Im November wurde die türkische Ärztin und Vorsitzende der Menschenrechtsstiftung TIHV Dr. Şebnem Korur Fincancı mit dem Hessischen Friedenspreis ausgezeichnet. Am Mittwoch ist sie in der Türkei wegen „Terrorpropaganda“ zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt worden. Fincancı ist Mitglied der Initiative „Akademiker*innen für den Frieden“. Die Initiative hatte sich im Januar 2016 mit der Petition „Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein“ gegen die Belagerung nordkurdischer Städte durch das türkische Militär gewendet. Zum Zeitpunkt der Petition dauerte die im Juni 2015 begonnene Offensive gegen die kurdische Zivilbevölkerung bereits mehr als sechs Monate und hatte zahlreiche Todesopfer gefordert. Die Regierung sieht in den Vorwürfen der Petition terroristische Propaganda und eine Beleidigung des Staates.
International führende Expertin zur Folter-Dokumentation
Dr. Şebnem Korur Fincancı ist Professorin für Forensik an der Universität Istanbul. Die international führende Expertin zur Folter-Dokumentation setzt sich seit vielen Jahren unter schwierigsten politischen Bedingungen für die Dokumentation von Folter und die Rehabilitation von Folteropfern ein. Außerdem ist sie Mitverfasserin des „Istanbul-Protokolls“, das als internationales Standardwerk der Vereinten Nationen zur Untersuchung und Dokumentation von Folter weltweit anerkannt ist.
Einsatz in Cizîr
Im Zuge der Militärbelagerung wurde am 14. Dezember 2015 über die Kreisstadt Cizîr (Provinz Şirnex/Şırnak) eine Ausgangssperre verhängt, die erst am 1. März 2016 wieder vollständig aufgehoben wurde. Bei den 79 Tage währenden Kämpfen starben 66 Mitglieder der zivilen Verteidigungseinheiten (YPS) und 213 Zivilist*innen. Der Staat ging mit Panzern, Raketen und Bomben gegen den Widerstand der Bevölkerung vor. Über 150 Menschen wurden in den Stadtteilen Cudi und Nur vor den Augen der Weltöffentlichkeit bei lebendigem Leib verbrannt.
Dr. Şebnem Korur Fincancı beteiligte sich nach der Aufhebung der Ausgangssperre an den Untersuchungen vor Ort, was ihr von der Anklage ebenfalls zum Vorwurf gemacht wurde. Unter ihrer Leitung hatte eine Ärztedelegation der Menschenrechtsstiftung einen Bericht über die schweren Menschenrechtsverletzungen der türkischen Sicherheitskräfte in Cizîr verfasst. Die dort beschriebenen Menschenrechtsverletzungen wurden auch von der Menschenrechtsorganisation Physicians for Human Rights verifiziert und in einem Memorandum der EU-Menschenrechtskommission bestätigt.
Fincancı: Im Gefängnis kann ich endlich Untersuchungen durchführen
Für diese Verbrechen wurde in der Türkei niemand zur Rechenschaft gezogen. Am 13. November wurde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) über die Rechtsverletzungen während der Ausgangssperre verhandelt. Das Urteil steht noch aus.
Das Urteil gegen Şebnem Korur Fincancı ist noch nicht rechtskräftig. Nach der Verkündung erklärte sie, es sei kein Problem, ins Gefängnis zu gehen. Im Gegenteil, sie sehe es sogar als eine Chance an: „Der Staat gewährt uns zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, keinen Zugang in die Gefängnisse. Nun bekomme ich quasi als ‚amtliche Inspekteurin‘ Zutritt für meine Untersuchungen“.