„Es ist, als würde ich neu geboren“
Im Alter von 70 Jahren drückt Mihemed Tahir El-Yunis noch einmal die Schulbank – aus Überzeugung und mit einem lang gehegten Ziel: Endlich Kurdisch lesen und schreiben lernen. In der nordostsyrischen Stadt Til Temir, im Kanton Cizîrê, nimmt der Senior Tag für Tag am Unterricht teil – mit Stift, Heft und einer großen Portion Entschlossenheit.
„Ich habe in meinem ganzen Leben nie eine Schule besucht“, sagt El-Yunis. „Zu Zeiten des Baath-Regimes war Kurdisch praktisch verboten. Kurdisch war nicht nur keine Unterrichtssprache – das Sprechen der Sprache war kriminalisiert.“ Die systematische Unterdrückung von Sprache und Kultur habe tiefe Spuren hinterlassen, so El-Yunis.

Seit dem politischen Umbruch in der Region hat sich vieles geändert. Mit der Rojava-Revolution vom 19. Juli 2012 und der Gründung der Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens im Jahr 2014 wurden Kurdisch, Arabisch und Aramäisch als gleichberechtigte Amtssprachen anerkannt. Die Bevölkerung erhielt erstmals das Recht, in der eigenen Sprache zu lernen und zu lehren.
Für El-Yunis begann damit ein neuer Lebensabschnitt. Im Klassenzimmer wird er zunächst alphabetisiert, erlernt die Schrift seiner Sprache, schreibt erste Sätze an die Tafel, und holt nach, was ihm Jahrzehnte lang verwehrt blieb. Trotz körperlicher Einschränkungen sei er geistig so wach wie nie, sagt er. „Es ist, als würde ich neu geboren.“

Doch für El-Yunis ist das Erlernen seiner Muttersprache mehr als Bildung. Es ist ein Akt der Selbstbehauptung. „Sprache ist Identität“, betont er. „Wer sie verliert, verliert sich selbst. Deshalb sage ich allen, denen es ähnlich geht: Kehrt zurück zu eurer Sprache. Lernt sie, sprecht sie, gebt sie weiter an eure Kinder. Es ist ein unbezahlbares Gut.“
Zum Schluss seiner Erzählung dankt El-Yunis jenen, die aus seiner Sicht diesen Wandel ermöglicht haben. Besonders betont er den Einfluss des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan, dessen Ideen ihm „geistige Freiheit“ verschafft hätten. Ebenso denkt er an die Gefallenen, die für die Autonomie der Region ihr Leben gelassen haben. „Ihnen verdanken wir, dass wir heute in unserer Sprache lernen können – mit Würde und in Freiheit.“