Cîzre: Zwei Jahre danach

Zwei Jahre sind seit dem Erlass der Ausgangssperre in Cîzre am 14. Dezember 2015 vergangen. Cîzre hat Widerstand geleistet, die Weltöffentlichkeit hat zugeschaut.

Vor zwei Jahren wurde in der Kreisstadt Cîzre in der Provinz Şirnex eine Ausgangssperre verhängt, die erst am 1. März 2016 wieder vollständig aufgehoben wurde. Bei den 79 Tage währenden Kämpfen starben 66 Mitglieder der zivilen Verteidigungseinheiten (YPS) und 213 Zivilist*innen. Der Staat ging mit Panzern, Raketen und Bomben gegen den Widerstand der Bevölkerung vor. Über 150 Menschen wurden in den Stadtteilen Cudi und Nur vor den Augen der Weltöffentlichkeit bei lebendigem Leib verbrannt.

„Seid stolz auf uns“

Tausende Menschen mussten die Stadt aufgrund der Angriffe verlassen, Tausende Gebäude wurden zerstört. Unvergessen sind die letzten Worte von Mehmet Tunç, des Ko-Vorsitzenden des Volksrates von Cîzre, der in einem Keller im Stadtteil Cudi ermordet wurde: „Wir ergeben uns nicht. Das sollten alle wissen. Wir werden nicht mit weißen Fahnen nach draußen gehen. Im Moment warten wir auf den Tod. Es ist ein Kampf. Meine Worte richten sich an das kurdische Volk. Das hier ist ein Kampf. Richtig, es ist ein Weg, für den man einen langen Atem braucht. Wir alle wissen, dass diese Bewegung nicht mit dem Tod von 100 Menschen enden wird. Alle sollten sich ihre Moral bewahren. Niemand sollte zweifeln. Ich grüße alle, die weiter kämpfen. Die Bevölkerung von Cîzre hat sich seit 60 Tagen trotz Kälte, Hunger und Durst nicht in die Knie zwingen lassen. Daher müssen die Überlebenden stolz auf uns sein. Wir lassen uns nicht beugen.“

„Rechtlich nicht zu beanstanden“

Viel später gaben die UN eine Erklärung ab, in der auf Augenzeugenberichte verwiesen wurde, die die Verbrennung von über 100 Menschen belegen. Inzwischen sind zwei Jahre vergangen. Niemand ist für dieses Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wurden. Auf internationaler Ebene wurden lediglich Berichte erstellt. Eine Strafanzeige von Angehörigen der Opfer bei der Staatsanwaltschaft Cîzre endete mit der Einstellung des Verfahrens. Die Staatsanwaltschaft vertrat die Ansicht, dass die Ermordung Dutzender Menschen durch Verbrennung bei lebendigem Leib rechtlich nicht zu beanstanden sei. Die staatlichen Sicherheitskräfte hätten lediglich auf der Basis legitimer Selbstverteidigung gehandelt und es gebe keine Hinweise darauf, dass dabei eine Grenze überschritten worden sei. In der Begründung für die Einstellung des Strafverfahrens beruft sich die Staatsanwaltschaft auf Aussagen geheimer Zeugen.

Nicht identifizierbare Leichen

Die Rechtsanwält*innen der Hinterbliebenen widersprachen dem Einstellungsbeschluss und wiesen darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft keine Untersuchungen vor Ort angestellt habe. Laut einem Bericht der HDP wurden aus den zerstörten Gebäuden 177 Leichen geborgen, darunter 23 Kinderleichen. Bei 103 Leichen konnte die Identität festgestellt werden. 74 Leichname wurden ohne vorherige Identifizierung beigesetzt, weil sie vollständig verbrannt oder bis zur Unkenntlichkeit entstellt waren. Nach der Aufhebung der Ausgangssperre beteiligte sich Prof. Dr. Şebnem Korur Fincancı, eine in der Türkei bekannte Gerichtsmedizinerin, an den Untersuchungen vor Ort und identifizierte die Knochen eines verbrannten Kindes. Zur Einstellung des Strafverfahrens erklärte sie: „Der Staatsanwalt hat diese Keller niemals betreten. Er hat nicht ordentlich ermittelt und damit seinen Auftrag missachtet.“

In der Zeit der Kämpfe starben auch 161 Soldaten und Polizisten, 117 wurden verletzt.

Wohnungsbau auf Leichen

Nach Aufhebung der Ausgangssperre im Frühjahr 2016 erhielt die staatliche Wohnungsbaubehörde TOKI den Auftrag der AKP-Regierung, die durch den Beschuss mit schweren Waffen beschädigten Gebäude abzureißen und neue Unterkünfte zu bauen. Der erste Spatenstich im Viertel Cudi begann, bevor alle Leichen geborgen werden konnten. Für TOKI wurde Cîzre zu einem Ort ungeahnter Profite. Die Baufirma Biskon Yapı İnşaat erhielt einen Zuschlag über 105 Milliarden TL für den Bau von 604 Unterkünften und 120 Handelssitzen.

In jeder Straße eine Polizeiwache

Nach der Verteilung der Profite in der zerstörten Stadt begann die AKP-Regierung mit der Errichtung von Sicherheitsposten im Stadtzentrum. Fast jede Straße bekam eine eigene Polizeistation. Darüber hinaus wurde Cîzre zum Pilotgebiet für die Einführung von Nachtwachen auserwählt. In der immer noch unter Polizeibelagerung stehenden Stadt wurde mit der Umwandlung von Schulen in Polizeistationen und den in allen Stadtvierteln errichteten Gebäuden der Sondereinsatzkräfte der Ausnahmezustand zum Dauerzustand gemacht. Unter dem dadurch entstandenen psychischen Druck leiden vor allem Frauen und Kinder.

Spitzelanwerbung unter Jugendlichen

In den am stärksten zerstörten Vierteln Cudi und Nur sind Frauen seit Monaten verbalen und körperlichen Übergriffen der Sicherheitskräfte ausgesetzt. Die Jugendlichen hingegen werden von Polizisten, die sich als Zugehörige einer nachrichtendienstlichen Polizeieinheit vorstellen, zur Spitzeltätigkeit gedrängt. Für den Spitzeldienst werden vornehmlich Jugendliche ausgewählt, die Angehörige während des Ausnahmezustands verloren haben. Wie Betroffene mitteilen, wird ihnen mit Festnahme und Folter gedroht, wenn sie die Spitzeltätigkeit ablehnen.

Wachtürme auf Schulen

In Kuştepe in strategischer Nähe zum Stadtzentrum wurden sieben Gymnasien gebaut. Das Besondere an diesen Schulen ist die architektonische Ähnlichkeit mit den überall errichteten Sicherheitsposten. Auf den Dächern der neu gebauten Schulen, von denen man die gesamte Umgebung beobachten kann, wurden Wachtürme errichtet.

Korankurse statt muttersprachlichem Unterricht

In Cîzre wird auf den Straßen kurdisch gesprochen. Seit Beendigung des Ausnahmezustands werden überall Türkisch-, Arabisch- und Korankurse angeboten. Alle kurdischen Schulen und Kindergärten mit einem muttersprachlichen Angebot sind geschlossen worden. Ihre Räumlichkeiten wurden von dem städtischen Zwangsverwalter den AKP-Frauen sowie der Hür Dava Partei für Religionsunterricht zur Verfügung gestellt.

JINNEWS