Die Koordination junger Frauen der Demokratischen Partei der Völker (HDP) hat eine neue Kampagne gegen männlich-staatliche Gewalt, sexuelle Übergriffe und Feminizid ins Leben gerufen. Der Startschuss der Aktion unter dem Leitspruch „Auf zur lila Mobilisierung” fiel am Vortag im Rahmen einer Kundgebung vor der HDP-Zentrale im Istanbuler Bezirk Kadıköy. Mit der Initiative, die einen Gesamtzeitraum bis zum internationalen Frauenkampftag am 8. März vorsieht, wollen die Aktivistinnen die Mentalität patriarchaler Machtansprüche und Strukturen durchbrechen, die unter der regierenden AKP gefestigt werden sollen, und auf den explosionsartigen Anstieg von Methoden der Spezialkriegspolitik lenken.
„Von Gülistan Doku, die in Dersim gewaltsam verschwundengelassen wurde, über Ipek Er, die in Êlih vergewaltigt wurde, bis zu Melek Cuma, die in Efrîn vergewaltigt und hingerichtet wurde – unser organisierter Kampf gilt allen Frauen, die Opfer der männlich-staatlichen Gewalt geworden sind”, erklärte die HDP-Abgeordnete Dersim Dağ zu Beginn der Kundgebung. Um nicht getötet zu werden und mit den eigenen Stimmen und Farben existieren zu können, müssten Frauen in allen Bereichen des Lebens Widerstand leisten, führte die 24-jährige Politikerin weiter aus.
Vorzüge einer „Politik der Straflosigkeit“ für Mörder
Dağ äußerte, dass das AKP-Regime eine „neue Gesellschaftsordnung“ propagiere, die vom Patriarchat beherrscht und mit Religion legitimiert werde. Die Herrschenden wollen die Gesellschaft vollständig an die politische Gestaltung der eigenen Ideologie angliedern, indem sie in jeden einzelnen sozialen Bereich eindringen und diesen unterdrücken. „Die mit diesem Ziel zur Anwendung kommenden Praktiken werden zuallererst an Frauen erprobt. Besonders bei jüngeren Frauen erreichen sie mittlerweile ein ungeheuerliches Ausmaß“, so Dağ. Da sie es aber seien, die sich mit dem Anspruch einer freien Zukunft am stärksten am Kampf gegen sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Kinder beteiligten und sich vom Regime nicht umformen ließen, seien es eben vor allem junge Frauen, die am meisten marginalisiert und Gewalt ausgesetzt werden. Die männlichen Täter würden die Vorzüge einer „Politik der Straflosigkeit“ nutzen, sagte die Parlamentarierin.
Dersim Dağ (r.) als einzige ohne feministischen Hut
Patriarchale Machtansprüche aus jeder Ecke des Lebens entfernen
„Diejenigen, die Frauen isolieren und aus dem Leben drängen wollen und solche, die derzeit von einer Frauenuniversität sprechen, sollten eins jedoch wissen: Wir werden so lange versuchen, unseren Kampf und unsere Organisierung zu stärken, bis wir eure patriarchalen Machtansprüche aus jeder Ecke des Lebens entfernt haben, um jede Hochschule in einen freien und autonomen Bildungsraum zu verwandeln.“ Dağ spielte damit auf die Pläne der AKP-Regierung an, ein Bildungssystem mit Geschlechtertrennung nach japanischem Vorbild einzuführen. Die erste Frauenuniversität wurde bereits für 2021 stolz durch Recep Tayyip Erdoğan angekündigt.
Esengül Kılıç: Wir beugen uns nicht!
„Ob zu Hause, in der Schule, am Arbeitsplatz oder auf der Straße: Das Regime aus AKP und MHP, welches die Emanzipierung der Frauen ablehnt, führt uns überall in eine Spirale der Gewalt. Dieser patriarchalen Mentalität haben wir uns weder gestern gebeugt, noch werden wir es heute oder morgen tun“, sagte Esengül Kılıç von der HDP-Koordination junger Frauen. Die Aktivistin betonte, von der AKP/MHP-Regierung, die Mörder und Vergewaltiger unterstütze, keine Gerechtigkeit zu erwarten. „Wir werden Gerechtigkeit durch Organisierung sicherstellen und mit der Kraft, die wir aus der Geschichte und Gesellschaftlichkeit ziehen, ein freies Leben aufbauen.” Der systematischen Praxis des Feminizids, durch die der weibliche Teil der Gesellschaft an Gewalt und Mord an Frauen gewöhnt und seinen Reflexen beraubt werden soll, werde die Frauenbewegung zu keinem Zeitpunkt freie Durchfahrt gewähren. „Sie werden uns nicht zum Schweigen bringen, ganz im Gegenteil. Von Rojava bis nach Chile: Der Widerstand von uns Frauen wächst mit jedem Augenblick.“
Esengül Kılıç
Eine neue und freie Welt ist möglich
Ihre kämpferische Rede schloss Esengül Kılıç mit folgenden Worten: „Wir werden uns gegen diejenigen stellen, die sexualisierte Gewalt an Kindern durch Kinderehen amnestieren wollen. Wir werden die Suche nach Gülistan Doku nicht aufgeben und unseren Kampf um Gerechtigkeit für Ipek Er solange fortsetzen, bis der Vergewaltiger Musa Orhan verhaftet wird. Wir werden die Säulen der von Männern beherrschten Justiz, die Frauenmörder nicht zur Rechenschaft zieht, niederreißen. Sie versuchen uns durch die strukturelle, formelle und institutionelle Dimension ihrer frauenmörderischen Politik einzuschüchtern. Wir fürchten uns nicht! Wir ziehen unsere Kraft und Entschlossenheit aus dem Anspruch der internationalen Frauenbewegung, nach der das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Frauenrevolution ist. Wir begrüßen die weltweiten Revolutionen von Frauen, die heute in Rojava, Polen, Chile, Iran und im Sudan sowie anderen Teilen rund um den Globus geführt werden. Wir empfinden dasselbe Gefühl wie all diese kämpfenden Frauen und teilen alle die Hoffnung, dass eine neue und freie Welt möglich ist.
„Gegen männlich-staatliche Gewalt - Zeit für eine lila Mobilisierung“
Kämpfende Frauen teilen das gleiche Gefühl von Freiheit
Ob es der Mut der Frauen Rojavas ist, die den aufgezwungenen schwarzen Schleier in die Flammen warfen, die Unerschrockenheit der Frauen Chiles, die mit Las Tesis ‚Der Mörder bist du‘ sagen, die Frauen des Iran, die trotz aller Verbote ihren Kampf um Freiheit nicht aufgeben, die Frauen Polens, die sich das Recht, als Frau über den eigenen Körper, das eigene Leben entscheiden zu dürfen, nicht vom männlichen Staat nehmen lassen, oder die Frauen im Sudan, die das neue Symbol der Freiheit von uns allen wurden: Wir alle teilen das gleiche Gefühl von Freiheit. Deshalb starten wir die Kampagne ‚Auf zur lila Mobilisierung‘. Wir rufen alle Frauen auf, gemeinsam mit uns an diesem Widerstand teilzunehmen. Egal wo wir sind und egal wer wir sind: Es ist Zeit zu demonstrieren, dass eine andere Welt möglich ist.“