Strukturelle Missstände in türkischen Gefängnissen
Der Menschenrechtsverein IHD hat am Dienstag in der nordkurdischen Stadt Dersim (tr. Tunceli) eine Kundgebung unter dem Motto „Freiheit für kranke Gefangene“ durchgeführt. Im zentralen Künstlerviertel versammelten sich Vertreter:innen politischer Parteien und zivilgesellschaftlicher Organisationen zu einer Mahnwache mit anschließender Presseerklärung.
Ein Transparent mit der Aufschrift „Wir verteidigen das Leben – kranke Gefangene müssen freigelassen werden“ bildete den Rahmen der Veranstaltung. Die Erklärung wurde von Hüseyin Yaşar Sezgin, Vorstandsmitglied der IHD-Sektion in Dersim, verlesen.
In dem Statement prangerte der IHD eine zunehmende Verschlechterung der Haftbedingungen in türkischen Gefängnissen an und sprach von systematischen Menschenrechtsverletzungen. Besonders schwer wiege die Situation schwerkranker Gefangener, deren gesundheitlicher Zustand sich durch mangelnde Versorgung weiter verschlechtere.
„Die Informationen, die uns durch Beobachtungen, Kommissionen und direkte Anträge erreichen, zeigen eindeutig, dass die Rechtsverstöße ein strukturelles Ausmaß angenommen haben“, so Sezgin. Dazu zählten insbesondere die „Zerstreuungspolitik“ – Verlegungen in Gefängnisse in teils tausenden Kilometern Entfernung zum Heimatort – oft noch vor einer formellen Anklage. Das treffe nicht nur die Gefangenen selbst, die so von ihrem sozialen Umfeld isoliert werden, sondern auch ihre Familien, die dadurch keinen Zugang mehr zu Besuchen haben und durch überlange Anreisen ebenfalls bestraft werden.
Ein weiteres Problem sei die Unterbringung in sogenannten „Brunnen-Gefängnissen“ – Hochsicherheitsanstalten des Typs S, Y oder F –, in denen Gefangene über 23 Stunden am Tag in Einzelhaft gehalten werden. Dies stelle eine Form der physischen und psychischen Isolationsfolter dar, erklärte Sezgin.
Der Aktivist listete zahlreiche Missstände auf, mit denen laut IHD-Recherchen insbesondere kranke Inhaftierte konfrontiert seien:
– Überbelegung, mangelhafte Ernährung und Hygiene
– Eingeschränkter Zugang zu medizinischer Versorgung
– Verzögerte oder verweigerte Überstellungen in Krankenhäuser
– Untersuchungen in gefesseltem Zustand, erniedrigende Kontrollen
– Medikamentenmangel und fehlende Information über Diagnosen
– Isolierung von schwerkranken oder behinderten Gefangenen in Einzelzellen
– Verweigerung von Haftverschonung trotz gesetzlicher Möglichkeiten
All diese Praktiken stünden im Widerspruch zu nationalem Recht und internationalen Abkommen, denen die Türkei beigetreten sei, betonte Sezgin. „Die Aufgabe des Staates ist es, das Leben und die Würde von Gefangenen zu schützen. Doch heute sind viele schwerkranke, alte oder behinderte Gefangene systematischen Vernachlässigungen und bewussten Maßnahmen ausgeliefert“, so der Menschenrechtler.
Der IHD forderte:
– die sofortige Freilassung von Inhaftierten, die in Gefängnissen nicht ausreichend medizinisch versorgt werden können,
– ein Ende der Zerstreuungs-Verlegungen,
– eine Inhaftierung in Wohnortnähe,
– diskriminierungsfreien Zugang zu Gesundheitsdiensten,
– die Abschaffung von Isolationshaft und den sogenannten „Brunnen-Gefängnissen“.
Die Aktion endete mit einer stillen Sitzblockade auf dem Platz.