Hişyar Özsoy ist stellvertretender Ko-Vorsitzender und außenpolitischer Sprecher der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und nimmt zurzeit an diversen Treffen in den USA teil. Wir sprachen mit ihm über die aktuellen Entwicklungen im Kontext der Auseinandersetzungen um Idlib und die Benutzung von Schutzsuchenden als Mittel zur Erpressung der EU durch das Erdoğan-Regime.
Was denken Sie darüber, dass Erdoğan die Wut über die getöteten Soldaten auf die Schutzsuchenden zu lenken versucht?
Das ist nichts Neues. Von Anfang an wurde die Flüchtlingsfrage dazu benutzt, Europa zu drohen. Diesmal hat es teilweise funktioniert, aber teilweise eben auch nicht. Erdoğan konnte mit dieser Drohung nicht viel erreichen. Aus Europa kamen sehr scharfe Reaktionen, aber Angela Merkel begann den türkischen Wunsch nach einer „Sicherheitszone” innerhalb von Syrien zu unterstützen. Auch wenn die Flüchtlingskarte nicht so viel Druck aufbaut wie früher, sie befindet sich immer noch in Erdoğans Händen. Das ist sein stärkster Trumpf gegenüber Europa.
Sie nehmen zurzeit an diversen Treffen in den USA teil. Wie wird die Situation dort betrachtet?
In den USA wird diese Flüchtlingsfrage sehr ernst genommen. Aber für Washington stehen die Beziehungen zwischen Russland und der Türkei und die S-400-Raketen im Vordergrund. Es sieht so aus, als ob es im April sehr ernste Sanktionen geben wird, wenn die Türkei nichts wegen den S-400 unternimmt. Aber sollte sie die S-400 aufgeben, kann die Türkei auf starke Unterstützung durch die USA in Idlib zählen. Einige US-Politiker versuchen eine türkeinahe Position einzunehmen. Sie wollen die Türkei in Idlib unterstützen, aber das bedeutet nicht, dass die USA Soldaten nach Idlib schicken oder Luftunterstützung leisten werden. Es gibt in der US-amerikanischen Regierung heftige Diskussionen dazu. Die Unterstützer Erdoğans sind in dieser Hinsicht isoliert. Sie bekommen weder vom Pentagon noch vom Kongress in diesem Sinne große Unterstützung. Es wurde aber ein humanitäres Hilfspaket bekanntgegeben. Das soll benutzt werden, um die Türkei an ihre Seite zu ziehen. Diese Logik richtet sich gegen Russland. Insbesondere aufgrund der Zuspitzung der Feindseligkeiten gegenüber dem Iran wollen die USA die Türkei an ihrer Seite haben. Aber wie gesagt, der entscheidende Punkt sind die S-400-Raketen. Wenn dieses Geschäft mit Russland aufgegeben wird, werden sich die USA intensiv darum bemühen, die Beziehungen zur Türkei zu richten. Aber wenn dies nicht geschieht und die Türkei nicht wie von den USA gewünscht eine russlandfeindliche Position einnimmt, wird Ankara wohl bald unter sehr großen Druck durch die USA geraten.
Isolieren die Erpressungsversuche der Türkei das Land nicht?
Schauen Sie, die Türkei hat im Moment keine wirklichen diplomatischen Beziehungen mehr mit Europa, den USA und ehrlich gesagt auch nicht mit Russland. Sie versucht, Europa andauernd zu bedrohen und zu erpressen. Der Grund für die Zusammenarbeit mit Erdoğan und seiner Regierung ist nicht der, weil sie ihn mögen. Sie haben diese Regierung satt. Wir können hier von Wut sprechen. Erdoğan hat mit ganz Europa eine auf Drohungen basierende Beziehung aufgebaut. Diese Beziehung bewegt sich rapide auf den Zusammenbruch zu.
Die Politik gegenüber den Kurden in Syrien hat die Türkei auch gegenüber den USA isoliert. Selbst die Unterstützer der Türkei konnten das bis jetzt nicht offen machen. Alle Institutionen stellen sich gegen Erdoğan. Die Flüchtlingsfrage ist nicht wichtig für die USA, die beschäftigt vor allem Europa. Einige Länder in Europa wollen Erdoğan nicht gegen sich aufbringen. Zum Beispiel Griechenland, Bulgarien, Italien und die südlichen Länder. Erdoğan kann Merkel, wenn auch nur teilweise, zu Zugeständnissen bringen. Und das versucht er gerade.
Wird dies die Türkei vor ihrer inneren Krise retten?
Ob es klappt oder nicht werden wir sehen. Aber Erdoğan hat die Drohungen und Erpressungen derartig überzogen, dass er diplomatisch am Ende ist. Das ist ein großes Problem für ihn, da er sich gerade mit Russland militärisch auf Konfrontationskurs befindet, Europa jedoch nicht auf seiner Seite hat. Das ist ein großes Hindernis. Die Türkei wollte die Mächte gegeneinander auszuspielen, aber diese Politik funktioniert nicht mehr. Daher erlebt sie in Idlib eine politische, militärische und diplomatische Niederlage.