In den letzten Jahren sind die Kurdinnen und Kurden immer öfter ins Blickfeld der deutschen Öffentlichkeit gerückt – besonders nach dem Kampf der YPG und YPJ gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) in Syrien, aber auch im Hinblick auf die politischen Entwicklungen in der Türkei. Ein entsprechendes Echo in der deutschen Politik fand diese mediale Aufmerksamkeit bisher jedoch so gut wie nicht. Die Bundesregierung tut sich aufgrund der historischen Beziehungen Deutschlands mit der Türkei schwer, eine klare Position zur „kurdischen Frage“ zu beziehen und ihren Umgang mit der kurdischen Bevölkerung anzupassen. Der Co-Vorsitzende der Partei Die Linke, Martin Schirdewan, ortet Jongliertricks. Der Politiker, der auch Co-Vorsitzender der Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament – GUE/NGL ist, wirft der Bundesregierung vor, Menschenrechte und Demokratie zu verraten. Gözde Güler von der Tageszeitung Yeni Özgür Politika hat mit Martin Schirdewan gesprochen.
Die Bundesregierung hat eine harte Haltung, wenn es um das Thema Rojava geht. Warum? Es ist eine politische Frage, deshalb möchte ich es nicht moralisieren, jedoch ist die Haltung der Regierung, Politik und der Bevölkerung sehr zurückhaltend und kalt. Liegt es an der engen Beziehung Deutschlands zur Türkei oder gibt es andere Gründe, die man in Betracht ziehen muss?
Die Bundesregierung taktiert, um den NATO-Partner Türkei nicht zu sehr gegen sich aufzubringen. Man hat Sorge, dass sich die Türkei in der Region andere Bündnispartner sucht und damit Europa und ganz konkret Deutschland Einfluss in der Region verlieren. Es geht da um Handelspartner, Bodenschätze und militärisch verstandene Sicherheitspolitik. Hinzu kommt, dass Erdogan als „Türsteher Europas“ die EU und besonders Deutschland mit der Drohung erpresst, flüchtende Menschen nach Europa durchzulassen.
Die Bundesregierung verrät hier die Werte, die sie zu verteidigen vorgibt. Menschenrechte und Demokratie sind für sie zweitrangig gegenüber handfesten Interessen. Ich möchte das schon ein bisschen moralisieren, weil es nämlich eine Entscheidung ist gegen den Weg einer friedlicheren und menschenrechtsbasierten Politik, den man auch gehen könnte und der viele der bestehenden Probleme besser und humaner lösen könnte. Aber dafür fehlt den Verantwortlichen der Mut oder der Wille.
Bevor die Grünen an die Macht kamen, kritisierten sie die Bundesregierung beim Thema Rojava. Möglich, dass einige von ihnen immer noch eine kritische Haltung in dieser Frage haben, aber im Allgemeinen halten die Grünen sich innerhalb der politischen Grenzen der Bundesregierung. Die von Außenministerin Annalena Baerbock propagierte feministische Außenpolitik bleibt derweil eine Worthülse, wenn kurdische Kämpferinnen, die im Widerstand gegen den IS sind, durch türkische Drohnen ermordet werden. Wie soll man diese ambivalente Haltung verstehen? Welche Ziele werden damit verfolgt?
In der Widersprüchlichkeit zwischen postulierten Werten und Regierungspolitik haben es die Grünen in Deutschland zur Meisterschaft gebracht. Annalena Baerbock hat dabei ihre Rolle als Außenministerin voll angenommen, und damit auch die Logik des Taktierens. So hat sie zum Beispiel im Irak den Kurden deutsche Hilfe beim Wiederaufbau zugesichert und die Souveränität des Iraks betont, hält sich aber mit Äußerungen gegenüber der Türkei zurück, die diese Souveränität regelmäßig verletzt, und ebenso mit Solidaritätsbekundungen zu Rojava. Ganz offensichtlich ist der deutschen Bundesregierung das Bündnis mit Erdogans Türkei wichtiger. Dafür sind sie dann auch notfalls bereit, Rojava zu opfern.
Welche Schritte sollte die Bundesregierung hinsichtlich Rojava unternehmen? Was empfiehlt ihre Partei? Und wie sehen die Reaktionen aus, wenn Sie entsprechende Empfehlungen aussprechen?
Als Partei Die Linke stehen wir solidarisch an der Seite der Kurdinnen und Kurden und unterstützen die Forderungen nach politischer Selbstbestimmung. Meine Co-Vorsitzende war im Februar vergangenen Jahres zu Besprechungen mit der HDP in Diyarbakir, als die Region vom Erdbeben erschüttert wurde, ich selbst habe mich kürzlich mit Tülay Hatimoğulları von der Nachfolgepartei DEM getroffen und zur Situation verständigt.
Wir fordern als Die Linke eine klare Ansage der Bundesregierung in Richtung Türkei. Diese muss ihre Angriffe einstellen und die völkerrechtswidrige Besetzung beenden. In diesem Zusammenhang fordern wir von der Bundesregierung einen Stopp der Waffenlieferungen an die Türkei und die Aufhebung des PKK-Verbots in Deutschland. Wenn eine Lösung der Kurdenfrage gefunden werden soll, müssen sich Kurdinnen und Kurden frei von Kriminalisierung auch in Europa und Deutschland bewegen und politisch betätigen können.
Für Rojava selbst fordern wir humanitäre Hilfe und Unterstützung beim Wiederaufbau. Außerdem fordern wir, dass Deutschland IS-Anhänger mit deutscher Staatsbürgerschaft zurücknimmt und in Deutschland vor Gericht stellt.
Als Antwort auf unsere Anfragen an die Bundesregierung im Bundestag kamen immer ausweichende Antworten. Zwar stellte die Regierung heraus, dass sie der Türkei regelmäßig nahelegen würde, ihre Interessen politisch und nicht militärisch durchzusetzen. Aber das scheint Erdogan nicht sonderlich zu interessieren. Hier müsste die Regierung mit deutlich mehr Nachdruck vorgehen.
Die Ergebnisse der Europawahl haben gezeigt, dass Länder wie Spanien, Portugal, Schweden nach links rutschten, während auf EU-Ebene maßgebende Länder wie Frankreich, Deutschland und Österreich deutlich nach rechts gerückt sind. Wie bewerten Sie die Ergebnisse?
Zunächst einmal zeigt es uns, dass aus linker Sicht Hoffnung für Europa besteht. Es gibt in der Gesamttendenz eine Rechtsverschiebung, aber im Detail stellt sich das differenzierter dar. In Frankreich und Deutschland waren die Europawahlen vor allem eine Wahl gegen die eigene nationale Regierung, wovon leider die rechten Kräfte profitiert haben. Auch in Spanien haben die linken Parteien insgesamt schlechter abgeschnitten als erwartet. In Finnland hingegen hat der Linksbund mit 17,4 Prozent ein großartiges Ausnahmeergebnis erzielt. Auch in Ländern wie Dänemark gab es Erfolge. In Frankreich konnten die linken Kräfte sich nicht auf einen gemeinsamen Wahlantritt einigen, angesichts dessen ist das Ergebnis von France Insoumise mit neun Sitzen beachtlich. Die Hintergründe werden wir genauer analysieren müssen, auch um daraus zu lernen und zu schauen, was wir selbst zukünftig besser machen können.
Die Linke hat bei dieser Wahl deutlich an Stimmen verloren. Wie sehen Sie die zukünftige Perspektive der Linken?
Die Lage ist extrem schwierig. Wir haben uns im Wahlkampf auf Umverteilung und soziale Gerechtigkeit konzentriert, unsere Kernthemen, um nach dem Wirbel um die Abspaltung unser Profil als linke sozialistische Partei wieder klar erkennbar zu machen. Das dominante Thema im Wahlkampf war aber der Krieg in der Ukraine und die Aufrüstung der Bundeswehr. Dazu haben wir selbstverständlich Antworten, aber offensichtlich keine, die uns in der aktuellen Situation viele Stimmen gebracht hätten. Ich bin aber davon überzeugt, dass Die Linke das Potential hat, gestärkt zurückzukommen. Wir haben rund 50.000 sehr engagierte Mitglieder, und über 6.000 davon sind gerade jetzt, in dem krisenhaften letzten halben Jahr, zu uns gekommen, weil sie die Partei, die wir heute sind, für wichtig halten und stärken wollen. Wir haben schon in der ersten Hälfte des letzten Jahres, als absehbar wurde, dass wir harten Zeiten entgegengehen, begonnen, in langen Zeitlinien zu planen. Darauf werden wir jetzt aufbauen.
Die Linke steht hin und wieder in der Kritik, weil sie nicht mehr die Arbeiterklasse vertreten würde, sondern die Elite. Ebenfalls wird sie kritisiert, weil sie keine klare Haltung in Bezug auf die NATO und den Krieg zwischen der Ukraine und Russland zeige. Pflegt die Linke ihre Tradition als die Partei der Arbeiter und der Alternative zur aktuellen Politik nicht mehr?
Diese Kritik kam immer wieder aus derselben Ecke, und zwar von denen, die zum Jahreswechsel unter Absingen schmutziger Lieder das gemeinsame Schiff verlassen haben. Sie wollten damit unsere Partei von innen heraus schwächen, ehe sie ihr eigenes Konkurrenzprojekt gründeten. Das ist ihnen leider gelungen. Es ist sehr schwer, für eine Partei der Arbeiterklasse, in der Öffentlichkeit zu überzeugen, wenn ständig aus den eigenen Reihen behauptet wird, man habe die Arbeiter vergessen.
Die sozialen Themen waren immer die Kernthemen der Partei die Linke, das, was wir ins Zentrum stellen und fokussiert bearbeiten, und daran hat sich nichts geändert. Mit Blick auf die internationalen militärischen Konflikte haben wir eine sehr klare Haltung: Wir messen nicht mit zweierlei Maß. Wir verteidigen das Völkerrecht und stehen an der Seite der Menschen, die Opfer von Krieg und Vertreibung werden. Die NATO ist Teil des Problems, weil sie ausschließlich auf militärische Überlegenheit setzt und die Interessen der sie dominierenden Staaten, vor allem der USA, prinzipienlos durchsetzt. Wir als Linke stehen für eine Friedenspolitik, die auf Diplomatie und präventive Konfliktbearbeitung setzt.
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