 1. Juli 2021 wirksam.

Die Istanbul-Konvention ist ein vom Europarat 2011 ausgefertigter Vertrag, der 2014 in Kraft getreten ist. Sie ist auf europäischer Ebene das erste völkerrechtlich verbindliche Instrument zum Schutz von Frauen, Mädchen und LGBTI+ (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche Menschen) gegen jede Form von Gewalt. Das Abkommen verankert das Menschenrecht auf ein gewaltfreies Leben, definiert Gleichstellungsmaßnahmen und fordert finanzielle Mittel für Gewaltschutz und Gewaltprävention.

Eine Demonstrantin hält auf einer Kundgebung in Istanbul im Juni 2021 gegen den Rückzug der Türkei aus der Konvention ein Plakat mit dem Gesicht von Deniz Poyraz. Die kurdische Aktivistin war wenige Tage zuvor bei einem rassistisch motivierten Anschlag auf ein HDP-Büro in Izmir von einem bekennenden Faschisten ermordet worden.


Fachleute für Verfassungsrecht waren sich von Anfang an einig, dass der Präsident nicht das Recht hat, die Gültigkeit eines vom Parlament ratifizierten Vertrages einfach aufzuheben, da internationale Abkommen in der Türkei im Verfassungsrang stehen. Selbst die Staatsanwältin am Staatsrat teilte zuletzt diese Auffassung und forderte die Annullierung des Rückzugs. Das fünfköpfige Richtergremium entschied jedoch mit drei zu zwei Stimmen zugunsten Erdoğans. Grundlage sei der Erlass Nummer 9 vom 15. Juli 2018, eines von mehreren nach Erdoğans Wiederwahl in jenem Jahr erlassenen Dekreten, mit denen weitreichende Machtbefugnisse zulasten des parlamentarischen Systems mit erweiterten Rechten für die Exekutive auf den Präsidenten übergingen. Mit dem Erlass „ermächtigte“ sich Erdoğan, internationale Verträge vorbei am Parlament zu genehmigen, zu verlängern oder zu annullieren.

Doch präsidiale Dekrete dürfen Verfassungsrechte nicht einschränken und gesetzlich bereits bestimmte Regelungen nicht betreffen. So steht es zumindest in den Gesetzen. Damit ist laut dem TTB und anderen Klagenden sowohl der Erlass Nr. 9 an sich verfassungswidrig als auch jede Entscheidung, die darauf beruht. Das türkische Grundgesetz ermächtige den Präsidenten nur, internationale Abkommen „zu genehmigen und zu veröffentlichen”, nicht aber sie aufzukündigen. Auch die beiden abweichenden Richter am Staatsrat hatten in einer separaten Stellungnahme erklärt, sie seien der Meinung, dass dem Rückzug aus der Istanbul-Konvention die Rechtsgrundlage fehle und der Präsident mit seinem Vorgehen seine Kompetenzen eindeutig überschritten habe.

Darauf berief sich eigenen Angaben nach auch der TTB in seiner Anfechtungsklage. „Juristisch wie völkerrechtlich ist es zweifelsfrei, dass der Präsident die in einem völkerrechtlichen Vertrag geschützten Grund- und Individualrechte nicht per Dekret regeln darf.“ Die Istanbul-Konvention betreffe aber solche Rechte, insbesondere das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Deshalb müsse das oberste Verwaltungsgericht seine Entscheidung für den Austritt der Türkei aus dem Vertrag aufheben, fordert der TTB.