Halabja: 30 Jahre unvergängliches Leid

Vor 30 Jahren verübte die irakische Luftwaffe einen Giftgasangriff auf die kurdische Stadt Halabja (Helebce). Das Resultat: Mindestens 5000 Tote und 7000 Verletzte mit dauerhaften Gesundheitsschäden.

Die „Verteidigungsschriften“ des kurdischen Volksrepräsentanten Abdullah Öcalan sind nicht nur einfach Texte, sondern anspruchsvolle Perspektiven und Prognosen für die Zukunft. Zum Beispiel schrieb Öcalan unter anderem folgendes: „Angesichts der gegenwärtigen Lage und in Anbetracht der jüngst geschehenen Massaker von Halabja, sowie allen anderen ethnischen und religiös motivierten Massenmorden, sind die Schrecken der zukünftigen nationalstaatlichen Konflikte besser zu verstehen.“

Die von Öcalan angesprochenen Schrecken finden heute statt. Sie werden jedoch nicht richtig gedeutet. Denn heute rennen wir mit offenen Augen einer Tragödie wie in Halabja entgegen, während die Welt zusieht. Bereits vor Jahren hat auch ein anderer Denker auf diese Situation aufmerksam gemacht. Der Linguist und linke Intellektuelle Noam Chomsky schrieb 2006 über Halabja: „Das ist eine schreckliche Geschichte… Während dieses großen Verbrechens taten die USA und Großbritannien nichts. Das darf nicht vergessen werden. Es gab zwar Versuche, diese Tat in den USA zu verurteilen, aber das Kabinett Reagan hat es verhindert. Der Pentagon begann dann Geschichten darüber zu erfinden, dass nicht Saddam, sondern die Iraner das Giftgas abgeworfen hätten.“

Solche Aussagen kennen wir nur zu genau. Heute, wieder in einem März, erleben wir es erneut. In Bezug auf die jüngere Geschichte des kurdischen Freiheitskampfes ist der März mit all den Entwicklungen und Ereignissen, die er umfasst, und dem Widerstandswillen, den er in sich trägt, der stürmischste Monat überhaupt. Jeder einzelne Tag ist von großer Bedeutung. Einer dieser Tage ist zweifellos der 16. März, der Tag des Massakers von Halabja. Um es genau zu sagen: Der Giftgasangriff auf Halabja vom 16. März 1988.

Wenn wir heute das Massaker von Halabja betrachten, ist das Ausmaß der Grausamkeit an den Kurd*innen noch viel klarer zu erkennen. Der Prozess, der sich von Kobanê bis nach Şengal, von Cizîr bis nach Efrîn erstreckt, liegt noch vor uns. Denn den Diktatoren, nationalstaatlichen Überresten und den Überlegenen fällt es leicht, die Kurd*innen in ihrem Machtkampf zu opfern.

Erinnern wir uns daran, was in Halabja geschah…

An diesem Tag im März nahmen die Menschen in Halabja zunächst einen lieblichen Duft wahr. Es roch nach süßen Äpfeln. Doch wenige Minuten später bekamen die Menschen in Halabja Atemnot und sind qualvoll erstickt. Manche von ihnen sind verbrannt, andere von den Bomben in Stücke gerissen worden. Von denen, die zurückblieben, verschwanden Zehntausende. Oder fielen in die Hände von Exekutionskommandos. Bei lebendigem Leib wurden sie in Massengräber geworfen und dem Tod überlassen.

Halabja ist die in die Tat umgesetzte al-Anfal-Sure, die Rechtfertigung für das Töten von Kurd*innen unter der Maske der Religion. Die al-Anfal-Sure besagt: „Als dein Herr den Engeln eingab: Gewiss, Ich bin mit euch. So festigt diejenigen, die glauben! Ich werde in die Herzen derer, die ungläubig sind, Schrecken einjagen. So schlagt (ihnen auf) die Nacken und schlagt von ihnen jeden Finger!“ Während die Anfal-Operation nach der 8. Sure des Korans benannt wurde, sollte ihre Offenbarung als Maske für den Genozid an den Kurd*innen dienen. Die Anfal-Operation, sprich Bodenoffensiven, Luftschläge, die systematische Zerstörung von Siedlungsgebieten und die damit einhergehende massenhafte Zwangsvertreibung, Mädchen und Frauen, die in andere arabische Länder gebracht wurden und verschwanden, Konzentrationslager, Massenhinrichtungen, Exekutionskommandos und der Einsatz von Chemiewaffen, war nichts anderes als eine systematische Völkermordsoffensive.

Unter dem Namen Anfal-Operation hat das irakische Baath-Regime zwischen 1986 und 1989 eine Reihe von Angriffen auf die kurdische Bevölkerung in den ländlichen Gebieten des Nordirak durchgeführt. 1988 erreichte die Operation ihren Höhepunkt. In Völkermordsabsicht wurden die vor Beginn der Massaker in den kurdischen Gebieten ausgerufenen „Sperrgebiete“ erweitert und die dortige Bevölkerung zwangsvertrieben. Anhand der Daten aus der Volkszählung vom 17. Oktober 1987 wurden die Menschen unabhängig von Alter und Geschlecht bezichtigt, iranische Agenten zu sein, und zur Flucht genötigt. Die, die geblieben sind, wurden ausgebürgert. Quasi wie der vom türkischen Besatzerstaat angewendete „Zerschlagungsplan“. Während der Anfal-Operation sind 182.000 Kurd*innen getötet, mehrere Millionen verletzt, vertrieben und in Konzentrationslagern dem qualvollen Tod durch Hunger und mangelnde Pflege überlassen worden. Fast 4.000 Dörfer, 1.800 Schulen, 300 Krankenhäuser, 3.000 Moscheen und 27 Kirchen wurden dem Erdboden gleichgemacht.

Der Völkermord in Halabja erfolgte mit der Prämisse: „Bis kein einziges kurdisches Haus mehr steht“. Ali Hasan al-Madschid, mit Spitznamen Chemie-Ali, war zuständig für die Bombardierungen und motivierte seine Exekutionskommandos unter dem Motto „Die Köpfe gehören uns, die Habseligkeiten euch“ und hielt sein grausames System mit Ghanima, der Kriegsbeute, aufrecht, so wie es heute auch der Islamische Staat tut. Überlebende berichten, dass während der Anfal-Operation ‚alle Habseligkeiten der Kurden, einschließlich ihrer Frauen erbeutet wurden‘.

Um den Iran in Schach und die Strategie „Grüner Gürtel“ auf dem gewünschten Niveau halten zu können, wurde das Saddam-Regime auf das Chomeini-Regime angesetzt. Die westlichen Staaten boten dem Saddam-Regime alle Arten materieller, technischer und diplomatischer Unterstützung an. In den Notzeiten Saddams eilten ihm die NATO-Mitgliedsstaaten zur Hilfe. Das Gleiche tun sie heute für Erdoğan. Für ihre eigenen Interessen verschließen sie ihre Augen vor Erdoğans Kurdenfeindlichkeit.

Mit den heutigen Gesetzen in der Türkei wird Halabja erneut ins Leben gerufen. Die Gesetze, auf die sich Chemie-Ali stützte, die Praxis von Verbotszonen (Paragraf 1), die Erlaubnis für Soldaten, auf Personen in verbotenen Gebieten nach Gutdünken das Feuer zu eröffnen (Paragraf 2), ein ökonomisches Embargo über die Regionen (Paragraf 3), die Erlaubnis des Einsatzes aller Waffen, - Flugzeuge, Artillerie, Panzer und Hubschrauber - (Paragraf 4), die Hinrichtung derjenigen, die diese Gesetze nicht befolgen (Paragraf 5), willkürliche Festnahmen (Paragraf 6) und die Deklaration der geraubten Wertgegenstände und Waffen als Kriegsbeute (Paragraf 7), stehen heute als exakte Kopie erneut auf der Tagesordnung.

Halabja war ein Massaker, das die Menschheit bezeugen kann und bei dem die internationalen Mächte Komplizen waren. Etwa 5.000 Kurd*innen sind gnadenlos ermordet worden und weder die Kräfte, die im Namen des Sozialismus agierten, noch die Kräfte der kapitalistischen Moderne, die sowieso das faschistische Saddam-Regime unterstützten, zeigten eine Reaktion und machten sich damit zu Komplizen dieses Verbrechens. Wir stehen einerseits den imperialistischen Kräften und den reaktionären faschistischen Regionalstaaten gegenüber, andererseits einer kollaborierenden kurdischen Realität, die alles daransetzt, eine Einheit unter den Kurd*innen zu verhindern. Die Politik dieser Kräfte, welche die Kurd*innen historisch in der Rolle einer Kolonie halten beginnt mit dem Abkommen von Sykes-Picot vom 16. Mai 1916.

Obwohl dreißig Jahre vergangen sind, sind die Wunden so frisch wie am ersten Tag. Über den Menschen von Halabja, die sich gerade auf Newroz vorbereiteten, wurden am Morgen des 16. März 1988 um 11.00 Uhr von der irakischen Luftwaffe Chemiewaffen aus acht MiG-23-Flugzeugen abgeworfen. 5.000 Menschen wurden getötet. Mindestens weitere 7.000 wurden verletzt.

Am 19. August 1988 wurde ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Iran und dem Irak unterzeichnet. Fünf Tage später wurde Halabja von den irakischen Streitkräften eingenommen. Obwohl es dort einen der größten Chemiewaffenangriffe der Welt gegeben hatte, wurde dieser erst am 1. März 2010 vom Hohen Strafgerichtshof des Iraks als Völkermord anerkannt. Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit von Halabja wurde von den internationalen Kräften dennoch bis heute nicht als Völkermord anerkannt.

Halabja erinnert an Hiroshima und Nagasaki. Fuat Baban, Mitglied des Lehrkörpers der medizinischen Fakultät von Silêmanî, erklärte in der Ausgabe des „Sydney Morning Herald“ vom 7. Dezember 2002, dass die Geburtenrate von Kindern mit Behinderungen in Halabja diejenige von Hiroshima und Nagasaki vier- bis fünffach übersteigt.

Halabja ist das kurdische „Guernica“

Das Massaker von Halabja hat seine Aktualität nicht verloren. Wir gedenken der Toten von Halabja voller Achtung.