Der Anschlag in Paris und die verschwundene Tasche des Täters

Vor einem Jahr wurden drei Kurd:innen bei einem Anschlag in Paris erschossen, für die französischen Behörden ein gewöhnlicher Kriminalfall. Wenn jedoch kurdische Jugendliche die türkische Botschaft besprühen, ermittelt die Anti-Terror-Staatsanwaltschaft.

Vor einem Jahr bereitete sich das kurdische Kulturzentrum Ahmet Kaya in der Pariser Rue d'Enghien auf die Proteste zum Anschlag von 2013 vor. Am 9. Januar 2013 wurden die PKK-Mitbegründerin Sakine Cansız (Sara), die Pariser KNK-Vertreterin Fidan Doğan (Rojbîn) und die Jugendaktivistin Leyla Şaylemez (Ronahî) im Kurdistan-Informationsbüro, nicht weit vom Kulturzentrum entfernt, mit jeweils drei Kopfschüssen ermordet.

Dokumente, Tonaufnahmen und Zeugenaussagen, die die Verantwortung des türkischen Geheimdienstes MIT für dieses Massaker eindeutig belegen, waren ans Licht gekommen. Dennoch wurden in diesem Fall keine Fortschritte erzielt. Weder der türkische noch der französische Staat teilten die Informationen, über die sie verfügten. Der französische Inlandsgeheimdienst (DGSI) weigert sich nach wie vor, diese Informationen zur Verfügung zu stellen, und schweigt zu den Anfragen der Ermittlungsrichter:innen und der kurdischen Community mit der Behauptung, es handele sich um ein Staatsgeheimnis. Diese Blockadehaltung hat weitere Verdachtsmomente geweckt. Anwält:innen und kurdische Organisationen glauben, dass die Dokumente wichtige Informationen über die Aktivitäten des Mörders Ömer Güney enthalten, der 2016 unter verdächtigen Umständen im Gefängnis starb. Kurdische Organisationen haben die französischen Behörden wiederholt gewarnt, dass weitere Anschläge möglich sind, wenn die Auftraggeber des Anschlags und ihre Komplizen nicht bestraft werden.

Anschlag auf kurdisches Kulturzentrum

Fast zehn Jahre später, am 23. Dezember 2022, wurden Emine Kara (Evîn Goyî), eine Pionierin der kurdischen Frauenbewegung, der kurdische Musiker Mîr Perwer und der kurdische Aktivist Abdurrahman Kızıl Ziel eines bewaffneten Angriffs vor dem Kulturzentrum im zehnten Arrondissement von Paris. Der Angreifer war der heute 70-jährige Franzose William Malet, ein bekennender Rassist. Er hat eine schmutzige Vergangenheit, aber es ist nicht klar, welche Verbindungen er in den Monaten oder Wochen vor dem Anschlag hatte. Der Mörder war der französischen Polizei und Justiz bekannt. Trotz der Straftaten, die er begangen hatte, war er mit leichten Strafen davongekommen.

Im Jahr 2016 soll er auf dem Rückweg in seine Wohnung in Livry-Gargan (Seine-Saint-Denis) drei Einbrechern begegnet sein und die Männer aus Algerien und Marokko mit einem Messer angegriffen haben. Zwei der Diebe wurden dabei schwer verletzt. Malet wurde im März 2023, nach dem Anschlag auf das kurdische Kulturzentrum, vor Gericht gestellt. In dem Prozess wegen des Angriffs von 2016 urteilte das Gericht, dass William Malet „mit erwiesener Feindseligkeit" und nicht zur Selbstverteidigung angegriffen habe, und verschärfte seine Strafe. Gegen Malet wird auch wegen eines Angriffs auf ein Migrantenlager in Paris im Dezember 2021 ermittelt, bei dem zwei Menschen verletzt wurden, einer davon schwer.

Attentat oder rassistischer Angriff?

Malet, ein pensionierter Maschinist im Hochgeschwindigkeitszug TGV, hatte nach dem Anschlag auf das kurdische Kulturzentrum Ahmet Kaya ausgesagt, er habe einen „pathologischen Hass auf Ausländer". Er machte widersprüchliche Angaben zu den Gründen für den Angriff auf die kurdische Community und sagte in seinem letzten Verhör, dass er „einen Anschlag verüben" wollte, milderte dann aber seine Worte ab und behauptete, er habe „sadistische Fantasien" und den Wunsch, Selbstmord zu begehen.

Obwohl Malet seine Aussage später korrigierte, bezeichnete er den Anschlag zunächst als Attentat. Auf Französisch ist der Begriff „Attentat" definiert als ein Angriff auf die grundlegenden Interessen der Nation, eine Gewalttat, die die Institutionen der Republik oder die Integrität des Staatsgebiets gefährden könnte. Die Staatsanwaltschaft, die Behörden und die Medien vermeiden jedoch den Begriff „terroristischer Anschlag" und verwenden stattdessen die Begriffe „Fusillade", „rassistischer Anschlag" oder „Tuerie". „Fusillade" bezeichnet das gleichzeitige Abfeuern einer oder mehrerer Waffen und wird in Situationen wie bewaffneten Kämpfen verwendet. Tuerie hingegen wird im Zusammenhang mit Massentötungen, brutalen Szenen und tödlicher Gewalt verwendet. Nachdem er „Attentat" gesagt hatte, änderte Malet seine Wortwahl und behauptete, er habe einen „nicht ideologischen Angriff" begangen.

Die Staatsanwaltschaft hat eine Untersuchung wegen eines rassistisch motivierten Angriffs eingeleitet. Auf die Frage, warum er es auf Kurdinnen und Kurden abgesehen hatte, gab der Mörder zu, er habe gewusst, dass es in der Rue d'Enghien einen kurdischen Verein gab, und rechtfertigte seine Tat mit den Worten: „Weil ich nicht toleriere, was sie mit Daesh [IS] machen (...) sie haben viele Gefangene gemacht und sie nicht an Bashar al-Assad ausgeliefert, und wir bringen sie zurück nach Frankreich."

Warum wird der Anschlag nicht als terroristischer Akt eingestuft?

Die Anwält:innen der Familien der drei ermordeten Kurd:innen und kurdische Organisationen fordern, dass der Anschlag als „terroristischer Akt" eingestuft und die Ermittlungen von der Anti-Terror-Staatsanwaltschaft geführt werden. Die Anti-Terror-Staatsanwaltschaft hat die Befugnisse und Mechanismen, um mögliche Verbindungen des Mörders aufzudecken.

Am 14. März wandten sich die Ermittlungsrichter:innen mit einer Anfrage über die Möglichkeit einer Neueinstufung des Anschlags als terroristischen Akt an die Pariser Staatsanwaltschaft. Diese teilte am 15. April mit, dass sie den Fall zur Bewertung an die Nationale Staatsanwaltschaft für Terrorismusbekämpfung (Parquet National Antiterroriste, PNAT) weitergeleitet habe. Die PNAT erklärte daraufhin: „Weder die Äußerungen des Betroffenen noch irgendein anderes Element des Verfahrens deuten darauf hin, dass seine Aktion als Teil eines individuellen oder kollektiven Versuchs geplant und begangen wurde, die öffentliche Ordnung durch Einschüchterung oder Terrorismus ernsthaft zu stören, auch wenn sie tatsächlich eine solche Störung verursacht hat."

Pressekonferenz im Ahmet-Kaya-Kulturzentrum, 19. Dezember 2023

Der Demokratische Kurdische Rat Frankreichs (CDK-F) hält es für eine Doppelmoral, dass die französische Regierung diesen Anschlag nicht als Terroranschlag anerkennt. „Obwohl viele Elemente auf eine geplante und politische Aktion hindeuten, hat die Polizei viele Fragen offen gelassen", so der CDK-F in einer Erklärung zum Jahrestag des Anschlags.

Graffiti an der türkischen Botschaft

Als jedoch kurdische Jugendliche Graffiti an der türkischen Botschaft hinterließen und Feuerwerkskörper zündeten, griff die PNAT direkt ein und leitete eine Untersuchung ein. Wenn türkische Interessen ins Visier genommen werden, wird die PNAT automatisch mobilisiert, aber wenn es um kurdische Interessen geht, wird die Angelegenheit als Kriminalfall behandelt.

Für die kurdische Community ist nicht nachvollziehbar, dass der terroristische Charakter der Angriffe auf sie bewusst ignoriert wird, obwohl der CDK-F in mehreren Städten bedroht wurde, Ziel direkter Angriffe war und drei Kurd:innen vor den Räumlichkeiten des Pariser Vereins ermordet wurden.

Roussel: Die kurdische Gemeinde wurde gezielt angegriffen

Fabien Roussel, Nationaler Sekretär der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF), erklärte Mitte Dezember: „Wir wollen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Der Fall des Massakers von 2013 ist durch staatliche Geheimhaltung blockiert. Wir fordern nachdrücklich, dass das Staatsgeheimnis aufgehoben wird. Was den Anschlag von 2022 betrifft, so gibt es bisher keine Definition eines terroristischen Anschlags, obwohl die kurdische Gemeinde gezielt angegriffen wurde. Wir wollen, dass die Antiterrorstaatsanwaltschaft tätig wird. Der Kampf für Rechte und Gerechtigkeit verlangt, dass alle Aspekte dieser Angriffe, die Auftraggeber und ihre internationalen Partner aufgedeckt werden. Unser Land darf nicht schweigen und muss der Straflosigkeit ein Ende setzen.“

Die verschwundene Tasche

Der CDK-F kritisiert das langsame Tempo der Ermittlungen und weist darauf hin, dass viele Indizien noch nicht untersucht wurden: „Trotz der alarmierenden Äußerungen des Angreifers William Malet, die sich direkt gegen unsere Vereinigung, die Kurden und die PKK richteten, hat sich die Anti-Terror-Staatsanwaltschaft noch nicht mit dem Fall befasst. Das ungeklärte Verschwinden der schwarzen Tasche, die William Malet bei seiner Rückkehr aus Saint-Denis bei sich trug, deutet stark auf die Anwesenheit von Komplizen hin."

Es ist Filmmaterial aufgetaucht, das zeigt, wie William Malet in den Einwanderervorort Saint-Denis fährt, bevor er sich auf den Weg zum kurdischen Kulturzentrum macht. In seiner Aussage sagte Malet, er habe Ausländer angreifen wollen, aber er gibt keine überzeugenden Antworten auf die Frage, warum er am Morgen des 23. Dezember nicht im Vorort Saint-Denis oder in den überfüllten Bahnhöfen angegriffen hat. Aufnahmen aus Überwachungskameras zeigen, dass er eine schwere schwarze Tasche trägt und langsam geht. Um 06.42 Uhr scheint er sich in einer Straße einige Meter vom Bahnhof entfernt zu bücken und die Magazine in seine Tasche zu stecken. Nach einer Minute und 42 Sekunden ist er auf den Aufnahmen wieder mit der Tasche zu sehen, die er nur mit Mühe tragen konnte, aber später nicht mehr. Viele Fragen zu dem, was geschah, als er nicht im Blickfeld der Kamera war, warten noch auf Antworten.

Demonstration am 23. Dezember

Mobilisierung für die Demonstration am 23. Dezember in Paris

Am 23. Dezember 2023 werden sich ab 11 Uhr Kurd:innen und solidarische Menschen vor dem Kurdistan-Informationsbüro am Gare du Nord in Paris versammeln, um Evîn Goyî, Abdurrahman Kızıl und Mîr Perwer zu gedenken und Gerechtigkeit und Transparenz zu fordern. Zeitgleich finden Demonstrationen in weiteren europäischen Ländern statt. Für den 6. Januar 2024 ist eine europaweite Demonstration in Paris geplant.