„Türkei kann nicht per Dekret aus Istanbul-Konvention austreten“

Die Ko-Vorsitzende des Büros der Anwaltsvereinigung ÖHD in Amed, Özüm Vurgun, appelliert an alle Frauen, sich hinter die Istanbul-Konvention zu stellen.

Die Türkei hat sich als Erstunterzeichnerin der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt am 20. März 2021 per Präsidialdekret aus dem internationalen Abkommen zurückgezogen. Im selben Monat wurden mindestens 28 Femizide in der Türkei und Nordkurdistan begangen, 19 Frauen kamen unter verdächtigen Umständen ums Leben. Seit dem 20. März sind mindestens 15 Frauen ermordet worden. Frauenorganisationen kritisieren, die Täter würden durch den Rückzug aus der Konvention und die weitgehende Straflosigkeit patriarchaler Gewalt ermutigt. Mit der Behauptung, die Konvention würde „die türkische Familienstruktur zerstören“, wurden patriarchale Gewaltverhältnisse von obersten Regierungskreisen legitimiert. Die Anwältin Özüm Vurgun vom Verein der Jurist*innen für die Freiheit (ÖHD) äußerte sich im ANF-Gespräch über die sozialen und juristischen Implikationen des Rückzugs aus der Konvention und erklärt, die Frauen würden diese Entscheidung nicht hinnehmen.


Staat erstmalig in einem Fall von Gewalt gegen Frauen verantwortlich gemacht“

„Die Wurzeln der Istanbul-Konvention liegen im Fall Nahide Opuz in Amed (tr. Diyarbakır) begründet”, erklärt Vurgun. „Ihre Anwält*innen waren Meral Danış-Beştaş und Mesut Beştaş. Im Opuz-Verfahren wurde die Türkei zum ersten Mal als Staat in einem Fall von Gewalt gegen Frauen als verantwortlich verurteilt.“ Der Fall Opuz machte international Schlagzeilen. Im Juni 2009 hatte der EGMR die Türkei in ihrem Fall wegen mangelnden Einsatzes zur Eindämmung häuslicher Gewalt verurteilt. Opuz hatte seit 1995 wiederholt Beschwerde gegen die Gewalt ihres Ehemanns Hüseyin Opuz eingereicht und um Schutz gebeten. Ihre Hilfeersuchen blieben jedoch ohne Erfolg, so dass sie den EGMR anrief.

Rechtsanwältin Vurgun erläutert: „Es war die Türkei, welche die Schaffung einer solchen Konvention forderte und es war die Türkei, die diese Konvention unterzeichnete. Die Istanbul-Konvention heißt so, weil sie in Istanbul vom damaligen Außenminister Davutoğlu unterzeichnet worden war. Die Konvention setzt sich grundsätzlich mit geschlechtsspezifischer Diskriminierung und Gewalt an Frauen auseinander, vor allem auch mit dem Thema der häuslichen Gewalt im Allgemeinen. Die Istanbul-Konvention stellt zum ersten Mal fest, dass Gewalt gegen Frauen eine Menschenrechtsverletzung und eine Form der Diskriminierung darstellt, und verurteilt das.“

Über Familienbegriff muss diskutiert werden“

Vurgun weist darauf hin, dass die Türkei in den vergangenen zehn Jahren nichts unternommen habe, um die aus der 2011 unterzeichneten Konvention hervorgehenden Verpflichtungen zu erfüllen: „Die Istanbul-Konvention weist die Verantwortung dem Staat zu. Sie besagt, die Verantwortung liege beim Staat, der seine Bürgerinnen und Bürger nicht schützt. Doch statt dieser Verantwortung gerecht zu werden, stieg die Gewalt gegen Frauen kontinuierlich an und wurde zu einem regelrechten Feminizid. Das Regime hat es geschafft, von vielen dieser Ereignisse abzulenken. Es hat allen, die es als Gegner betrachtet, die Schuld zugewiesen, und sich aus der Istanbul-Konvention zurückgezogen.

Die Konvention wird als schädlich für die Familienstruktur dargestellt. Das zeigt, wie notwendig es ist, jetzt die Diskussion über die Familie zu führen. Wenn sich der Tenor von Urteilen danach richtet, ob sich der Mann, der seine Ehefrau oder seine Tochter ermordet hat, eine Krawatte umbindet, oder ob eine Frau, die belästigt oder vergewaltigt wurde, einen Minirock getragen hat, dann macht dies die patriarchale Mentalität des Regimes deutlich. Die Regierung missachtet die Errungenschaften der Frauen. Die Istanbul-Konvention, die durch den Fall Nahide Opuz initiiert wurde, ist ein Gewinn für alle Frauen in der Türkei und auf der ganzen Welt. Wir müssen uns nun damit auseinandersetzen, wie es überhaupt möglich sein kann, sich per Dekret aus einer Konvention zurückzuziehen. In der Türkei werden heute über Nacht Dekrete verhängt. Sich per Dekret aus einer internationalen Konvention zurückzuziehen, demaskiert einmal mehr die Haltung des patriarchalen Mannes und zeigt, was Alleinherrschaft bedeutet. Nach dem Ausstieg aus der Konvention nahm die Männergewalt zu. Nach dem Motto: ‚Es gibt jetzt niemanden mehr, der dich schützt.‘“

Wir akzeptieren keinen anderen Vertrag“

Vurgun charakterisiert das Vorgehen als „rechtswidrig“ und führt aus: „Anwaltskammern und zivilgesellschaftliche Organisationen haben Widerspruch wegen Rechtswidrigkeit der Entscheidung eingelegt. Die Regierung spricht von einer Konvention, die zu unserem Familienleben passen soll. Aber es handelt sich um so eine weit gefasste Konvention gegen Gewalt, dass ein Staat sie nicht einmal im Krieg aussetzen kann. Wir befinden uns in einer Situation, in der die Istanbul-Konvention als unseren Bräuchen, Traditionen und unserem Gerechtigkeitsempfinden widersprechend dargestellt wird. Es wurde so oft beobachtet, wie Frauen, die unter Schutz standen, ermordet wurden. Der Staat hat also seine Verpflichtung nicht erfüllt. Eine Ankara- oder Berlin-Konvention an Stelle der Istanbul-Konvention ist nicht nötig. Das ist inakzeptabel. Es gibt ein Abkommen und wir haben es durch einen erfolgreichen Kampf erstritten. Das, was uns hier präsentiert wird, akzeptieren wir nicht. Ohne irgendeinen Punkt zu klären, ohne den Inhalt offen zu legen, hören wir nur einen Namen. Es ist nicht möglich, dass so etwas eine Person macht. Wir sind auch dagegen, dass ein Mann die Grundlage des Rechts legt. Wir akzeptieren keinen Vertrag, der die Rolle der Frau in der Gesellschaft festschreibt. Wir akzeptieren auch nicht die althergebrachte Kultur des Mittleren Ostens. Wir sind gegen häusliche Gewalt, die kann nicht nur vom Ehemann, sondern auch vom Partner ausgehen. Daher halten wir am Begriff der häuslichen Gewalt fest. Um Gewalt zu verhindern, muss der Blick des Mannes auf die Frau verändert werden.“

Die Istanbul-Konvention sichert die Zukunft der Frauen

Die Anwältin schließt mit den Worten: „Wir haben es hier mit einem Präsidenten zu tun, der sich illegal verhält, und mit Claqueuren, die ihn dabei begleiten. Die Verfassung ist in diesem Punkt sehr klar. Das Vorgehen des Präsidenten ist eindeutig rechtswidrig. Wir müssen an der Konvention festhalten. Der Rückzug aus der Konvention ist rechtswidrig. Man kann nicht per Dekret aus einem internationalen Abkommen austreten. Der Kampf der Frauen ist sehr deutlich zu sehen, sie erkennen das Ein-Mann-Regime nicht an und führen permanent Protestaktionen durch. Der Kampf der Frauen geht weiter. Den Juristinnen und Juristen, aber auch der Presse fällt eine große Aufgabe zu. Warum ist die Konvention denn unterzeichnet worden, wenn sie die ‚Struktur der türkischen Familie zerstört‘? Wir müssen dieser Meinungsmanipulation entgegentreten. Die Istanbul-Konvention sichert die Zukunft der Frauen.“