Urteil im Prozess um den IS-Anschlag von Pirsûs

Der Prozess um den Selbstmordanschlag von Pirsûs ist mit der Verurteilung eines einzigen Angeklagten beendet worden. Die ESP kritisiert die Verurteilung eines Einzeltäters als Vertuschung der Zusammenarbeit zwischen türkischem Staat und IS.

Im Prozess um den Selbstmordanschlag in Pirsûs (tr. Suruç) vom 20. Juli 2015 ist am Freitag das Urteil gefallen. Der einzige inhaftierte Angeklagte Yakup Şahin wurde in der Provinzhauptstadt Riha (Urfa) zu siebzigfacher lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt – wegen verfassungsfeindlichen Umtrieben, Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation und geplantem Mord. Das Verfahren gegen die beiden flüchtigen Angeklagten Ilhami Bali und Deniz Büyükçelebi wurde abgetrennt.

Das Urteil hat Empörung hervorgerufen. Noch im Gerichtssaal protestierten Hinterbliebene der 33 Todesopfer mit Parolenrufen gegen das Prozessende. Bei dem Anschlag waren 33 hauptsächlich junge Menschen von einem IS-Attentäter getötet worden, 104 weitere wurden teils schwer verletzt. Der Anschlag ereignete sich, als sich auf Aufruf der Föderation Sozialistischer Jugendvereine (SGDF) 300 junge Menschen im Kulturzentrum Amara versammelten, um vor ihrer Abreise nach Kobanê eine Pressekonferenz abzuhalten. Die geplante Fahrt nach Nordsyrien sollte ein Akt der Solidarität sein. Die Jugendlichen wollten Kinderspielzeug und humanitäre Hilfsgüter in die vom IS zerstörte Stadt bringen. Mehmet Yapalıal, der damalige Polizeipräsident in Pirsûs, hatte bereits im Vorfeld nachrichtendienstliche Informationen zu dem Attentat erhalten. Am 16. Juni 2015, also etwas mehr als einen Monat vor dem Anschlag, lag dem Ex-Polizeipräsidenten die Einstufung des späteren Attentäters als „aufgrund Terrorismusgefahr gesuchte Person“ vor.

ESP:Das Urteil der Palast-Justiz überrascht uns nicht“

Die sozialistische Partei ESP kritisierte nach der Urteilsverkündung, dass mit der Verurteilung eines Einzeltäters der Hintergrund des Anschlags vertuscht werden soll. „Dieses Urteil der Palast-Justiz überrascht uns nicht“, erklärte der ESP-Vorstand am Freitagabend. Verantwortlich für den Anschlag sei das „faschistische Chef-Regime“, das das Verfahren abschließen wolle, um die Zusammenarbeit zwischen Staat und IS zu verschleiern. Der Angriff auf die SGDF, die Jugendorganisation der ESP, habe sich gegen den vereinten revolutionären Kampf gerichtet und markiere den Beginn des Vernichtungskonzepts gegen die sozialistische und demokratische Bewegung des türkischen und kurdischen Volkes. „Das Urteil hat für uns keine Gültigkeit“, teilte die ESP mit und kündigte an, den Kampf fortzusetzen.

KCK: „Vom MIT geplant und ausgeführt“

Auch die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) macht den türkischen Geheimdienst MIT für den Anschlag verantwortlich. „Diese jungen Menschen wurden nicht vom IS, sondern vom türkischen Staat getötet. Es war die Feindschaft von Tayyip Erdogan und seiner AKP-Regierung gegenüber Rojava, die sie getötet hat. Das Massaker wurde vom MIT geplant und ausgeführt“, hieß es bereits in einer im Juli vergangenen Jahres veröffentlichten Erklärung.

In der Erklärung wurde dargelegt, dass in der damaligen Zeit viele Angriffe auf die politische Opposition unter dem Deckmantel des IS durchgeführt wurden. Am 5. Juni 2015 fand ein Anschlag mit mehreren Todesopfern auf eine Wahlkampfkundgebung der HDP statt. Am 25. Juni verübte der IS ein Massaker in Kobanê, bei dem Hunderte Menschen brutal ermordet wurden. Am 20. Juli schließlich kam es zum Anschlag in Pirsûs. Der blutigste Anschlag in der Geschichte der Türkei fand am 10. Oktober 2015 bei einer Friedenskundgebung in Ankara statt, über hundert Menschen kamen ums Leben. „Im Anschluss wurden kurdische Städte angegriffen, Hunderte junge und alte Menschen, Frauen und Kinder wurden getötet, über zehn Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht. Dass all diese Massaker im gleichen Zeitraum stattgefunden haben und die AKP die Opposition angegriffen hat, ist kein Zufall. Alle Angriffe sind das Ergebnis des Zerschlagungsplans, der am 30. Oktober 2014 vom Nationalen Sicherheitsrat beschlossen wurde.“

Die Anschläge seien zwar vom IS verübt worden, der Auftraggeber sei jedoch der MIT gewesen, erklärte die KCK. „Als Erdogan erkannt hat, dass er sich nicht an der Macht halten kann, hat er eine Allianz mit dem IS und der MHP geschlossen. Zuvor waren ohnehin Hunderte Agenten in den IS eingeschleust worden. Der MIT selbst hat in der Türkei Abteilungen eingerichtet, über die neue IS-Mitglieder gewonnen wurden. Zeitgleich hat er aus den weltweit in die Türkei eingereisten IS-Sympathisanten Hunderte Agenten rekrutiert. Auf diese Weise hat die Türkei die Kontrolle über den IS gewonnen. Wer diese Tatsache nicht sieht, kann weder den IS begreifen noch herausfinden, wer die politische Kraft hinter den im Namen des IS begangenen Angriffen war.“