Seit 22 Monaten gibt es kein Lebenszeichen vom auf der Gefängnisinsel Imrali totalisolierten kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan. Im ANF-Gespräch äußert sich Öcalans Bruder Mehmet Öcalan über die aktuellen Entwicklungen.
Mehmet Öcalan betont, dass sich sein Bruder in einem völlig rechtsfreien Raum befinde. Die Isolation habe ein „unbeschreibliches Ausmaß“ erreicht. Der Grund dafür sei, dass der türkische Staat nicht bereit ist, die kurdische Frage zu lösen. Mehmet Öcalan sagt: „Als jemand, der am häufigsten an den Besuchen auf Imrali teilgenommen hat, kann ich sagen, dass Abdullah Öcalan seit über 22 Jahren versucht, die kurdische Frage in der Türkei auf demokratische Weise zu lösen. Aber der Staat und die Regierung wollen das nicht, denn sie profitieren vom Fehlen einer Lösung. Sie halten sich dadurch am Leben.“
Mehmet Öcalan unterstreicht, dass sein Bruder gegen den systematischen Rechtsbruch Widerstand leiste und dass er dies in einem aus unbekannten Gründen nach wenigen Minuten unterbrochenen Telefongespräch vor zwei Jahren deutlich zum Ausdruck gebracht habe. Öcalan fügt an: „Abdullah Öcalan hat am Telefon deutlich unterstrichen, dass, wenn es in der Türkei ein Gesetz gibt, dieses auch auf ihn angewendet werden müsste. Er fragte, wer mich geschickt habe, und sagte, im rechtlichen Rahmen müsse zuerst ein Gespräch mit seinen Anwältinnen und Anwälten stattfinden. Er sagte: ‚Ihr handelt falsch und der Staat handelt falsch.‘ Während ich meine Gründe erläuterte, wurde das Telefonat plötzlich unterbrochen.“
Wenn die Gerüchte stimmten, dass sein Bruder nicht mit dem Antifolterkomitee des Europarats (CPT) bei dessen letztem Türkei-Besuch im September gesprochen habe, sei dies als Protest gegen die systematisch gewordene Isolationspolitik zu verstehen, so Mehmet Öcalan: „Wenn Abdullah Öcalan sich nicht mit dem CPT getroffen hat, ist dies eine Form des Widerstands und eine berechtigte Reaktion. Denn Europa, die USA und die anderen Mächte sind auch für das Spezialsystem auf Imrali verantwortlich.“
„Die Opposition hat ihren Anteil an der Isolation“
Auch die Opposition um die CHP trage Mitverantwortung beim Rechtsbruch auf Imrali, erklärt Mehmet Öcalan und kritisiert, dass sie zwar immer von „Rechten, Gesetz und Gerechtigkeit“ reden, aber kein Wort über Imrali verlieren. Die Wurzel des Problems liege in dieser Doppelmoral. Er führt aus: „Von den vier Personen auf Imrali hat man seit bald zwei Jahren nichts mehr gehört. Sie können ihre gesetzlich garantierten Rechte nicht nutzen. Sie können sich nicht mit ihren Angehörigen und ihrem Rechtsbeistand treffen. Wenn es um Polemik und Spekulationen über Abdullah Öcalan geht, äußern sich Regierung und Opposition, wenn es aber um die Rechtlosigkeit auf Imrali geht, verlieren sie kein Wort. Auch die so genannten oppositionellen Fernsehsender bringen dieses Thema nicht auf die Tagesordnung. Das ist das Problem. Es ist hässlich und beschämend.“
Mehmet Öcalan betont, dass die Opposition mit ihrem Schweigen zu diesem Thema der Regierung dient und sich daher das Unrecht immer weiter verbreite. Das sei an der Politik der Ernennung von Zwangsverwaltern in den von der HDP regierten Kommunen zu sehen. Auch hier habe die Hauptopposition keinen Ton von sich gegeben. Nun sei die CHP jedoch selbst in Istanbul davon bedroht.
„Der Schlüssel zur Lösung ist Öcalan“
Mehmet Öcalan unterstreicht, die kurdische Frage gehe über die Türkei hinaus. Sein Bruder habe immer wieder zu Gesprächen für eine Lösung aufgerufen. Mehmet Öcalan fordert, die Tore von Imrali müssen umgehend geöffnet werden: „Das wichtigste Problem der Türkei ist die kurdische Frage. Wenn dieses Problem im Jahr 2023 gelöst wird, können sowohl die demokratischen als auch die politischen und wirtschaftlichen Probleme gelöst werden. Wenn die Tore von Imrali geöffnet werden, wird die kurdische Frage demokratisch gelöst. Dies gilt sowohl für die derzeitige Regierung als auch für die Opposition, die an die Macht kommen will. Abdullah Öcalan ist der Schlüssel zur Lösung. Die Tore von Imrali müssen so schnell wie möglich geöffnet werden.“