„Für uns ist es noch nicht vorbei!“

Tausende Menschen in der Türkei haben gegen den Austritt des Landes aus der Istanbul-Konvention demonstriert. In Istanbul skandierten Frauen „Wir schweigen nicht, wir fürchten uns nicht, wir gehorchen nicht!“, als sie Polizeibarrikaden durchbrachen.

In der Türkei sind am Donnerstag tausende Menschen in dutzenden Städten auf die Straße gegangen, um gegen den Austritt des Landes aus der Istanbul-Konvention zu protestieren. Wie von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan angekündigt, ist die Türkei seit gestern nicht mehr Mitglied in dem internationalen Schutzabkommen. Die Fakten hatte der Diktator schon vor Monaten per Dekret geschaffen.

Die Proteste in Istanbul, Ankara und Izmir fanden unter massivem Polizeiaufgebot statt. „Wir geben die Konvention nicht auf und bringen das Leben zum Stillstand“ lautete das Motto, unter dem die Kampagnengruppe „Istanbul-Konvention anwenden!“ zur Demonstration in der Bosporus-Metropole aufgerufen hatte. Die Menge versammelte sich am Tünel und zog hoch zur Einkaufsmeile Istiklal Caddesi. Viele hatten Trillerpfeifen, Trommeln und andere Instrumente mitgebracht, um besonders laut zu sein. Bevor es los ging, sprangen hunderte Menschen im Takt der Parole „Tayyip, schau her! Wir sind viele!“ auf und ab und schwenkten dazu Regenbogenfahnen und Schilder mit Aufschriften wie „Die Istanbul-Konvention gehört uns“, „Wir geben die Istanbul-Konvention nicht auf“, „Frauen gehen auf die Barrikaden“ oder „Widerstand für das Leben“.

Als der Marsch sich in Bewegung setzte, skandierten die Protestierenden in Sprechchören: „Wir schweigen nicht, wir fürchten uns nicht, wir gehorchen nicht“, „Der Kampf ist noch nicht vorbei, denn das ist erst der Anfang“, „Jin, Jiyan, Azadî“ und „Der mörderische Staat wird Rechenschaft ablegen“. Die Polizei war mit etlichen Kräften im Einsatz, viele Straßen wurden abgeriegelt. Die Beamt:innen versuchten immer wieder, den Demonstrationszug mit Verweis auf die fehlende Versammlungsgenehmigung zu stoppen.

„Deniz Poyraz ist unsterblich“

Die Aktivist:innen blieben unbeeindruckt und durchbrachen mehrere Polizeibarrikaden. Dutzenden Einsatzkräften wurden die Polizeischutzschilder entrissen und auf den Boden geworfen. Zwischenzeitlich rannten schwerbewaffnete Beamte vor den Protestierenden weg. Als die Polizei sich nicht mehr zu helfen wusste, rief sie einen Wasserwerfer zur Verstärkung und setzte Tränengas ein. Dennoch gelang es einem Teil der Demonstration, bis zum Zielort Karaköy zu gelangen.

Der Abend in Istanbul ging mit einer Sitzblockade zu Ende

Auch in der Küstenmetropole Izmir ging die Polizei gewaltsam gegen die Proteste vor. In anderen Städten der Ägäis ging es friedlicher zu. Im nordkurdischen Wan haben 129 zivilgesellschaftliche Organisationen aus Nordkurdistan eine gemeinsame Deklaration zur Verteidigung der Istanbul-Konvention verabschiedet. Zu den Unterzeichnenden gehören unter anderem der Frauenverein Rosa in Amed, das „Lebenshaus“ Riha – ein Solidaritätsverein von Frauen für Fraun, sowie der in Wan sitzende Frauenverein Star, der die Deklaration bekanntgab. Auch in weiteren Regionen Nordkurdistans sowie an der Schwarzmeerküste und in Städten am Mittelmeer; überall waren Menschen, vorwiegend Frauen auf der Straße, um die Istanbul-Konvention zu verteidigen.

Der Frauenverein Star in Wan bei der Verkündung der Deklaration

Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, auch bekannt als Istanbul-Konvention, ist ein 2011 ausgearbeiteter völkerrechtlicher Vertrag. Es schafft verbindliche Rechtsnormen für eine „echte Gleichstellung von Frauen und Männern“ und die Abschaffung von Diskriminierung. Erdoğan hatte im März per Dekret den Austritt aus der Konvention verkündet, der mit dem 1. Juli vollzogen wurde. Als Grund gab die türkische Führung an, das Abkommen sei von Menschen vereinnahmt worden, „die versuchten, Homosexualität zu normalisieren“. Eine Klage gegen das Dekret hatte der Staatsrat als Oberstes Verwaltungsgericht diese Woche zurückgewiesen.