Der in der Türkei inhaftierte Rechtsanwalt Selçuk Kozağaçlı hat sich mit Corona infiziert. Wie die Zweigstelle der Vereinigung progressiver Juristinnen und Juristen (ÇHD), dessen Präsident Kozağaçlı ist, am Donnerstag in Ankara mitteilte, ist die Infektion durch einen positiven PCR-Test nachgewiesen worden. Angaben darüber, in welcher gesundheitlichen Verfassung er sich befindet, wurden nicht gemacht. Auch ist unklar, um welche Variante es sich handelt.
Die türkische Justiz geht seit jeher kompromisslos mit ihren Gefangenen um. Insbesondere jene, die aus politischer Motivation heraus inhaftiert wurden, sind mangelhaften Haftbedingungen ausgesetzt. Unter ihnen befindet sich auch der Großteil der kranken oder körperlich eingeschränkten Gefangenen, deren Lage durch die Corona-Pandemie noch bedrohlicher wird. Laut dem Menschenrechtsverein IHD sehen immer mehr Häftlinge ihr Recht auf Gesundheit verletzt.
Auch Kozağaçlıs Organisation ÇHD kritisiert, dass die Haftbedingungen in türkischen Vollzugsanstalten die Gesundheit, Sicherheit und Menschenrechte der Gefangenen gefährden. Verantwortlich dafür seien „einzig das Justizministerium“ sowie Angehörige des Rechtssystems, die eine überlange Untersuchungshaft erst ermöglichen. Kozağaçlı wird wie zehntausende politische Andersdenkende in Gefangenschaft mit Sanktionscharakter festgehalten, ohne dass es glaubwürdige Beweise für eine Straftat gibt. Dem Juristen, der Träger des Hans-Litten-Preises 2014 ist, sowie achtzehn seiner Kolleginnen und Kollegen, werden im (teilweise neu aufgerollten) ÇHD-Verfahren die Leitung und/oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation – gemeint ist die verbotene „Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front” (DHKP-C) – sowie Terrorpropaganda vorgeworfen. Die Oberstaatsanwaltschaft von Istanbul fordert eine Gesamtstrafe von bis zu 450 Jahren Haft.
In dem Verfahren gegen Kozağaçlı und seine Mitangeklagten wurde bisher kein einziges Beweismittel eingeführt oder bewertet. Bei dem vermeintlichen Hauptbeweismittel soll es sich um angeblich digitale Aufzeichnungen aus Belgien handeln, die trotz der Bemühungen von drei Gerichten noch immer nicht ihren Weg in die Akten fanden. Auch wurde bisher kein einziger Zeuge gehört. Der sogenannte Hauptbelastungszeuge, der als MIT-Informant tätig gewesen sein soll und den Polizisten vernahmen, die sich wegen Fälschung von Beweismitteln und Mitgliedschaft in der als Terrororganisation verfolgten Fettullah-Gülen-Bewegung derzeit selbst in Haft befinden, lebt gar nicht mehr in der Türkei: er ist nach Deutschland geflüchtet und hat Asyl wegen Misshandlung und Erpressung zur Erlangung seiner Aussagen seitens des Staates beantragt.
Selçuk Kozağaçlı befindet sich bis auf eine zweitägige Unterbrechung seit November 2017 in Untersuchungshaft. Rechnet man die vierzehn Monate hinzu, die der Jurist von Januar 2013 und März 2014 aufgrund derselben Vorwürfe ohne Urteil im Gefängnis verbringen musste, sitzt er seit fünf Jahren und vier Monaten als Untersuchungshäftling hinter Gittern. Dieser Zustand könnte allerdings noch andauern. Durch ein Dekret wurde die maximale Dauer der Untersuchungshaft im August 2017 auf sieben Jahre verlängert. Möglich machte dies der Ausnahmezustand. Der ÇHD-Prozess wird am 23. März in Istanbul fortgesetzt.
Staatliche Repression gegen ÇHD
Die in den 1970er Jahren gegründete Vereinigung ÇHD steht seit Jahrzehnten im Fokus der türkischen Repressionsbehörden. Ihre Mitglieder und damit auch die Angeklagten im Istanbuler Prozess sind bekannt für ihren Kampf bei der Durchsetzung von Menschen- und Bürgerrechten und übernehmen vorwiegend politische Mandate: So waren sie alle an erfolgreichen Prozessen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen die Türkei beteiligt. Selçuk Kozağaçlı etwa, der zu den prominentesten Angeklagten im ÇHD-Verfahren zählt, vertrat vor seiner Haft die Angehörigen des 54-jährigen Metin Lokumcu, der 2011 bei Protesten gegen Recep Tayyip Erdoğans Wahlkampfveranstaltungen in der Schwarzmeerküstenregion getötet wurde, als die Polizei Tränengas einsetzte. Außerdem engagierte er sich im Fall des 15-jährigen Berkin Elvan, der bei den Gezi-Protesten 2013 von einer Tränengaspatrone am Kopf getroffen wurde und nach neun Monaten im Koma verstarb, vertrat die Hinterbliebenen der Toten des Grubenunglücks von Soma sowie Überlebende und Opferangehörige des Anschlags von Pirsûs (tr. Suruç). Bei dem am 20. Juli 2015 durch einen vom türkischen Geheimdienst (MIT) beobachteten Selbstmordattentäter verübten Anschlag auf eine Versammlung sozialistischer Jugendlicher, die den Wiederaufbau der syrisch-kurdischen Stadt Kobanê unterstützen wollten, kamen 33 hauptsächlich junge Menschen ums Leben. 104 weitere Personen wurden teils schwer verletzt.
Selçuk Kozağaçlı im Gefängnis Silivri