Unter dem Namen „Anfal-Operation“ hat das irakische Militär in der Spätphase des Ersten Golfkrieges (1980-1988) eine Reihe von Massakern an der kurdischen Bevölkerung sowie Angehörigen der assyrischen und chaldäischen Minderheiten verübt. Anfal bedeutet übersetzt „Kriegsbeute“ und bezieht sich auf die achte Sure des Koran, welche eine strategische Kriegshandlung gegen Ungläubige beschreibt. Unter dem Vorwand der Aufstandsbekämpfung wurden im Verlauf dieser genozidalen Maßnahmen bis zu 182.000 Menschen ermordet. Die Partei DIE LINKE fordert nun in einem Antrag die Bundesregierung auf, die Verbrechen der irakischen Armee als Völkermord anzuerkennen und Gerechtigkeit für die Opfer herzustellen. In den Genozid waren auch deutsche Firmen verwickelt. Der Antrag wird vermutlich im März diskutiert.
Gewaltmaßnahmen zielten auf Vernichtung von Menschengruppen ab
Die zwei größten kurdischen Organisationen im Irak – PDK und YNK – hatten sich im Ersten Golfkrieg mit dem Iran verbündet. „Gemäß den Direktiven des damaligen Leiters der Militäroperation, Ali Hasan al-Madschid, wurden alle Männer im wehrfähigen Alter von 15 bis 70 Jahren exekutiert sowie Massenfolterungen, Massaker und Deportationen unter unmenschlichen Bedingungen auch von Frauen und Kindern durchgeführt. Die staatlichen Gewaltmaßnahmen zielten in ihrer Gesamtheit darauf ab, die Menschen unabhängig von ihrer individuellen politischen Einstellung zum irakischen Regime allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu ethnisch bzw. religiös definierten Menschengruppen als solche zu verfolgen und zu vernichten”, heißt es in dem Antrag. Der gruppenbezogene Vernichtungsvorsatz erfülle damit alle Merkmale des Völkermords nach der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords von 1948.
Senfgasbomben auf Serdeşt und Helebce
„Die Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten wurde lebensfeindlichen Bedingungen ausgesetzt. In mindestens 42 Fällen ist der Einsatz von Giftgas dokumentiert”, unterstreicht die Linksfraktion. Größere Bekanntheit erlangte in der Öffentlichkeit der Giftgasangriff von Helebce (Halabdscha) am 16. März 1988, bei dem an einem einzigen Tag über 5.000 Menschen getötet wurden. Erst infolge dieses Angriffs wurde auch die Bombardierung von Serdeşt (Sardascht) der Weltöffentlichkeit bekannt. Am 28. Juni 1987 wurden von der irakischen Luftwaffe über Wohngebieten und Dörfern der kurdischen Stadt im Iran in zwei Angriffsflügen insgesamt vier jeweils 250 Kilogramm schwere Bomben mit Senfgas abgeworfen. Mindestens 130 Menschen wurden getötet. Die Auswirkungen des Einsatzes von Senfgas reichen in Serdeşt und Helebce jedoch bis in die Gegenwart. Noch immer kämpfen die Menschen mit den Spätfolgen wie bösartigem Krebs oder Hautkrankheiten, Atemproblemen durch Lungenfehlbildungen, Unfruchtbarkeit, Fehlgeburten und anderen angeborenen Missbildungen. Die Zahl der von diesen Erkrankungen betroffenen Menschen ist im Vergleich zu Regionen, die von den Giftgasangriffen Saddam Husseins verschont blieben, deutlich höher. Insgesamt beinhaltete die Kriegsführung gegen Teile der eigenen Bevölkerung und den Iran einen der weltweit umfangreichsten Einsätze von international geächteten Chemiewaffen. Die Massenverbrechen endeten im September 1988, nachdem der größte Teil der ehemaligen kurdischen Gebiete entsiedelt und arabisiert worden war.
4000 zerstörte Dörfer
Zu den über 180.000 Todesopfern der irakischen Massaker in Kurdistan kamen im Verlauf der sogenannten „Anfal-Operation“ über 4.000 zerstörte Dörfer, etwa 1.800 Schulen, 300 Krankenhäuser, 3.000 Moscheen und 27 Kirchen hinzu, die das Militär dem Erdboden gleichmachte. „Die Agrarökonomie in den betroffenen Gebieten wurde völlig umstrukturiert, um der verbliebenen Bevölkerung jegliche Möglichkeiten zur Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln zu nehmen. Zu diesem Zweck wurden Flüsse und Brunnen vergiftet, um die Trinkwassernutzung und die landwirtschaftliche Nahrungsmittelproduktion zu unterbinden. Stattdessen wurde ein flächendeckendes unproduktives Lagervorratssystem eingeführt, dessen zu geringe Nahrungsrationen oft zum Tod durch Verhungern führten”, wird im Antrag der Linkspartei weiter ausgeführt.
70 Prozent der Produktionsanlagen aus Deutschland
Rund 60 Unternehmen aus der Bundesrepublik Deutschland, darunter Preussag, Water Engineering Trading GmbH (W.E.T.), Karl Kolb und Pilot Plant, lieferten allein etwa 70 Prozent der Produktionsanlagen für die chemischen Kampfstoffe. Spätestens seit 1984 war die Bundesregierung durch den Bundesnachrichtendienst und US-Geheimdienste über die Rolle deutscher Firmen beim Bau der irakischen Giftgaslabore informiert. Dennoch genehmigte die Bundesregierung weiterhin die Exporte. Nach Angaben der Bundesregierung wurde bislang gegen 22 Beschuldigte aus zehn deutschen Unternehmen wegen Verstößen gegen das Außenwirtschafts- bzw. Kriegswaffenkontrollgesetz ermittelt. Nach jahrelangen Verfahren vor dem Landgericht Darmstadt endeten die Prozesse 1994 bzw. 1996 mit der Verhängung von drei Bewährungsstrafen sowie Verfahrenseinstellungen und Freisprüchen.
Es ist überfällig, dass sich der Bundestag dieses verdrängten Kapitels annimmt
International wurden die Verbrechen des Regimes von Saddam Hussein am 17. März 2011 durch das irakische Parlament, am 5. Dezember 2012 durch das schwedische Parlament und zuletzt am 28. Februar 2013 durch das britische Parlament als Völkermord anerkannt. „Es ist überfällig, dass sich der Deutsche Bundestag dieses verdrängten Kapitels annimmt und die Verbrechen als Völkermord anerkennt, auch um die Aufnahme von Strafverfolgungsmaßnahmen nach dem Völkerstrafgesetzbuch zu ermöglichen, da diese keinen Verjährungsfristen unterliegen”, so die Partei DIE LINKE. Denn nur durch die umfassende Anerkennung und Aufarbeitung von begangenen Völkerrechtsverbrechen könne den Opfern späte Gerechtigkeit widerfahren und dem Auftreten neuer konfliktbedingter Gewalt entgegengewirkt werden. „Das Thema wurde bis heute in Deutschland nicht angemessen aufgearbeitet.” Der Bundestag möge zudem beschließen, in der Entwicklungszusammenarbeit mit dem Irak gezielte Unterstützungsmaßnahmen auch für die Überlebenden des Völkermords und ihre Angehörigen bereitzustellen, um die bislang nur unzureichend behandelten gesundheitlichen Spätfolgen besser zu bewältigen, die wirtschaftliche und ökologische Rehabilitierung von zerstörten Gebieten in der heutigen Autonomen Region Kurdistan weiter zu unterstützen sowie die öffentliche Aufarbeitung der staatlichen Gewaltverbrechen zu fördern, um ihre strukturellen Ursachen in der irakischen Gesellschaft angemessen zu bearbeiten und damit dem Auftreten von neuer konfliktbedingter Gewalt vorzubeugen.