Die vom Autokraten Recep Tayyip Erdoğan dirigierte Türkei bleibt ihrer Rolle als Konfliktverursacherin treu. Seit zwei Tagen ist die erste von sechs Turbinen des Ilisu-Staudamms im Südosten des Landes in Betrieb. Mit dem Strom aus dem Kraftwerk, das nur auf 50 Jahre Betriebsdauer ausgelegt ist, will die Regierung in Ankara eigenen Angaben nach die Wirtschaft in den kurdischen Gebieten „ankurbeln“. Tatsächlich haben Talsperren in der Türkei bisher nur zur Verarmung Tausender von Menschen, der Zerstörung zahlreicher Ökosysteme und Hunderter archäologischer Stätten geführt. Die eigentlich als erneuerbar geltende Hydroenergie ist in der Türkei keine nachhaltige Lösung, im Gegenteil: Keine andere Energieform zerstört in diesem Ausmaß die Natur wie die Wasserkraft.
Mit Ilisu wird aber auch ein Stück Menschheitsgeschichte ausgelöscht. Die antike Stadt Heskîf (türk. Hasankeyf) im Zweistromland Mesopotamien ist in den Fluten eines Stausees in der Größe von München bereits nahezu vollständig versunken. Der Ort in der nordkurdischen Provinz Êlih (Batman) liegt knapp hundert Kilometer vom Dreiländereck entfernt, wo die Türkei, Syrien und der Irak aneinandergrenzen, und befand sich in jenem Teil Nordmesopotamiens, in dem Menschen zehntausend vor Christus erstmals sesshaft wurden. Jede Zivilisation, die es zwischen Euphrat und Tigris gab, hinterließ hier ihre Spuren: ob es die Assyrer, Meder und Perser waren, die Römer oder die Byzantiner, zu deren Zeit Heskîf Bischofssitz war, oder die Artukiden, die Seldschuken und die Osmanen. Die mesopotamische Geschichte lässt einen Blick in die Entwicklung des Selbst und des Status quo der Menschheit zu. Heskîf stellte bis vor wenigen Jahren auch noch vieles, was Archäologen über die frühgeschichtliche Landwirtschaft zu wissen glaubten, auf den Kopf.
Der Ilisu-Staudamm ermöglicht der Türkei zudem, den Wasserfluss im Tigris in die Anrainerländer Syrien und Irak beliebig zu unterbrechen. Damit besitzt die türkische Regierung ein Erpressungspotenzial, das die Spannungen in der konfliktreichen Region weiter verschärfen kann. Die Wurzeln für weitere Kriege sind so bereits gesetzt.
Überreste von Genozid-Opfern sollen unter Wasser
Während die Schockstarre nach dem Massaker an der Menschheitsgeschichte in Heskîf schier unauflösbar zu sein scheint, treibt die Türkei auch andernorts ihre zerstörerische Staudammpolitik voran. In Geliyê Zîlan, dem Zîlan-Tal in Erdîş (Erciş), einem Landkreis in der Provinz Wan (Van), werden derzeit vier Wasserkraftanlagen gebaut. Damit würden unzählige Massengräber mit den Überresten tausender Menschen, die 1930 beim Zîlan-Massaker getötet wurden, in Stauseen verschwinden.
Die Wasserkraftanlagen im Dorf Germav (Ilica), durch das der Fluss Zîlan fließt, sind bereits seit 2010 in Planung. Eine Umweltverträglichkeitsprüfung fand nicht statt, da sich das Provinzgouverneursamt und das Ministerium für Umwelt und Städtebau dagegen aussprachen. Daher existiert auch keine systematische Aufnahme des ökologischen Zustandes der Region, geschweige denn eine Analyse der zu erwartenden Veränderungen des Ökosystems.
Das Genehmigungsverfahren für die Kraftwerke endete 2012, mit dem Bau der Anlagen wurde zwei Jahre später begonnen. Nach heftigen Protesten der Menschen aus dem Tal sowie lokalen und internationalen NGOs und einer Reihe von Klagen gegen das Vorhaben beschloss der Oberste Gerichtshof in Ankara einen Baustopp. Doch obwohl das Gericht bestimmte, dass die geplanten Wasserkraftanlagen am Zîlan den türkischen Umweltgesetzen widersprechen, wurden die Bauarbeiten im Schatten der Corona-Pandemie ungestört wiederaufgenommen. Nach dem Massaker an den Menschen im Zîlan-Tal droht fast ein Jahrhundert später ein weiteres: diesmal an seiner Natur, das die Spuren des Genozids aus dem sozialen Gedächtnis auslöschen soll.
Als Tal der Rebellion ins kollektive Gedächtnis eingebrannt
Für die kurdische Gesellschaft ist Zîlan nicht nur ein Tal. Es ist der Ort von Wehklagen, die in Rufe nach Widerstand übergingen. Ein Ort, der sich ins kollektive Gedächtnis der Kurden als das Tal der Rebellion eingebrannt hat. Zîlan ist ein Spiegelbild der kurdischen Widerstandskultur. Anfang des 20. Jahrhunderts, am 13. Juli 1930, verübte der türkische Staat dort ein schweres Massaker – die Zerschlagung des letzten Ararat-Aufstands. Auch heute ist noch unklar, wie viele Opfer das Verbrechen gefordert hat. Gemäß der Cumhuriyet, der meistgelesenen türkischen Tageszeitung in den 1930er bis 1940er Jahren, starben etwa 15.000 Menschen. Nach Angaben von Überlebenden und Teilnehmenden des Aufstands wurden bis zu 55.000 Menschen getötet. Die meisten der Opfer wurden mit Maschinengewehren aus der Sowjetunion durchsiebt. Die UdSSR war damals Hauptwaffenlieferant der türkischen Republik unter Führung ihres Gründers Mustafa Kemal Atatürk.
Profitgier, Korruption und Cliquenwirtschaft
Die Ökologiebewegung Mesopotamiens warnt, dass angesichts der geplanten Stauseen im Zîlan-Tal die landwirtschaftlichen Flächen und das Flussökosystem sowie die Natur irreversibel zerstört werden. Neben der Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten ist vor allem der Anteil endemischer Arten im Zîlan-Tal einzigartig: Flussbarben und Perlbarben, oder die vom urartäischen König Menua angebauten Erdîş-Trauben, deren Lebensräume nun auf dem Spiel stehen. In der Region mit ihren weiten und fruchtbaren Anbaugebieten und Weideflächen wird zudem seit Jahren ertragfähige, multifunktionelle und umweltschonende Landwirtschaft betrieben. Daher handele es sich bei der Regierungspropaganda, wonach der Energiegewinn aus Wasserkraftanlagen in Zîlan der lokalen Bevölkerung nutzen würde, um eine „Verzerrung der Tatsachen und Verschleierung der Wahrheit“, kritisiert die Ökologiebewegung. Immer wieder sei die um ein Vielfaches sanftere Möglichkeit der Solarenergie zur Stromerzeugung vorgeschlagen worden. Doch die Behörden hielten stur an ihrem ursprünglichen Projekt fest - und dass bei den vielen Sonnentagen in Erciş. Es sei kaum zu glauben, dass man sich in den Ämtern der türkischen Regierung dem Potenzial der Sonne nicht bewusst sei. Vielmehr rieche es wiedermal nach Profitgier, Korruption und Cliquenwirtschaft.
DTK: Angriff auf das historische Gedächtnis der Kurden
Die zivilgesellschaftliche Organisation DTK (Demokratischer Gesellschaftskongress) verurteilt die Pläne der Regierung in Zîlan ebenfalls mit scharfen Worten. „Das Tal ist ein bewaldetes Gebiet, in dem viele Tiere in einem riesigen Ökosystem leben. Außerdem stellt die Region mit ihren Weidegebieten und Almen eine wichtige Existenzgrundlage für die Bevölkerung dar. Das Staudammprojekt ist nichts anderes als ein Massaker an der Natur, mit dem das Zentrum des kurdischen Gedächtnisses begraben werden soll.“
Die Genozide der Vergangenheit sollen durch neue Verbrechen verschleiert und Mensch und Umwelt in Kurdistan zerstört werden, erklärt die Organisation weiter. Das kurdische Volk, politische Parteien, zivilgesellschaftliche Organisationen, Frauen und Ökologiebewegungen seien gefordert, gegen das Verbrechen an der Natur und dem gesellschaftlichen Gedächtnis Stellung zu beziehen.