Ein Leben in Würde für Alle: Ein Beispiel in Mexiko-Stadt

Anlässlich des 30-jährigen Jubiläums „des Krieges gegen das Vergessen“ besuchten rund 25 Internationalist:innen die autonome Kommune Acapatzingo im Südosten von Mexiko-Stadt.

Im Zuge der internationalen Karawane in die zapatistischen Gebiete anlässlich des 30-jährigen Jubiläums „des Krieges gegen das Vergessen“ besuchten rund 25 Internationalist:innen die autonome Kommune Acapatzingo im Südosten von Mexiko-Stadt.

Das Dorf mit rund 3000 Bewohner:innen ist eine von sieben autonomen Kommunen der Organisascion Popular Fransciso Villa Izquierda Independiente1, die sich 1988 im Zuge studentischer Bewegungen und auf Basis marxistisch-leninistischer Ideale gegründet und sich zum Ziel gesetzt hat, würdigen Lebensraum für alle Menschen zu erkämpfen und aufzubauen.

 


Francisco Villa, auch Pancho Villa genannt, war einer der prominentesten Guerillakommandanten der mexikanischen Revolution gegen die Diktatur von Präsident Porfirio Díaz. Villa wurde von der neuen Regierung als Ikone dargestellt, obwohl er von ebendieser Regierung umgebracht wurde. Für die Organisation Popular haben Pancho Villa und auch Emiliano Zapata – Namensgeber der zapatistischen Organisierung in Südostmexiko und ebenfalls revolutionärer Kommandant – eine große Bedeutung. So ist, sich als Erbe der ermordeten Revolutionäre zu verstehen, eine stetige Erinnerung an die Werte für ein würdevolles Leben, das nur erreicht werden kann, wenn die Macht in den Händen der Gesellschaft liegt.

Die Kommune Acapatzingo lebt gemeinsam auf einem 1996 besetzten Gebiet, das sich seit einigen Jahren in einem Legalisierungsprozess befindet und Stück für Stück von den Bewohner:innen aufgekauft wird. In den Berichten von einem Sohn des Mitbegründers wurde die Rolle des Erdbeben 1985 für die Gründung eines solchen Projekts besonders deutlich. Dieses forderte zehntausende Verletzte, tausende Tote und extreme Beschädigungen von Wohnraum, sodass offizielle Stellen eine Viertelmillion Obdachlose zählten. Die Erschütterung ging in die Geschichte der stärksten Erdbeben in Mexiko ein. Als der Staat und die Regierung dem Zweck der Aufbaugelder nach dem Erdbeben nicht nachkam und riesige Teile der Gesellschaft sich selbstständig um Wohnraum und den Wiederaufbau sorgen mussten, war klar, dass es ein autonomes, würdevolles und wertebasiertes Lebenskonzept für möglichst viele Menschen braucht.

So entstand die Gemeinschaft Acapatzingo nach folgenden Prinzipien: Macht von unten, Kritik und Selbstkritik, Solidarität und Unabhängigkeit von Staat und Parteien. Das alles vereint die Gemeinschaft in einem demokratischen System. Entscheidungen, Zielsetzungen und Ausrichtungen für das Dorf werden in der Basisversammlung getroffen, die alle zwei Jahre stattfindet.

In der Zwischenzeit werden die Arbeiten von den neun Kommissionen übernommen, in denen mindestens eine Person aus jeder der 28 Bezugseinheiten (dort Brigaden genannt) mitarbeitet. Kommissionen gibt es für Gesundheit, Sport, Kultur & Bildung, Kommunikation, Sicherheit, Finanzen, Landwirtschaft, Bau und Wartung sowie „Listas“ (Koordination der Beteiligung aller Mitglieder). Eine eher übergreifende Kommission ist die „Comision politica“. Diese diskutiert ideologische Fragen und berät die anderen Kommissionen und setzt Impulse.

Alle Arbeiten in der Kommune werden ehrenamtlich geleistet. Die meisten Bewohner:innen gehen parallel auch einer Lohnarbeit nach, von deren Einkommen sie 15 Prozent an die Gemeinschaftskasse geben, von der gemeinsame Kosten des Dorfes finanziert werden können.

Das Dorf umfasst 596 gleichgroße, bunt angemalte Wohneinheiten. Zwischen den Wohnblöcken gibt es für alle Bewohner:innen unterschiedliche Gemeinschaftsflächen wie Sportplätze, Veranstaltungsbühnen, Sportgeräte und Sitzmöglichkeiten mit integrierten Schachbrettern für ältere Menschen. Die Gemeinschaft zapft zum Teil städtisches Wasser ab, fängt Regenwasser auf und speichert Grauwasser, das in der eigenen Wasseraufbereitungsanlage zu Trinkwasser verarbeitet wird, mit dem alle Bewohner:innen versorgt werden können. Das Konzept der Wasseraufbereitung war sehr beeindruckend und hat mittlerweile auch in anderen Projekten ihre erfolgreiche Umsetzung gefunden.

Bemerkenswert ist, dass jede Kommission eine eigens beauftragte Person für die Belange von Kindern umfasst, damit nicht nur Erwachsene sich politisch beteiligen und die Interessen der Kinder gehört und umgesetzt werden. Denn wenn der Kampf eine Zukunft haben soll, braucht es auch Kinder und Jugendliche, die diese Werte vertreten. Eine der Jugendlichen erzählte in einem Gespräch, dass es bis zum Corona-Lockdown auch einen Jugendrat gab.

In diesem Jahr war ein konkretes Praxisbeispiel der Kulturkommission, am 8. März der Frauen der Gemeinde zu gedenken, diejenigen, die Tag für Tag dafür kämpfen, den kapitalistischen, unterdrückerischen Verhältnissen ein Ende zu setzen. Das Thema wurde in den Mittelpunkt gerückt, damit sich alle bewusst machen...

...dass wir als Frauen viel wert sind und dass wir es verdienen, eine Stimme zu haben und unseren eigenen Raum zu gewinnen, ohne Schuldgefühle, weil wir denken, dass wir das Haus oder die Familie vernachlässigen. Denn wir sind uns darüber im Klaren, dass nicht die Männer schuld sind, sondern das patriarchalische System, das von unseren Vorfahren stammt, mit den Vorstellungen und Bräuchen, in denen Männer als die Stärksten angesehen wurden und daher mehr Privilegien haben sollten.“2

Ein Großteil der Arbeit in den Kommissionen wird von Frauen geleistet. Ihre Perspektiven sind dementsprechend in allen Bereichen vertreten und ihre Mitbestimmung garantiert.

Neben einem eigenen Radiosender für Musik, Berichte der Kommissionen und Ankündigungen gibt es auch ein Gesundheitszentrum, in dem der ganzheitliche Ansatz der Organisation deutlich wird. Gesundheit wird hier nicht nur als Abwesenheit von technisch nachweisbaren Krankheiten definiert, sondern alle Aspekte des Lebens, von mentaler Gesundheit, über Sport, Ernährung und Prävention werden hier diskutiert und mit den Bewohner:innen geteilt. Durch sinnvolle Maßnahmen während der Corona-Pandemie hatte das Dorf viel weniger Tote zu verzeichnen als die umliegenden Stadtteile.

Es war, für den Blick einer an die Arztbesuche in Deutschland gewöhnten Person, sehr besonders und erleuchtend, als die Frau, die die Gesundheitskommission vertrat, sagte: „Wenn jemand ein langfristiges Problem mit seiner direkten Nachbarin hat, dann gibt es hier ein medizinisches Problem! Denn für ein gesundes, würdevolles Leben in einer Gesellschaft, wo sich verbindlich und eng aufeinander bezogen wird, braucht es gesunde zwischenmenschliche Beziehungen. Wir sollten dem Blick auf Gesundheit, der nicht nur von messbaren Werten und klaren Kategorien bestimmt ist, einen viel größeren Wert in unserer Gesellschaft geben!“ Das haben einige der Internationalist:innen in die Diskussionen am Abend mitgenommen.

Der kurze Einblick in die praktische Umsetzung eines würdevollen Zusammenlebens konnte zahlreiche Inspirationen für die politische Arbeit in Europa liefern und wird bei allen sicherlich noch nachklingen.

Titelbild: Bibliothek und Bildungsort der Kommune

1https://opfvii.org/

2¡¡Mujer despierta!! Así saldrás de esta…(http://opfvii.org/2023/03/16/mujer-despierta-asi-saldras-de-esta/)