Ein türkisches Gericht in der nordkurdischen Stadt Cizîr (Cizre, Provinz Şirnex/Şırnak) hat am Montag Untersuchungshaft gegen einen Arzt und drei Krankenpfleger angeordnet. Die vier Männer waren am vergangenen Freitag bei Razzien von Polizeisondereinheiten festgenommen worden. Ihnen wird „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ vorgeworfen, weil sie 2015 während der Ausgangssperren in Cizîr „Terroristen“ versorgt haben sollen. Gemeint ist ein damals zehnjähriges Kind, das von türkischen Sicherheitskräften verletzt wurde. Dem Gericht sollen entsprechende Videoaufnahmen vorliegen, auf denen die Betroffenen Dr. Nesim S., Şahin E., Abdullah K. und Ahmet T. bei der Ausübung ihres Berufs zu erkennen seien. Mittlerweile befinden sie sich in einem Gefängnis in der Provinzhauptstadt.
Verschiedene Gesundheitseinrichtungen in Şirnex, der Menschenrechtsverein IHD und die Menschenrechtsstiftung Türkei (TİHV) haben die Entscheidung des zuständigen Richters scharft verurteilt. „Unsere Freunde werden dafür bestraft, dass sie für die universellen Prinzipien ethischen Handels eingetreten sind. Das darf nicht akzeptiert werden“, erklärte Serdar Küni, Vorsitzender der örtlichen Ärztekammer, am Abend auf einer Pressekonferenz. Küni erinnerte in dem Zusammenhang an einen Prozess gegen 14 Sanitäter*innen, die während der Belagerung von Cizîr vom Militär daran gehindert wurden, Verletzte in den berüchtigten „Todeskellern“ zu versorgen und anschließend wegen Terrorvorwürfen angeklagt worden waren. Das Verfahren ging vergangenen Dezember zu Ende. Alle Angeklagten wurden freigesprochen.
„Gesundheitspersonal leistet Gesundheitsversorgung, handelt neutral und hilft nach dem Maß der Not auch in Konfliktsituationen - ungeachtet des Glaubens, der ethnischen Zugehörigkeit, des Geschlechts, der Nationalität, des politischen Denkens, der sexuellen Ausrichtung oder anderer Merkmale des Hilfsbedürftigen. Deshalb werden wir uns auch weiterhin für das Recht der Menschen auf Gesundheit und die Werte der Medizin einsetzen, um für das Leben gegen den Tod und für den Frieden gegen den Krieg einzutreten“, erklärte Küni.
Was geschah damals in Cizîr?
Am 4. September 2015 verhängte die türkische Regierung über Cizîr eine erste Ausgangssperre. Es war die erste einer langen Kette von Ausgangssperren. Während dieser ersten Ausgangssperre griff der türkische Staat mit allen Kräften, die ihm dabei zur Verfügung standen, bis an die Zähne mit konventionellen Waffen bewaffnet neun Tage lang die Stadt an. Eine Gruppe Jugendlicher stellte sich ihnen damals entgegen. 21 Tote, Dutzende Verletzte und hunderte zerstörte Häuser hatte der neuntägige Angriff auf Cizîr zur Folge. Der Widerstand der Bevölkerung und die Reaktion der Öffentlichkeit führte dazu, dass die erste Ausgangssperre dieser Art nur neun Tage andauerte und es den Kräften des Staates, trotz des Einsatzes aller Art schwerer Waffen, nicht gelang, in die Gebiete, die sich im Widerstand befanden, einzudringen.
Am 14. Dezember 2015 wurde über die Kreisstadt erneut eine Ausgangssperre verhängt, die erst am 1. März 2016 wieder vollständig aufgehoben wurde. Bei den 79 Tage währenden Kämpfen starben 66 Mitglieder der zivilen Verteidigungseinheiten (YPS) und 213 Zivilist*innen. Über 150 Menschen wurden in den Stadtteilen Cudi und Nur vor den Augen der Weltöffentlichkeit in den berüchtigten Todeskellern bei lebendigem Leib verbrannt.
„Seid stolz auf uns“
Tausende Menschen mussten Cizîr aufgrund der Angriffe verlassen, Tausende Gebäude wurden zerstört. Unvergessen sind die letzten Worte von Mehmet Tunç, des Ko-Vorsitzenden des Volksrates von Cizîr, der in einem Keller im Stadtteil Cudi ermordet wurde: „Wir ergeben uns nicht. Das sollten alle wissen. Wir werden nicht mit weißen Fahnen nach draußen gehen. Im Moment warten wir auf den Tod. Es ist ein Kampf. Meine Worte richten sich an das kurdische Volk. Das hier ist ein Kampf. Richtig, es ist ein Weg, für den man einen langen Atem braucht. Wir alle wissen, dass diese Bewegung nicht mit dem Tod von 100 Menschen enden wird. Alle sollten sich ihre Moral bewahren. Niemand sollte zweifeln. Ich grüße alle, die weiter kämpfen. Die Bevölkerung von Czîr hat sich seit 60 Tagen trotz Kälte, Hunger und Durst nicht in die Knie zwingen lassen. Daher müssen die Überlebenden stolz auf uns sein. Wir lassen uns nicht beugen.“
„Rechtlich nicht zu beanstanden“
Viel später gaben die UN eine Erklärung ab, in der auf Augenzeugenberichte verwiesen wurde, die die Verbrennung von über 100 Menschen belegen. Inzwischen sind fast vier Jahre vergangen. Niemand ist für diese Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wurden. Auf internationaler Ebene wurden lange Zeit lediglich Berichte erstellt. Eine Strafanzeige von Angehörigen der Opfer bei der Staatsanwaltschaft Cizre endete mit der Einstellung des Verfahrens. Die Staatsanwaltschaft vertrat die Ansicht, dass die Ermordung Dutzender Menschen durch Verbrennung bei lebendigem Leib rechtlich nicht zu beanstanden sei. Die staatlichen Sicherheitskräfte hätten lediglich auf der Basis legitimer Selbstverteidigung gehandelt, es gebe keine Hinweise darauf, dass dabei eine Grenze überschritten worden sei. In der Begründung für die Einstellung des Strafverfahrens beruft sich die Staatsanwaltschaft auf Aussagen geheimer Zeugen.
Nicht identifizierbare Leichen
Die Rechtsanwält*innen der Hinterbliebenen widersprachen dem Einstellungsbeschluss und wiesen darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft keine Untersuchungen vor Ort angestellt habe. Laut einem Bericht der HDP wurden aus den zerstörten Gebäuden 177 Leichen geborgen, darunter 23 Kinderleichen. Bei 103 Leichen konnte die Identität festgestellt werden. 74 Leichname wurden ohne vorherige Identifizierung beigesetzt, weil sie vollständig verbrannt oder bis zur Unkenntlichkeit entstellt waren. Nach der Aufhebung der Ausgangssperre beteiligte sich Prof. Dr. Şebnem Korur Fincancı, eine in der Türkei bekannte Gerichtsmedizinerin und Hessische Friedenspreisträgerin, an den Untersuchungen vor Ort und identifizierte die Knochen eines verbrannten Kindes. Zur Einstellung des Strafverfahrens erklärte sie: „Der Staatsanwalt hat diese Keller niemals betreten. Er hat nicht ordentlich ermittelt und damit seinen Auftrag missachtet.“
EGMR weist Klage zu Todeskellern von Cizîr ab
Im Februar dieses Jahres wies nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Klage über die Rechtsverletzungen türkischer Sicherheitskräfte während der Ausgangssperre in Cizîr wegen Nichtzuständigkeit ab. Die Straßburger Richter befassten sich inhaltlich nicht mit der Klage und entschieden, dass zunächst der nationale Rechtsweg ausgeschöpft werden müsse. Es seien noch zwei Klagen beim Verfassungsgericht anhängig und diese müssten abgewartet werden, bevor sich der EGMR mit dem Fall befassen könne. Außerdem stünde den Klägern ebenfalls der Gang zum türkischen Verfassungsgericht offen.
Bei den Verfahren ging es um die Fälle von Ömer Elçi und Orhan Tunç. Orhan Tunç war 2015 von Sicherheitskräften angeschossen worden. Da der Krankenwagen nicht zu ihm durchgelassen wurde, erlag er seinen Verletzungen. Beide Anträge wurden vom EGMR von 35 Anträgen als Pilot-Verfahren ausgewählt. Dieses Verfahren trifft für einen Pilot-Fall eine Musterentscheidung, der Vorbild für unzählige rechtlich gleichgelagerte Fälle bildet, die dann in einem beschleunigten Verfahren beim EGMR entschieden werden.
Die Verteidigung argumentierte mit der Rechtswidrigkeit des Einsatzes von Kriegsmitteln in Wohngebieten, wie es in Cizîr geschehen ist. Die Klage beruhte auf der Verletzung des in der Internationalen Konvention der Menschenrechte geschützten Rechts auf Leben, dem vollständigen Fehlen einer unabhängigen Untersuchung des Todes von Orhan Tunç sowie dem Verstoß gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung und dem Recht auf Privatleben im Zusammenhang mit den Ausgangssperren.
Lebenslange Haft für Überlebende von Cizîr
Helin Öncü, eine während der Ausgangssperren 20-jährige Studentin, überlebte das Massaker von Cizîr. Am 21. Januar 2016 wurde sie in Cudi angeschossen. Drei Frauen, darunter auch Asya Yüksel, die damalige Ko-Vorsitzende des Volksrates von Cizîr, die später in einem der Keller verbrannte, eilten ihr unter einem Kugelhagel zur Hilfe. Durch eine einstweilige Verfügung des EGMR, die vom Rechtsanwalt Ramazan Demir erwirkt worden war, damit Öncü medizinische Hilfe erhält, konnte sie in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Nach ihrer Entlassung wurde die junge Frau vorübergehend festgenommen und angeklagt. Der Vorwurf: „Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates”. Zwei Monate später wurde auch ihr Verteidiger zur Fahndung ausgeschrieben und in Istanbul verhaftet. Weil sich Demir wegen der Vergehen gegen das Recht auf Leben und der Aushebelung jeglichen Rechts während der Ausgangssperre in Cizîr an das Verfassungsgericht und an den EGMR gewandt hatte, warf ihm der Istanbuler Generalstaatsanwalt vor, das „internationale Ansehen der Türkei gefährdet“ zu haben. Nach fünf Monaten in Untersuchungshaft wurde Demir im September 2016 aus dem Gefängnis entlassen.
Der Prozess gegen Helin Öncü fand Anfang Juli vor dem 2. Schwurgericht in Şirnex statt. Ohne einen einzigen Beweis dafür, die „Sicherheit der Türkei gefährdet“ zu haben, wurde die 23-Jährige in Abwesenheit zu einer erschwerten lebenslangen Haft verurteilt, die nach gültiger Rechtsprechung bis zum physischen Tod dauert. Öncü, die bei den Kommunalwahlen am 31. März für die HDP in den Stadtrat von Qoser (Kızıltepe) gewählt wurde, muss mit dem Urteil gerechnet haben: Einen Tag nach der Verhandlung wurde sie in der westtürkischen Provinz Edirne verhaftet. Sie hatte versucht, über den Grenzfluss Mariza (Evros) nach Griechenland zu fliehen. Mittlerweile sitzt sie im Frauengefängnis von Edirne.