Die freie Advokatur in der Türkei befindet sich weiterhin im Fadenkreuz der Justiz. Ein Gericht in Istanbul hat Meldeauflagen gegen zwei Rechtsanwälte verhängt, die unter Terrorismusverdacht stehen sollen. Es handelt sich um Naim Eminoğlu und Doğa İncesu, die Mitglieder der Vereinigung progressiver Jurist:innen (ÇHD) sind. Seit Dienstag befanden sie sich in Polizeihaft im als Folterzentrum berüchtigten Präsidium Vatan, nachdem sie zuvor bei einer Wohnungsdurchsuchung durch die polizeiliche Antiterroreinheit festgenommen worden waren. Erst am Mittwoch durften sie einen rechtlichen Beistand bekommen. Bis dahin war eine Kontaktsperre in Kraft, innerhalb derer sie keine Möglichkeit auf eine juristische Vertretung hatten.
Der Grund: Die Generalstaatsanwaltschaft Istanbul beschuldigt die ÇHD-Anwälte der „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“. Am Freitag stellte die Behörde bei der zuständigen Strafkammer einen Antrag auf Erteilung eines Haftbefehls gegen Eminoğlu und İncesu. Diesen verwarf das Gericht, ordnete dafür polizeiliche Meldeauflagen an – als „Präventivmaßnahme zur Gefahrenabwehr“. Der Mechanismus gilt als Alternative zur Haft und wird von der türkischen Justiz exzessiv ausgeschöpft, um unliebsame Personen unter Kontrolle zu halten. Grundlage ist das 2013 in Kraft getretene Gesetz zur „Freilassung unter Kontrolle“. Besonders betroffen sind Menschen aus Opposition und Zivilgesellschaft.
Seit dem Abend sind Eminoğlu und İncesu zwar wieder auf freiem Fuß. Allerdings müssen sie sich nun regelmäßig bei der Polizei melden und dürfen das Land nicht verlassen. Ob und wann Anklage gegen sie erhoben wird, ist noch unklar. Die ÇHD verurteilte das Vorgehen gegen ihre Mitglieder und die freie Anwaltschaft im Allgemeinen derweil als „Lawfare” – also Kriegsführung mit juristischen Mitteln. Der Staat mache sich die Justiz untertan, um politische Gegner:innen zu verfolgen, ihr Ansehen zu zerstören und sie faktisch aus dem Weg zu räumen, erklärte die Istanbuler Sektion der ÇHD bereits am Donnerstag auf einer Pressekonferenz. „Unsere anwaltliche Arbeit wird als Mitgliedschaft in einer ‚verbotenen Organisation‘ und ‚Terrorismus‘ kriminalisiert”, sagte ein Sprecher des Vereins. Die Mitwirkung regierungsnaher Medien an dieser Kriegsführung durch entsprechende Schmutzkampagnen trage zusätzlich dazu bei, die Jurist:innen mit dem Ziel der Unschädlichmachung zu stigmatisieren. „Das werden wir nicht zulassen.“
Staatliche Repression gegen ÇHD
Die in den 1970er Jahren gegründete Vereinigung ÇHD steht seit Jahrzehnten im Fokus der türkischen Repressionsbehörden. Ihre Mitglieder sind bekannt für ihren Kampf bei der Durchsetzung von Menschen- und Bürgerrechten und übernehmen vorwiegend politische Mandate, auch bei Prozessen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen die Türkei. Der ÇHD-Vorsitzende Selçuk Kozağaçlı etwa, der seit 2017 wegen „Terrorismus“ im Gefängnis ist, vertrat vor seiner Haft die Angehörigen des 54-jährigen Metin Lokumcu, der 2011 bei Protesten gegen Recep Tayyip Erdoğans Wahlkampfveranstaltungen in der Schwarzmeerküstenregion getötet wurde, als die Polizei Tränengas einsetzte. Außerdem engagierte er sich im Fall des 15-jährigen Berkin Elvan, der bei den Gezi-Protesten 2013 von einer Tränengaspatrone am Kopf getroffen wurde und nach neun Monaten im Koma verstarb, vertrat die Hinterbliebenen der Toten des Grubenunglücks von Soma sowie Überlebende und Opferangehörige des Anschlags von Pirsûs (tr. Suruç). Bei dem am 20. Juli 2015 durch einen vom türkischen Geheimdienst (MIT) beobachteten Selbstmordattentäter verübten Anschlag auf eine Versammlung sozialistischer Jugendlicher, die den Wiederaufbau der syrisch-kurdischen Stadt Kobanê unterstützen wollten, kamen 33 hauptsächlich junge Menschen ums Leben.
Foto: Mahnwache für die „bedrohte Anwaltschaft“ der von Exilanwält:innen aus der Türkei gegründeten „Bewegung für bedingungslose Gerechtigkeit“ vor dem EGMR in Straßburg zum „Tag des bedrohten Anwalts” am 24. Januar 2021 © Salih Gergerlioğlu