Dem Präsidium der türkischen Nationalversammlung sind wieder Anträge zur Aufhebung der Immunität des unabhängigen Abgeordneten Ahmet Şık vorgelegt worden. Insgesamt drei Ermittlungsberichte gegen Şık hat die Generalstaatsanwaltschaft von Ankara am Donnerstag bei der Verfassungskommission und dem Parlamentsvorsitz eingereicht. Zuletzt war am Wochenende die Amtsenthebung von Şık gefordert worden.
Die neuen Anträge zum Immunitätsverlust betreffen Strafanzeigen gegen den Politiker wegen „Beleidigung“, gestellt von mutmaßlichen Mitgliedern der „Pelikan-Gruppe“, darunter die Journalistin Hilal Kaplan. Auch Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte Anzeige gegen Şık erstattet. Hintergrund sind Äußerungen des 50-jährigen Abgeordneten zur erneuten Verhaftung des Bürgerrechtlers Osman Kavala nur wenige Stunden nach seinem Freispruch im Gezi-Prozess am 18. Februar. Şık hatte erklärt, dass die Anordnung zur Festnahme Kavalas von Erdoğan persönlich kam. Der Pelikan-Gruppe zugeordnete Journalist*innen, welche den erneuten Haftbefehl gegen den seit 2017 inhaftierten Kulturmäzen Osman Kavala begrüßten, bezeichnete Şık als „Parteimilitante, die zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit einer kriminellen Vereinigung“ seien.
Die sogenannte Pelikan-Gruppe, die als Erdoğans „Staat im Staat“ gilt, ist nach Einschätzungen von Investigativ-Journalisten ein Flügel der islamistischen Regierungspartei AKP, die maßgeblich vom Finanzminister, Erdoğans Schwiegersohn Berat Albayrak, geführt wird. Die Gruppe solle die Erdoğan-Nachfolge vorbereiten und habe besonders großen Einfluss auf die Justiz des Landes. Auch Erdoğans Troll-Armee gehöre zu dem Netzwerk.
Inflationär benutztes Mittel zur Ausschaltung jeglicher Opposition
Die Aufhebung der Immunität und anschließende Inhaftierung von oppositionellen Abgeordneten stellt ein vom türkischen Staat in den letzten Jahren inflationär benutztes Mittel zur Ausschaltung jeglicher Opposition dar. Fast im Wochentakt legt die Generalstaatsanwaltschaft von Ankara Ermittlungsberichte zum Entzug der Immunität von Abgeordneten vor.
Anträge nur wenige Tage nach Bericht über Hubschrauber-Folter
Auffällig ist allerdings, dass die Anträge gegen Ahmet Şık nur wenige Tage nach der Vorstellung seines Berichts zur Hubschrauber-Folter an zwei kurdischen Dorfbewohnern in Wan eingereicht wurden. Servet Turgut und Osman Şiban waren am 11. September in der Nähe von Şax (türk. Çatak) während der Feldarbeit von Soldaten einer türkischen Operationseinheit festgenommen worden. Nach schwerer Folter wurden sie zunächst aus einem Militärhubschrauber gestoßen, bevor sie erneut geschlagen und getreten worden sind. Dabei erlitten sie schwere Verletzungen. Beide Männer wurden anschließend in verschiedene Krankenhäuser eingeliefert. Dem medizinischen Personal erklärte das Militär, Turgut und Şiban seien Terroristen und verletzt worden, als sie versucht hätten, aus dem Helikopter zu entkommen.
Ermittlungsakte gilt als Verschlusssache
Während der 50-jährige Osman Şiban immer noch gezeichnet ist von der Folter, sich aber wenigestens von seiner Amnesie erholt hat, ist der 55-jährige Servet Turgut am 30. September nach 20 Tagen im Koma gestorben. Die Journalist*innen Adnan Bilen, Cemil Uğur, Şehriban Abi und Nazan Sala, die als erstes von dem Fall berichtet hatten, befinden sich wegen dem Verdacht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und „staatsfeindlicher Berichterstattung über gesellschaftliche Ereignisse“ seit inzwischen vier Wochen in Untersuchungshaft, Haftbeschwerden wurden bereits abgelehnt. Die Folter, die an die dunkle Phase der neunziger Jahre erinnert, soll vertuscht werden. Weite Teile der Ermittlungsakte sind als Verschlusssache eingestuft worden. Şık hatte den Bericht zur Hubschrauber-Folter am Montag im Parlament vorgestellt. Darin heißt es, die mutmaßlichen Täter hätten eine „offizielle Lüge“ erfunden, um Stunden der Folter und des „kollektiven Lynchens“ zu verheimlichen.
Wer ist Ahmet Şık?
Der regierungskritische, investigative Journalist Ahmet Şık wurde im Juni 2018 als Kandidat der Demokratischen Partei der Völker (HDP) ins türkische Parlament gewählt. Im Mai dieses Jahres verließ er auf eigenen Wunsch die HDP und ist seit dem fraktionsloser Abgeordneter. Şık, der bereits mehrfach im Gefängnis war, ist der AKP und ihrem Vorsitzenden Erdoğan nicht erst seit gestern ein Dorn im Auge. Kurz nach der Verhaftung Şıks unter anderem wegen des absurden Vorwurfs der Gründung einer bewaffneten Terrororganisation im März 2011 war im Internet das Buchmanuskript Die Armee des Imam über die Gülen-Bewegung veröffentlicht worden. Das Buch wurde noch vor Erscheinen beschlagnahmt und galt lange Zeit als das „gefährlichste Buch des Landes“. Şık beschreibt darin den Einfluss der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, der einflussreichsten islamischen Bruderschaft der Türkei, die ab Mitte der 1980er Jahre Polizei und Justiz systematisch unterwandert hatte und mittlerweile in der Türkei zur Terrororganisation FETÖ erklärt wurde.
Nach seiner letzten Verhaftung im Dezember 2016 warf die türkische Justiz Ahmet Şık vor, er habe Propaganda für die PKK sowie für die Gülen-Bewegung betrieben - also unter anderem für jene Organisation, als deren scharfer Kritiker er sich einen Namen gemacht hatte und somit ins Visier der Regierung und der Justiz selbst geraten war. Im März 2018 wurde Şık unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Am 25. April 2018 verurteilte ein erstinstanzliches Gericht ihn wegen „Unterstützung von Terrororganisationen“ zu siebeneinhalb Jahren Haft.