Der Staatsrat in Ankara hat am Donnerstag mehrere Klagen gegen den Rückzug der Türkei aus der Istanbul-Konvention verhandelt. Per Dekret hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im März vergangenen Jahres Fakten geschaffen und den Austritt aus dem Frauenschutzabkommen des Europarates angekündigt. Am 1. Juli wurde der Rückzug des Landes besiegelt. Damit kam Erdoğan konservativen und islamistischen Kreisen entgegen. Diese hatten den Austritt mit der Begründung gefordert, die Übereinkunft würde Scheidungen und Homosexualität normalisieren und sozialen und familiären Werten der Türkei schaden.
Frauenorganisationen, Rechtsanwaltskammern und die Opposition machten früh deutlich, dass ein Verzicht auf die Konvention für sie nicht in Frage kommt und der Austritt ohnehin ein Rechtsbruch sei. Denn laut türkischer Verfassung hat der Präsident nicht die Befugnis, internationale Verträge ohne Zustimmung des Parlaments per Dekret aufzukündigen: Internationale Abkommen stehen in der Türkei im Verfassungsrang. Damit darf der Präsident die dort geschützten Grund- und Individualrechte nicht per Dekret regeln. Die Istanbul-Konvention betrifft aber solche Rechte, insbesondere das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Zahlreiche Klagen waren seit der Ankündigung beim Staatsrat, dem obersten Verwaltungsgericht der Türkei, eingereicht worden, um den Austritt aus der Konvention rückgängig zu machen. Doch nur zwei Tage vor dem Rückzug hatte das Gericht entschieden, alle Klagen abzulehnen.
Voller Saal im Staatsrat. Zahlreiche Frauen kamen nicht rein. via MA
Laut dem damaligen Urteil sei die Aufkündigung eines internationalen Abkommens durch den Präsidenten sehr wohl legitim. Grundlage sei der Erlass Nummer 9 vom 15. Juli 2018, eines von mehreren nach Erdoğans Wiederwahl in jenem Jahr erlassenen Dekreten, mit denen weitreichende Machtbefugnisse zulasten des parlamentarischen Systems mit erweiterten Rechten für die Exekutive auf den Präsidenten übergingen. Mit dem Erlass „ermächtigte“ sich Erdoğan, internationale Verträge vorbei am Parlament zu genehmigen, zu verlängern oder zu annullieren. Doch präsidiale Dekrete dürfen Verfassungsrechte nicht einschränken und gesetzlich bereits bestimmte Regelungen nicht betreffen. Damit ist laut den Klägerinnen sowohl der Erlass Nr. 9 an sich verfassungswidrig als auch jede Entscheidung, die darauf beruht. Das türkische Grundgesetz ermächtigt den Präsidenten nur, internationale Abkommen „zu genehmigen und zu veröffentlichen”, nicht aber sie aufzukündigen. Dem Rückzug aus der Istanbul-Konvention fehle die Rechtsgrundlage.
Gericht muss innerhalb 30 Tagen schriftliches Urteil vorlegen
Das sieht auch die Staatsanwaltschaft des Staatsrats weiterhin so. Am Ende der gestrigen Verhandlung, die sich vor der zehnten Kammer des Gerichts mit den Klagen von zehn Berufsverbänden, Parteien und Einzelpersonen befasste, darunter die Rechtsanwaltskammern von Amed (tr. Diyarbakır), Erzîrom (Erzurum), Dîlok (Antep) und Ankara, beantragte die zuständige Staatsanwältin Nazlı Yanıkdemir die Annullierung des Austritts der Türkei aus der Istanbul-Konvention. Entgegen der vorherigen Entscheidung und der Auffassung des Rechtsbeistands Erdoğans – Juristen aus der Generaldirektion für Recht und Gesetzgebung, die der Direktion für Verwaltungsangelegenheiten des Präsidenten untersteht – habe der AKP-Chef nicht die Autorität, die Entscheidung über den Rückzug der Türkei aus der Konvention zu treffen, so Yanıkdemir. Erst das türkische Parlament könne mit einem Gesetz die Beendigung des Vertrages einleiten. Nach dem Antrag brach Jubel und Applaus im Gericht aus, die mehr als 500 Frauen im Sitzungssaal riefen „Es lebe die Solidarität der Frauen“. Eine Entscheidung wurde aber noch nicht bekannt gegeben. Insgesamt dreißig Tage hat das Gericht Zeit, das schriftliche Urteil samt Begründung bei den Prozessbeteiligten vorzulegen.
„Die Konvention gehört uns!” - Kundgebung vor dem Staatsrat nach der Verhandlung via MA
Die Istanbul-Konvention
Die Istanbuler Konvention wurde 2011 vom Europarat als völkerrechtlicher Vertrag ausgefertigt. Sie ist auf europäischer Ebene das erste völkerrechtlich verbindliche Instrument zum Schutz von Frauen, Mädchen und LGBTI+ (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche Menschen) gegen jede Form von Gewalt. Das Abkommen verankert das Menschenrecht auf ein gewaltfreies Leben, definiert Gleichstellungsmaßnahmen und fordert finanzielle Mittel für Gewaltschutz und Gewaltprävention.
Der Vertrag soll insbesondere Frauen vor jeglicher Form geschlechtsspezifischer Gewalt schützen, solche Gewalt verhindern und, falls sie trotzdem vorkommt, die Täter und Täterinnen zur Rechenschaft ziehen. Das Anwendungsfeld ist dabei sehr breit gefasst: es reicht von allen Formen von Gewalt in Ehe und Partnerschaft (physische, psychische, sexuelle Gewalt, Stalking, etc.), über andere Formen der Gewalt im sozialen Nahraum wie Zwangsverheiratung oder Genitalverstümmelung, bis hin zu Gewalt im öffentlichen Raum, von der vor allem Frauen betroffen sind. Das Abkommen bezieht sich zwar in erster Linie auf Gewalt an Frauen, fordert die Mitgliedstaaten aber auch zu Maßnahmen gegen Gewalt an Männern und Kindern auf.
Die von der Konvention vorgesehenen Maßnahmen betreffen sowohl den Bereich der Prävention wie auch die Betreuung und Unterstützung von Opfern, den Rechtsschutz oder die Verfahren. Ein besonderes Kapitel ist der geschlechtsspezifischen Gewalt im Zusammenhang mit Migration und Asyl gewidmet. Die Konvention verfügt zudem über einen spezifischen Monitoring-Mechanismus (GREVIO), um eine effektive Umsetzung ihrer Bestimmungen seitens der Parteien zu gewährleisten. Die Vereinbarung gilt als Meilenstein im Kampf gegen patriarchale Gewalt und wurde bisher von 45 Staaten und der Europäischen Union (EU) unterzeichnet. 34 Länder haben den Vertrag ratifiziert. Die Türkei unterzeichnete als erstes Land die Konvention und ratifizierte den Vertrag 2012 im Parlament.