Kommentar: Die Gare-Operation, die Bundesregierung und Menschenrechte

Der deutsche Staat hat ethisch betrachtet seit langem das Recht verwirkt, über Menschenrechte, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu urteilen, insbesondere zu solchen bezüglich Kurd*innen und Kurdistan.

Der deutsche Staat hat ethisch betrachtet seit langem das Recht verwirkt, über Menschenrechte, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zu urteilen, insbesondere zu solchen bezüglich Kurd*innen und Kurdistan. Den Grund hierfür möchte ich im Folgenden erklären.

Die in jeglicher Hinsicht erfolglose Militäroperation des türkischen Regimes im südkurdischen Gare führte neben Verlusten bei beiden Kriegsparteien kürzlich auch zum Tod von 13 Kriegsgefangenen. Die meisten der türkischen Sicherheitskräfte wurden seit fünf Jahren von der PKK festgehalten. Kurdische Medien veröffentlichten des Öfteren Video-Interviews, in denen die Gefangenen ihre Situation erläutern und das Nicht-Handeln sowie das Desinteresse der AKP-Regierung an einer Lösung beklagen. Während nun die türkische Regierung von der Hinrichtung der Gefangenen vonseiten der Guerilla spricht, beteuert die kurdische PKK, die Gefangenen seien durch das türkische Militär getötet worden. Was genau geschehen ist, lässt sich noch nicht zweifelsfrei sagen. Sicher kann jedoch gesagt werden, dass die Art und Weise wie das türkische Militär vorgegangen ist, nämlich die intensive Bombardierung des Ortes, an dem sich die Gefangenen aufhielten, einer tatsächlich beabsichtigten Rettungsaktion widerspricht.

Von Verbündeten und anderen Nationalstaaten wird Solidarität verlangt

Die türkische Regierung versucht derweil auf der Weltbühne aus dieser unklaren und ungeklärten Angelegenheit politisches Kapital zu schlagen. Sie will den Terroristen-Status der PKK bei anderen Staaten bestätigt sehen. Obwohl sie regelmäßig Kriegsverbrechen begeht und das Völkerrecht wie auch Menschenrechte verletzt, spielt sie sich als Opfer von Terrorismus auf. Am Tag nach dem Rückzug des türkischen Militärs empörte sich der Sprecher Erdogans, die Welt schweige zu den „terroristischen Attacken der PKK”. Abgesehen davon, dass nicht die Türkei attackiert wurde, sondern sie die PKK 70 Kilometer tief in fremdem Staatsgebiet angriff, lässt sich das Statement als Aufforderung an Regierungen verstehen, die Position und Perspektive der Türkei zu übernehmen und ihr beizustehen. Von Verbündeten und anderen Nationalstaaten wird Solidarität verlangt. Jede positive Reaktion auf dieses Verlangen der Türkei stützt die türkische Regierung und ihre rassistisch-kolonialistische Kurdenpolitik und ebnet den Weg für weitere Angriffe außerhalb der eigenen Staatsgrenzen.

Kondolationen stehen in direkter Verbindung mit guten Beziehungen 

Der türkischen Aufforderung sind Regierungen von Iran, Katar, Ukraine, Bosnien, Afghanistan und Pakistan gefolgt. Zu jedem dieser Staaten lassen sich gute Gründe für die kalkulierte Solidarität nennen. Während zum Beispiel der Iran im Hinblick auf die kurdische Frage, der gemeinsamen „Bedrohung” durch die kurdische Selbstbestimmung, die gleichen Interessen wie die Türkei verfolgt und deshalb an ihrer Seite steht, führen Staaten wie Pakistan, Katar oder Ukraine und Bosnien gegenwärtig enge politische und ökonomische Beziehungen zu Ankara. Jede ihrer Kondolationen ist nicht humanistisch oder menschenrechtlich motiviert, sondern steht in direkter Verbindung mit – in diesem Fall guten – Beziehungen zur Türkei.

Die USA haben in jüngster Zeit hingegen schlechte Beziehungen zum AKP/MHP-Regime, das Verhältnis ist von diversen Krisen geprägt. Deshalb machte die US-amerikanische Regierung in ihrer Erklärung auf die mangelhafte Informationslage zum Fall aufmerksam und versprach eine Verurteilung der PKK, sollten sich die Behauptungen der türkischen Regierung als korrekt erweisen

Bundesregierung und deutsche Medien übernehmen türkische Propaganda

Und die Bundesregierung? Ihr historisch enges Bündnis mit der Türkei ist mehr oder minder bekannt. Deshalb übernahm sie – zusammen mit dem Großteil deutscher Medien – wie erwartet das Narrativ und die Propaganda der Türkei und verurteilte den sogenannten Terror, „der durch nichts zu rechtfertigen” sei. Weder waren gesicherte Informationen vorhanden, noch war sie gewillt diese abzuwarten. Das zeugt nicht von Sachlichkeit und Ernsthaftigkeit.

Abgesehen davon sollte die Bundesregierung daran erinnert werden, dass eine authentische und redliche Bekundung zu Menschenrechten Aufrichtigkeit und Neutralität voraussetzt. Versteht man die Menschenrechte als universell und über partikularen Interessen von Staaten und Gruppen stehend, dann muss jedes Urteil über sie genauso auf einer übergeordneten humanistischen Ebene und aus der entsprechenden Positionierung resultieren – das unter anderem macht ihre Universalität aus. Für die Bundesregierung trifft ein solches Handeln nicht zu, denn in der kurdischen Frage und im Krieg in Kurdistan ist der deutsche Staat eine mindestens indirekte Kriegspartei. Damit einhergehend kann und will er nicht neutral sein und für Menschenrechte einstehen. Menschenrechte werden gemäß Staatsräson nicht nach einer universalen Rechtslogik propagiert und verteidigt, sondern sie unterliegen einer nationalstaatlichen Machtlogik – je nach Opfer oder Täter wird die Stimme laut oder bleibt stumm. Diesen Sachverhalt beschreiben die zusammenhängenden Begriffe wie „Doppelstandards” und „Heuchelei”.

Wäre dem nicht so, dann hätte die Bundesregierung in ihrem 14. Bericht zu ihrer Menschenrechtspolitik im Kapitel über die Türkei die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), verhaftete kurdische Bürgermeister*innen und Politiker*innen sowie die Zwangsverwaltung kurdischer Städte beim Namen genannt. In ihrem Bericht fehlen aus guten Gründen Begriffe wie „Kurden”, „Kurdisch” oder Namen von kurdischen Personen. Im Gegensatz dazu wird die türkische islamisch-konservative Gülen-Bewegung oder der Kulturmäzen und Türke Osman Kavala im Bericht der Bundesregierung explizit genannt. Warum die Bundesregierung selbst in ihrem Menschenrechtsbericht alles Kurdische diskriminiert und darüber schweigt, ist ein Thema. Ein anderes ist es, sich trotz dieser Parteilichkeit und Diskriminierung als Verfechterin und Verteidigerin von Menschenrechten darzustellen.

Deutsches Giftgas in Helebce, deutsche Panzer in Efrîn

Die Rolle des deutschen (Nazi-)Staates bei der Niederschlagung des kurdisch-alevitischen Aufstands in Dersim 1938 oder die Waffen aus der Bundesrepublik, die die Türkei in ihrem schmutzigen Krieg in den 90er Jahren in Kurdistan einsetzte, sind nicht vergessen und bestätigen die historische Linie bis in die Gegenwart. Sogar der Giftgasanschlag von Saddam Hussein gegen die Kurd*innen in Helebce (Halabdscha) in Südkurdistan wurde mit Chemikalien aus deutscher Produktion begangen. Deutsche Panzer in Efrîn (2017) und in Serêkanîyê sowie in Girê Spî (2019) in Westkurdistan/Rojava und die Argwohn auslösende passive Unterstützung Deutschlands für das völkerrechtlich fragwürdige Vorgehen der Türkei sind noch frisch in Erinnerung. Seit Jahren bombardiert das türkische Militär im Krieg gegen die PKK südkurdische Regionen und es kam regelmäßig zur Ermordung von Zivilist*innen. Nie erhob irgendeine Bundesregierung ihre Stimme und verurteilte die Verbrechen des türkischen Staates. Aber wenn die Türkei in derselben Region eine misslungene Militäraktion beginnt, die im Tod von Kriegsgefangenen endet, dann ist der „Terror durch nichts zu rechtfertigen”. Das ist die Praxis der Heuchelei und Doppelstandards.

Von wegen „Nie wieder Faschismus”

Es sollte auch vor Augen geführt werden, für welchen Akteur und seine menschenrechtsfeindlich-faschistische Mentalität die Bundesregierung Partei ergreift. Von wegen „Nie wieder Faschismus”, den türkischen hat Deutschland nie aufgehört zu unterstützen und hält ihn beharrlich am Leben. Es lassen sich so viele Menschenrechts- und Kriegsverbrechen, Beispiele eines ethisch und rechtlich inakzeptablen Vorgehens. also Menschenrechts- und Kriegsverbrechen der türkischen Staatsorgane aufführen, die Deutschland hätten verurteilen sollen, können, müssen. Hier nur manche davon: Die türkische Armee enthauptete auf sadistische Weise in den 90er Jahren kurdische Kämpfer*innen und machte aus ihren Körperteilen Schlüsselanhänger. Sie schleifte die Körper von Menschen an Panzerwagen gebunden durch die Straßen. Sie schändet noch heute regelmäßig Leichen und Friedhöfe. Sie verwendete mehrmals verbotene chemische Kriegswaffen, nicht nur gegen die PKK-Guerilla, sondern auch in Nordsyrien. Erst 2015 verbrannte die türkische Armee mehr als 170 Zivilist*innen und Studierende in den Todeskellern von Cizîr (Cizre). Die Bundesregierung ist Verbündete eines Staates, der die Leichen von mehr als 260 kurdischen Kämpfer*innen aus einem Friedhof entführt und in Plastikboxen unter einem Gehweg begraben hat. Die „Türken” sollen wortwörtlich den kurdischen Freiheitswillen mit Füßen treten. So ist der kranke und sadistische Charakter des deutschen Partners. Ein Partner, den uns die Bundesregierung als Terrorismusopfer verkauft, anstatt ihn an den Pranger zu stellen oder zumindest die Partnerschaft in Frage zu stellen.

Parteiische und kurdenfeindliche Politik

Nie hat die Bundesregierung je ein Wort zu den niederträchtigen Taten, den Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen der Türkei gesprochen – aber auch das Nichtsagen und das Nicht-Gesagte werden vernommen, mindestens von den Betroffenen. Der deutsche Staat war und ist vielmehr an zahlreichen Verbrechen der Türkei beteiligt, weil er die Türkei als Vasallen, als Markt und als Tor zu weiteren mittelöstlichen Märkten und Ressourcen betrachtet. Die jüngste Verurteilung des angeblichen Terrors der kurdischen PKK basiert nicht auf gesicherten Informationen und wahrem Humanismus, sondern auf einer parteiischen Politik der Bundesregierung, auf eine Partnerschaft mit der Türkei, die im Ergebnis in Kurdenfeindlichkeit resultiert. Sie hat geostrategische, ökonomische und politische Gründe und Motive, resultiert aber nicht aus einer ernstzunehmenden menschenrechtlichen Position. Wäre dem so, dann hätte sie, wie offizielle kurdische Stimmen es tun, unabhängige und lückenlose Untersuchungen gefordert.


Titelfoto: Thorsten Schröder/flickr