25 Jahre Isolation, seit einem Vierteljahrhundert hinter Gittern auf der Gefängnisinsel İmralı… Der kurdische Repräsentant Abdullah Öcalan wird seit seiner Entführung am 15. Februar 1999 in die Türkei als wichtigster politischer Gefangener des Landes und der gesamten Region von der Außenwelt isoliert. Dabei hätte alles anders kommen können…
Am 1. September 1998 verkündete Abdullah Öcalan von Syrien aus zum wiederholten Male einen einseitigen Waffenstillstand der PKK, um eine politische Lösung der kurdischen Frage zu forcieren. Die Antwort der Türkei auf dieses Friedensangebot war abermals eine Eskalation des Konflikts. Mit Unterstützung aus Washington erhöhte der türkische Staat den Druck auf Syrien, wo sich der PKK-Begründer seit mittlerweile 19 Jahren aufhielt. Um einen Krieg zwischen den beiden Staaten zu verhindern, brach Öcalan am 9. Oktober 1998 in Richtung Europa auf. Er erhoffte sich, durch die Vermittlung der europäischen Staaten eine politische Lösung der kurdischen Frage befördern zu können.
Doch diese Bemühungen schlugen fehl. Auf Italien, wo Öcalan sich zwischenzeitlich drei Monate aufhielt, übten die Türkei und die NATO ebenfalls starken politischen Druck aus. Daraufhin verließ Öcalan die italienische Hauptstadt Rom und brach nach einer Odyssee durch mehrere Staaten Europas nach Südafrika auf, wo er nie ankommen sollte. Am 15. Februar 1999 wurde er in Kenia im Rahmen einer Operation mehrerer Geheimdienste entführt und an die Türkei ausgeliefert. Die Entführung verursachte weltweite Proteste und Aufstände von Kurdinnen und Kurden. In der Türkei wurde gleichzeitig der antikurdische Nationalismus forciert, was das Land an den Rand eines Bürgerkrieges führte.
Am 29. Juni 1999 wurde Abdullah Öcalan nach einem kurzen Schauprozess auf İmralı zum Tode verurteilt. Der Prozess wurde später von der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) als unfaires Verfahren verurteilt. 2002 wurde die Todesstrafe in der Türkei abgeschafft. Daraufhin wandelte die Justiz die Strafe Öcalans in „verschärfte lebenslange Haft“ ohne Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung um – in anderen Worten: Haft bis zum Tod. Auch dies wurde vom EGMR als unmenschliche Strafe verurteilt. Konsequenzen bisher: keine.
Haftbedingungen auf der Gefängnisinsel İmralı
Die Haftbedingungen Öcalans sind für europäische Verhältnisse beispiellos. Er ist mit einem Regime der totalen Isolation und Willkür konfrontiert. İmralı befindet sich im Marmarameer, zwischen Bosporus und Dardanellen, an der Grenze zwischen Europa und Asien. Die Insel ist militärisches Sperrgebiet. Die Überfahrt per Schiff ist langwierig und sehr anstrengend. Abdullah Öcalan verbrachte die ersten zehn Jahre als einziger Gefangener auf der Insel, bewacht von mehr als 1.000 Soldaten. 2009 wurde ein neues Gefängnis für ihn und fünf weitere Gefangene erbaut. Sämtliche Zellen sind auf Isolationshaft ausgelegt. Jeder der Häftlinge hat einen eigenen winzigen Außenbereich für den Hofgang. Durch die extreme Höhe der Mauern wirken diese Höfe wie Brunnenschächte.
Die politische Dimension
Die anhaltende Isolation Abdullah Öcalans ist ein schwerwiegender Verstoß gegen die Menschenrechte. Aber der Umgang mit dem Politiker ist nicht nur eine menschenrechtliche Frage, sondern hat darüber hinaus eine weitgehende politische Dimension. Öcalan wird von der Gesellschaft und Fachleuten als nationale Führungsfigur und politischer Repräsentant der Kurdinnen und Kurden betrachtet. In Kurdistan und der Türkei ist allgemein bekannt, dass eine politische Lösung nur im Dialog mit Abdullah Öcalan möglich ist. Jede türkische Regierung seit 1999 war sich dessen bewusst und führte entsprechend Gespräche mit Abdullah Öcalan auf İmralı – obwohl das bis 2010 keine der Regierungen zugab.
Die Strategie der Regierung, die auf Gewalt und Spannung basiert, führt zwangsläufig in eine Sackgasse. Sie wird absehbar zu weiteren Kämpfen und unnötigem Blutvergießen führen. Die einzige Alternative zu Gewalt ist der Dialog. Abdullah Öcalan hat bewiesen, dass er zu einem solchen Dialog bereit und in der Lage ist, ihn erfolgreich zu einer dauerhaften Friedenslösung zu führen.
Gleichzeitig inspiriert Öcalan als Autor und Politiker Millionen von Menschen in Kurdistan und weltweit. Er ist einer der prominentesten politischen Gefangenen der Gegenwart. Nach mittlerweile 25 Jahren rückt seine Freiheit auf der Tagesordnung immer weiter nach oben. Sie muss und wird kommen – je früher, desto besser.
Internationale Kampagne für die Freiheit von Öcalan
Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, haben Aktivist:innen auf der ganzen Welt am 10. Oktober 2023 den Startschuss für eine globale Kampagne mit dem Titel „Freiheit für Öcalan und eine politische Lösung der kurdischen Frage" gegeben. An insgesamt 74 Orten in Europa, Bangladesch, Pakistan, Tokio, Indien, Kenia, Südafrika, Lateinamerika und anderswo wurden an diesem Tag gleichzeitig Presseerklärungen zu diesem Thema veröffentlicht. An der weltweiten Kampagne beteiligt sind Akademiker:innen, Journalist:innen, NGOs, politische Parteien, Parlamentarier:innen, Aktivist:innen, Philosoph:innen, Nobelpreisträger:innen, Frauenorganisationen und Vertreter:innen indigener Völker.
Am 10. Dezember, dem 75. Jahrestag der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen, fand mit dem weltweiten Öcalan-Buchtag die nächste Etappe der Kampagne statt. Das Motto des Buchtages lautete: „Gedanken, die Gefängnisgitter durchbrechen - Ideen kann man nicht einsperren!“ An weit über 150 Orten weltweit trafen sich Menschen und organisierten Lesungen, Kundgebungen und Diskussionen, um das Paradigma des kurdischen Vordenkers bekannter zu machen.
Am kommenden Samstag, den 17. Februar, findet mit der Demonstration „Schluss mit 25 Jahren Isolation, Folter und Rechtlosigkeit“ ein weiterer Höhepunkt der Kampagne statt. Im Aufruf des kurdischen Dachverbandes KON-MED zur Demonstration heißt es: „Seit nunmehr 25 Jahren ist der kurdische Repräsentant und Vordenker Abdullah Öcalan auf der türkischen Gefängnisinsel İmralı inhaftiert, seit fast drei Jahren befindet er sich erneut in totaler Isolation. Das Ziel von Haft und Folter ist klar: Der Philosoph und Politiker Öcalan soll daran gehindert werden, die politischen Entwicklungen in Kurdistan und im Nahen und Mittleren Osten mitzugestalten. Denn eine Beteiligung Öcalans an der Diskussion zur Lösung der kurdischen Frage wäre ein wichtiger Beitrag zur Stärkung von Frieden und Demokratie gegen diktatorische und islamistische Kräfte in der Region. In den letzten Jahren waren es vor allem die Initiativen Öcalans, die immer wieder politische Verhandlungen mit dem türkischen Staat ermöglichten und wichtige Beiträge zum Aufbau einer ökologischen, demokratischen und auf der Befreiung der Frau basierenden Gesellschaft leisteten.“
Hungerstreik politischer Gefangener
Der Widerstand gegen die unmenschliche Isolationshaft von Abdullah Öcalan hat nun auch die türkischen Gefängnisse erreicht. Seit dem 27. November befinden sich in der Türkei inhaftierte Mitglieder der PKK und der PAJK in einem Hungerstreik, um die internationale Kampagne zu unterstützen. Die Gefangenen beteiligen sich abwechselnd und in Gruppen an dem Hungerstreik. In einer Erklärung der Gefangenen heißt es: „Wo auch immer wir atmen, wir werden niemals unser Beharren auf ein freies Leben und unseren Glauben an die freie und gleichberechtigte Einheit der Völker aufgeben.“ Der Hungerstreik, der zunächst bis zum 15. Februar angekündigt war, soll nun bis zum 4. April fortgesetzt werden. Danach, so der Sprecher der Gefangenen, Deniz Kaya, wolle man den Hungerstreik „auf eine neue Ebene“ heben. Was damit konkret gemeint ist, ließ Kaya offen.
Nach 25 Jahren Isolationshaft – Öcalans Freiheit ist wichtiger denn je!
Ohne die Aufhebung der Isolation auf der Gefängnisinsel İmralı, ohne die Freiheit von Abdullah Öcalan kann es keine politische Lösung der kurdischen Frage geben. Denn wir sind davon überzeugt, dass Öcalan mit seinen Ideen der Garant für eine solche Lösung ist. Die unmenschliche Isolationsfolter gegen ihn muss aufhören, er muss endlich als Partner für eine politische Lösung anerkannt werden.
Öcalans Konzepte und Ideen, wie das basisdemokratische Gesellschaftskonzept des Demokratischen Konföderalismus oder seine Ideologie der Frauenfreiheit, haben Lösungspotenzial nicht nur für die Kurdistan-Frage, sondern für viele Konflikte und Kriege unserer Zeit. Sie zeigen, wie ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Völkern und Religionsgemeinschaften aussehen kann. Die Umsetzung ihrer Konzepte in Nord- und Ostsyrien und anderen Teilen Kurdistans belegen dies eindrucksvoll. Deshalb gilt es unsere Kräfte zu bündeln und dafür sorgen, dass die Tore von İmralı endlich geöffnet werden!
Der Artikel ist dem aktuellen Newsletter von Civaka Azad, Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., entnommen.