Selbstverteidigung: Veränderung und Freiheit im Denken

Die kurdische Frauenbewegung in Europa führt eine Kampagne gegen Feminizid, Besatzung und Naturzerstörung durch. Die Aktivistin Zeynep Dersim erläutert, was dahinter steckt und warum es vor allem um eine Veränderung in den Köpfen geht.

Die kurdische Frauenbewegung in Europa (TJK-E) führt unter dem Motto „Steh auch du auf für Veränderung und Freiheit“ eine Kampagne gegen Feminizid, Besatzung und Naturzerstörung. Im Rahmen dieser Offensive soll eine Aktionskette initiiert werden mit dem Ziel, eine Gesellschaft gemäß dem Paradigma „Demokratische Nation“ aufzubauen.

Die TJK-E startete ihre Offensive am 7. September mit Demonstrationen an vielen Orten. Die langfristig angelegte Kampagne zielt zuallererst auf die Bekämpfung von Frauenmorden sowie militärische Besatzung, umfasst aber einen Kampf in viele Richtungen. Den September über haben kurdische Frauen die Besatzungspolitik der herrschenden Mächte, den politischen Vernichtungszug gegen die kurdische Opposition, das Klima zerstörende Politik und damit die Schaffung von Fluchtursachen mittels kreativen Methoden thematisiert. Im Oktober wird das Thema Selbstverteidigung sein.

Die TJK-E-Aktivistin Zeynep Dersim hat sich im Interview in der Tageszeitung Yeni Özgür Politika zu den Aktionen im September und der geplanten Route im Oktober geäußert.

Was sind die Ziele Eurer Offensive?

Wir bezeichnen das 21. Jahrhundert als die Zeit der Frauenbefreiung. Diese Epoche bedeutet für uns die Wiedergeburt der Frauenfreiheit und den Kampf um ihre Systematisierung. Es ist eine Epoche, in der Kriege und Zerstörung zeitgleich zur Entwicklung eines neuen gesellschaftlichen Systems stattfinden. Krieg, Gewalt und Zerstörung entstammen einer männlichen Denkweise. Während das kapitalistische System Kriege führt, um sich zu restaurieren und seine Existenz zu sichern, kämpfen Frauen und Völker dafür, ein demokratisches gleichberechtigtes Leben aufzubauen. Diese Realität beeinflusst uns alle auf die eine oder andere Weise. Das Individuum, die Familie, die Beziehungen, alle Arten von gesellschaftlichen Beziehungen werden von diesem Chaos beeinflusst, es bringt verschiedenste Probleme mit sich.

Als kurdische Frauenbewegung in Europa sehen wir angesichts dieser Realität die dringende Notwendigkeit, den Ursachen auf den Grund zu gehen, in der Gesellschaft ein Bewusstsein dafür zu schaffen, Lösungen zu entwickeln und eine neue Phase beginnen zu lassen, indem etwas Neues aufgebaut wird. Vor diesem Hintergrund haben wir uns entschieden, mit der Offensive „Steh auch du auf für Veränderung und Freiheit“ in Europa zu beginnen. Natürlich muss solch eine Entscheidung die lokalen Bedingungen und Bedürfnisse berücksichtigen. Eines der Hauptthemen muss sein, die Methoden und den Weg des Kampfes für eine Lösung gesellschaftlicher Probleme zu finden. Ob 60-jährige Eltern, eine Geschäftsfrau oder ein junger Mann – sie alle stehen unter dem Einfluss der vom System geschaffenen Probleme und haben ernsthafte Schwierigkeiten, Lösungen dafür zu entwickeln. Innerfamiliäre Gewalt, Kinderehen, Polygamie, sexualisierte Übergriffe bis zu Vergewaltigung, Morde an Frauen, Prostitution, Drogenmissbrauch und natürlich ökonomische Ausbeutung - mit all diesen Problemen ist die Gesellschaft konfrontiert.

Wir haben als kurdische Frauenbewegung auch schon früher von Zeit zu Zeit verschiedene Kampagnen durchgeführt. Diese Kampagnen haben wichtige Ergebnisse hervorgebracht. In einem erheblichen Maß ist in der Gesellschaft der Blick auf die Freiheit der Frau, auf Männerherrschaft und die Probleme, die daraus entstehen, verändert worden. Die Definitionen von Frau und Mann wurden hinterfragt und erneuert. Die letzte unserer Kampagnen, die wir auch aktuell noch weiterführen, ist „Gewalt gegen Frauen ist politisch – es hättest auch du sein können“.

Gleichzeitig mit der Offensive habt Ihr auch einen gesellschaftlichen Aufbau definiert. Wie wollt Ihr das konkretisieren?

Wir befinden uns in einer bedeutsamen Phase, was den Frauenbefreiungskampf angeht. Mehr als je zuvor müssen Frauen heute zusammenarbeiten und die Voraussetzungen dafür sind gut. Mit der Offensive „Steh auch du auf für Veränderung und Freiheit“ rufen wir Frauen auf, sich zu organisieren und sich aktiv zu beteiligen. Für die Freiheit der Frauen und der Gesellschaft zu kämpfen, gegen Krieg, Besatzung und eine mörderische Politik zu protestieren und diesen Protest in Aktionen praktisch werden zu lassen, ist an allen Orten lebenswichtig. In der heutigen Situation ist es für uns und den Aufbau einer freien Gesellschaft besonders wichtig, dass sich Frauen aus allen gesellschaftlichen Bereichen an der Offensive beteiligen und dafür eintreten. Es handelt sich gleichzeitig um einen Kampf gegen Feminizid, die Zerstörung der Gesellschaft sowie gegen Genozid und Krieg.

Ja, diese Offensive ist gleichzeitig eine Offensive für einen gesellschaftlichen Aufbau. Hierfür sind Organisierung, Autonomie und Selbstbewusstsein notwendig. Frauen müssen in allen Bereichen des Lebens zum Subjekt werden. Eigenständigkeit, die eigenen Bedürfnisse feststellen zu können, Aufgaben zu koordinieren und gemeinsam durchzuführen, hat eine befreiende Wirkung auf die Gesellschaft. Das sind auch der Kern und die Seele der Demokratischen Nation. Deswegen bedeutet Aufbauarbeit zum Beispiel auch muttersprachlicher Unterricht, Selbstverteidigungskurse für Frauen, Bildungsarbeit für die Veränderung des Mannes oder Familien-Camps zur Schaffung einer demokratischen Familienstruktur. Aufbau umfasst Arbeiten zur Organisierung auf der politischen, sozialen und kulturellen Ebene, von der Institutionalisierung unseres Gerechtigkeitsverständnisses bis zur Schulung von Eltern.

Zuallererst geht es bei dieser Aufbau-Offensive um ein freies Denken. Es ist wichtig, dass sie aus der Frauenperspektive, die Bedingungen des Lebens von Frauen im Fokus, mit dem Bewusstsein „keine Frau, kein Zuhause soll unorganisiert bleiben“ geführt wird. Von den sozialen Problemen ausgehend bis zur gleichberechtigten Vertretung auf der politischen Ebene, von der Entwicklung freier Partnerschaftsbeziehungen bis hin zur Umsetzung gesellschaftlicher Projekte. Wir profitieren dabei davon, dass in Europa seit Jahrzehnten Arbeiten geleistet werden, die kurdische Existenz und Kultur zu behaupten. Das gibt uns eine dafür wichtige und starke Basis. Aber es ist Zeit für eine Transformation dieser Arbeit auf einer neuen Stufe. Einerseits müssen Lösungen für die gesellschaftlichen Probleme gefunden werden, andererseits müssen eigene demokratische, gleichberechtigte und freie Räume geschaffen werden. Eben genau hier spielt unsere Offensive „Steh auch du auf für Veränderung und Freiheit“ eine wichtige Rolle.

Wie sieht Eure Route für die Offensive aus? Welche Ergebnisse hat die Kampagne „Nein zu Militarismus und Besatzung“ im September hervorgebracht?

Selbstverständlich ist für eine solche Offensive ein langfristiges Arbeiten notwendig. Als erstes ist es wichtig, die Ansichten der Frauen in der lokalen Basis zu hören, denn es kommt darauf an, von der Basis aus einen organisierten Willen hervorbringen zu können. Jeden Monat soll deshalb eine Kampagne zu einem bestimmten Thema geführt werden. Das ist natürlich nicht leicht, denn es hat sich über die Jahrzehnte auch eine bestimmte Arbeitsweise manifestiert. Es ist deshalb eine gute Methode, ein Thema in den Fokus zu nehmen, darüber eine Systemkritik zu platzieren und Alternativen zu entwickeln. Allerdings können jahrzehntelang für praktisch gehaltene Arbeitsweisen und gewohnte Sichtweisen ein Hindernis für die richtige Umsetzung unserer Offensive sein. Zum Beispiel werden bis heute gesellschaftliche Probleme heruntergespielt, nicht ernst genommen. Bei einer derartigen Haltung werden auch diese Arbeiten nicht wahrgenommen oder sogar kleingeredet. Das zeigt eigentlich nur, mit welchem Horizont und in welcher Engstirnigkeit diese jahrzehntelang einstudierte Haltung gefangen ist. Gleichzeitig drückt es ein Widerstreben gegen die Entwicklung der Neigung zur Freiheit in der Gesellschaft, eine Haltung gegen freie Frauen und Männer, gegen ein freies Beziehungsleben aus. Aus diesem Grund ist von vorrangiger Wichtigkeit, dass zuallererst von den Frauen, von der Gesellschaft diese Offensive richtig begriffen und umgesetzt wird.

Aus diesem Grund finden wir es am sinnvollsten, jeden Monat den Blick auf ein anderes Thema zu richten. „Nein zu Militarismus und Besatzung“ hatten wir für September gewählt, denn unter den Zerstörungen durch Krieg, unter Vertreibung und der daraus resultierenden Gewaltkette leiden am allerstärksten Frauen und Kinder. Sie sind vom Tode bedroht, Gewalt ausgesetzt und von sexualisierter Gewalt bis hin zu Vergewaltigung bedroht. Nehmen wir das Thema Flucht, wird deutlich, wie die durch den Militarismus ermöglichte Profitgier die Lebensgrundlagen von Tausenden und Abertausenden zerstört. Jede einzelne zerstörte Lebensgrundlage muss im Zusammenhang mit der Zerstörung von Kultur, Geschichte und Sprache im Ganzen gesehen werden. Das ist ein ineinandergreifender komplizierter Mechanismus. Aus diesem Grund haben wir über den weltweiten Antikriegstag am 1. September hinaus am 7. September mit Aktionen unter dem Motto „Nein zu Militarismus und Besatzung“ an vielen Orten Europas begonnen, auch mit Ständen, um die Öffentlichkeit über den Inhalt der Offensive zu informieren.

Was ist die Route für den Oktober?

Unser Thema im Oktober ist Selbstverteidigung. Was bedeutet Selbstverteidigung? Wie kann sie in der Praxis entwickelt werden? Das wollen wir in diesem Monat bearbeiten. Dafür organisieren wir Bewusstseinsarbeit in der Gesellschaft und werden Selbstverteidigungs-Kurse für Frauen, insbesondere für junge Frauen einrichten.

Wie bekannt ist, ist der Monat Oktober gleichzeitig der Monat des internationalen Komplotts. Mit dem internationalen Komplott gegen die Person Abdullah Öcalans sind gleichfalls die kurdischen Frauen und das kurdische Volk angegriffen worden. Das Komplott zielte sogar zum größten Teil auf den Freiheitskampf der Frauen, um die mit diesem Kampf bereits erreichten Erfolge zurückzudrehen. 20 Jahre haben die Frauen diese Errungenschaften nun schon gegen das Komplott verteidigt und weiterentwickelt. Auf der Grundlage der weitreichenden Perspektiven des Vorsitzenden haben Frauen sogar weltweit neue Türen aufgestoßen. Der grundsätzlichste Inhalt dieser Perspektiven war vielleicht: „Eine organisierte Frau ist eine sich verteidigende Frau“. Aus diesem Grund sagen wir jetzt: „Frauen verteidigen die Freiheit gegen das Komplott“. Am 9. Oktober werden wir als TJK-E in Brüssel und Straßburg Protestkundgebungen abhalten. Am 12. Oktober werden wir an vielen Orten Europas Demonstrationen organisieren.

Neben diesen Aktivitäten sollen eben unsere gesellschaftlichen Aufbauarbeiten fortgesetzt werden. Die Offensive „Steh auch du auf für Veränderung und Freiheit“ soll eine Protest-Offensive sein, bei der Frauen und die ganze Gesellschaft mit den eigenen Worten und Aktionen gegen die Vereinnahmung durch das System Position bezieht. Wir rufen die Frauen auf, sich an der Offensive für Veränderung und die Freiheit bei sich selbst beginnend zu beteiligen und so auf die ganze Gesellschaft einzuwirken. Denn die Frau ist die anführende Kraft und der Geist der Veränderung. Gegen das kapitalistische System, das Besatzung und Faschismus hervorbringt und das frauen- und gesellschaftsfeindlich ist, Räume für ein freies Leben zu schaffen, bedeutet gleichzeitig die Welt zu verteidigen. Von der Notwendigkeit, sich entlang der gemeinsamen Forderungen von Frauen zu organisieren und nebeneinander zu stehen, sind wir zutiefst überzeugt. Wir werden dem Patriarchat einen weiteren Schlag versetzen, indem wir auf allen Ebenen demokratische Frauenfronten aufbauen. Es ist Zeit, mit allen Frauen, Feministinnen, Kämpferinnen für Ökologie, Antifaschistinnen, Antikapitalistinnen, Linkssozialistinnen, Intellektuellen, allen Systemgegnerinnen für Veränderung und Freiheit einen gemeinsamen Kampf zu organisieren und in Aktion zu treten. In diesem Sinne sagen wir: „Steh auch du auf für Veränderung und Freiheit“.