In der nordostsyrischen Stadt Qamişlo fand am Sonntag eine Zusammenkunft einer Abordnung der Koordination des Frauenrates von Nord- und Ostsyrien (Meclisa Jin a Bakur û Rojhilatê Sûriyê) und Vertreterinnen der Frauenverteidigungseinheiten YPJ (Yekîneyên Parastina Jin) statt. Die Delegation wurde von der YPJ-Sprecherin Nesrin Abdullah und der YPJ-Kommandantin Axîn Nûcan in den Räumlichkeiten des Büros für Öffentlichkeitsarbeit empfangen. Im Rahmen des Treffens erfolgte ein Austausch über die politischen und militärischen Aktivitäten der Frauenstrukturen und ein Gespräch über Perspektiven für die künftigen Arbeiten.
Auch wenn die Medien nicht viel darüber berichten, führen die kurdischen Frauen in Syrien bereits seit mehr als drei Jahrzehnten einen intensiven Kampf gegen das Baath-Regime. Diese langjährige Erfahrung hat auch die anderen Frauen in der Region beeinflusst. Im Zuge des „arabischen Frühlings“ haben Frauen in Rojava ab 2012 mit dem Aufbau von demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen in allen Bereichen der Gesellschaft begonnen, um sich von der jahrzehntelangen Unterdrückung durch das Baath-Regime zu befreien.
Leitidee von Rojava: Der „Dritte Weg“
Die Leitidee Rojavas ist der „Dritte Weg“, der im Demokratischen Konföderalismus konzeptualisiert ist. Hierbei handelt es sich um ein politisches und gesellschaftliches Modell, das die Gleichberechtigung von Ethnien, Religionen und Geschlechtern anstrebt. Der Demokratische Konföderalismus wurde von Abdullah Öcalan, dem seit Februar 1999 unter Isolationsbedingungen auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali inhaftierten Vordenker der kurdischen Freiheitsbewegung, als Vorschlag für ein friedliches Zusammenleben der Völker und Religionen im Mittleren Osten entwickelt. Er basiert auf Selbstverwaltung, organisiert über Kommunen und Räte, in denen alle in der Region lebenden Menschen vertreten sind. Entscheidungen werden hierdurch selbstbestimmt und von unten gefällt. Es besteht eine Frauenquote von mindestens 40 Prozent in den Verwaltungen aller Alltagsstrukturen. Zusätzlich organisieren sich Frauen in autonomen Strukturen. Der Demokratische Konföderalismus orientiert sich somit an den Bedürfnissen der Gesellschaft und spielt als gesellschaftliche Organisierungsform auch eine funktionale Rolle, da er so die Basis für Entwicklung darstellt. Das Projekt ist als solches einzigartig auf der Welt.
Türkische Invasion – Gezielter Angriff auf Frauen
Mit dem am 9. Oktober 2019 von der Türkei zusammen mit dschihadistischen Milizen begonnenen Angriffskrieg gegen die Region ist dieses Projekt ein weiteres Mal bedroht. Die Invasion beinhaltet nicht nur die Vertreibung der Zivilbevölkerung, die Zerstörung der Region und die Plünderung aller Ressourcen von Rojava. Der Völkerrechtsbruch Ankaras wird auch als direkter Angriff auf das Existenzrecht von Frauen und auf die Frauenrevolution verstanden.
„Denken wir nur an Hevrîn Xelef“, sagte Ebir Hesaf vom Frauenrat. Die kurdische Politikerin und Generalsekretärin der Zukunftspartei Syriens wurde am 12. Oktober 2019, dem dritten Tag der Invasion, bei einem von der Türkei unterstützten Hinterhalt einer islamistischen Miliz gefangengenommen, gefoltert und schließlich mit Schüssen durchsiebt. Ihre Mutter sagte, nachdem sie die sterblichen Überreste von Hevrîn Xelef zu Gesicht bekam, der von Folterspuren gezeichnete Körper ihrer Tochter sei so lange an den Haaren über den Boden geschleift worden, dass sich dadurch die Kopfschwarte vom Schädel löste.
Hevrîn Xelefs Aufmerksamkeit und Engagement galt den Belangen aller Bevölkerungsgruppen Syriens und einer demokratischen Erneuerung des Landes. Der türkische Staat feierte ihren Tod als „gelungene Operation zur Neutralisierung einer Terroristin“.
Nato im Dschihad?
Die Türkei als zweitgrößte Nato-Armee ist in Nordsyrien im Dschihad, sie führt einen „heiligen Krieg“. Frauen werden von den fundamentalistischen Aggressoren als legitime Beute im Kampf gegen die „Ungläubigen“ betrachtet. In den Städten Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad), deren Besetzung durch Russland und die USA Ende Oktober abgesegnet wurde, herrschen schon jetzt unter den Fahnen der Türkei Regeln der Scharia. Frauen sollen wieder die Sklavenrolle als ihr Schicksal hinnehmen und sich den patriarchalen Strukturen unterordnen.
Frauen sind Pionierinnen des gesellschaftlichen Wandels
„In der Person von Hevrîn und Frauen wie Mutter Aqîde oder die YPJ-Kämpferin Amara Rênas wurde der freie Wille von Frauen angegriffen“, so Hesaf. Mit der Bekämpfung des Widerstands der Frauen soll versucht werden, die Gewalt gegen die Weiblichkeit zu forcieren. Gerade deshalb sei es von Belang, Frauen unter dem Dach des Frauenrats zu vereinen, sagte YPJ-Kommandantin Axîn Nûcan. Die Frauen Rojavas sind eine dynamische Kraft. „Menschen auf der ganzen Welt sind beeindruckt und inspiriert von ihrem Widerstand.“ Auch in Zeiten von Angriffen auf die Region könnten Frauen ihre Organisierung weiter vorantreiben.
Die YPJ-Sprecherin Nesrin Abdullah erinnerte an die vielen Erfolge der Frauen Nordsyriens. Vor allem ihre Rolle beim Kampf gegen die Territorialherrschaft des IS. Doch nicht nur in militärischer und politischer Sicht leisteten sie einen selbstlosen Widerstand und stärken ihre autonome Selbstorganisierung für Frauenbefreiung, um somit die Basis einer freien Gesellschaft zu festigen. In allen Bereichen des Lebens gebe es positive Entwicklungen, die den Weg aus den Sackgassen ebneten, in die der enge Blickwinkel des alten Systems, geprägt von patriarchaler Macht, geführt hat. „In diesem Sinne wird es keiner Kraft gelingen, den Willen dieser Frauen zu brechen“, so Abdullah.