Suham Şengalî: Jede Ezidin soll sich selbst verteidigen können

Die Frauenorganisation TAJÊ setzt sich für die Selbstermächtigung ezidischer Frauen ein und sieht Traumatherapien in Europa für Überlebende des IS-Massakers kritisch. Die Aktivistin Suham Şengalî erläutert den Hintergrund.

Selbstverteidigung gegen Femizid

Die Freiheitsbewegung der ezidischen Frauen (TAJÊ) hat am 8. März die Kampagne „Gegen Femizid – Seid die Stimme der Selbstverteidigung“ ausgerufen. Bis zum 3. August, dem zehnten Jahrestag des Genozids und Femizids in Şengal, sollen Stimmen von Frauen in dieser Kampagne zusammengebracht werden. Eines der vorrangigen Ziele der Selbstverteidigungskampagne ist die Befreiung der Ezidinnen, die immer noch vom IS festgehalten werden. Zuletzt wurden Anfang Juni eine ezidische Frau und zwei Mädchen von Sicherheitskräften der Selbstverwaltung Nordostsyriens in Camp Hol befreit.


Suham Şengalî arbeitet im Diplomatie-Ausschuss der ezidischen Frauenbewegung TAJÊ und hat sich gegenüber ANF zum Hintergrund und den ersten Ergebnissen der Kampagne geäußert. Sie hob die Rolle der YPJ und YPG bei der Rettung verschleppter Ezid:innen hervor und sagte weiter:

„Bis zur Niederlage des IS in Baghuz sind viele Kämpferinnen und Kämpfer bei Befreiungsoperationen gefallen. Seitdem konnten Hunderte ezidische Frauen, Mädchen und Jungen gerettet werden. Unter den 2019 in Camp Hol untergebrachten IS-Familien waren viele ezidische Frauen und Kinder. Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) setzen die Suche nach ihnen fort. Viele Frauen haben Angst, sich zu erkennen zu geben. Sie wissen nicht, wie es ihnen dann ergehen wird.

Tausende ezidische Frauen und Kinder werden vermisst

Die ezidischen Gefangenen befinden sich jedoch nicht nur in Camp Hol. Ein Teil ist in die von der Türkei und ihren Banden besetzten Gebiete verschleppt worden, an Orte wie Idlib, Serêkaniyê und Efrîn. Ein weiterer Teil wurde in die Türkei transferiert. Bei Tausenden ezidischen Frauen und Kindern ist nicht bekannt, was aus ihnen geworden ist. Wir können keine klaren Zahlen nennen, denn einige sind in Massengräbern und andere in der Gewalt des IS.

Schmutzige Politik der PDK

Hunderte Frauen und Kinder konnten jedoch von den YPJ und YPG befreit und mit ihren Familien vereint werden. Unsere Gesellschaft ist frohen Herzens, dass sie wieder in ihrer Heimat und Gemeinschaft leben können. Allerdings verfolgt die PDK eine schmutzige Politik. Sie will grundsätzlich verhindern, dass Überlebende nach Şengal zurückkehren und hier bleiben. Sofort nach ihrer Rückkehr nimmt die PDK Kontakt mit ihren Eltern auf, um sie mit materiellen Mitteln nach Südkurdistan in eine Schule von Neçirvan Barzanî zu locken. Und dann wird behauptet, die PDK hätte sie gerettet. Damit diese Lüge nicht auffliegt, werden die befreiten Gefangenen aus Şengal geholt. Sie werden sogar zusammen mit ihren Familien aus dem Irak gebracht.

Şengal soll entvölkert werden

Mit dieser Methode soll Şengal entvölkert werden. Hunderte überlebende Ezidinnen sind nach Europa gebracht worden. Die Politik der PDK unterscheidet sich nicht vom IS. Der IS hat 2014 Frauen und Kinder von ihrer eigenen Kultur und Sprache entfernt. Die PDK macht jetzt dasselbe mit anderen Methoden, mit einer speziellen Kriegsführung. Auf diese Weise will sie ihren Verrat von 2014 vergessen machen. Die Ezidinnen sollen vergessen, was sie gesehen haben und bezeugen können. Unter dem Begriff ,Behandlung' wird versucht, sie das Massaker vergessen zu lassen, damit sie sich nicht mehr damit beschäftigen. Die Zeuginnen der IS-Massaker und des Verrats der PDK sollen beseitigt werden.

Traumabewältigung in der Gemeinschaft

Trotzdem leben einige von ihnen wieder mit ihrer Kultur und ihrem Glauben in Şengal, und dieser Kampf geht weiter. Diese Mädchen wurden als Zehnjährige vergewaltigt, verkauft und versklavt. Sie waren noch Kinder, aber sie wurden vergewaltigt und haben selbst Kinder zur Welt gebracht. Darüber können sie nur innerhalb der eigenen Gemeinschaft hinwegkommen, nur so können sie genesen. Wenn sie nach Europa gebracht werden, leben sie nicht in ihren Familien, sie werden gesondert untergebracht und sollen in der Therapie den Ferman vergessen.

Jede Ezidin soll sich verteidigen können

Unser Ziel ist es, die gefangenen Frauen zu befreien und zu schützen. Mit unserer Kampagne wollen wir erreichen, dass Frauen nie wieder so etwas erleben müssen und dass sie sich selbst verteidigen können. Darum geht es uns, um Selbstverteidigung. Jede Ezidin soll egal wo in der Lage sein, sich gegen jede Form von Angriffen wehren zu können. Wir wollen ein Bewusstsein für die Situation ezidischer Frauen schaffen und die Aufmerksamkeit auf den Aspekt der Selbstverteidigung lenken. In der Kampagne arbeiten wir mit Frauen aus dem Irak, dem Nahen Osten und Europa zusammen. Es gibt eine internationalistische Zusammenarbeit, die in verschiedenen Formen fortgesetzt wird. Unser grundlegendes Anliegen ist der gemeinsame Verteidigungskampf von Frauen, daran arbeiten wir.“