Mehrsprachige Bildung in Nord- und Ostsyrien

Lehrkräfte in Nord- und Ostsyrien beschreiben die Form der Bildung in Nord- und Ostsyrien als eine „Revolution“, die große Erfolge hervorgebracht habe. Jetzt sei es jedoch notwendig, über langfristige Strategien nachzudenken.

Seit der Revolution in Nord- und Ostsyrien wird in der Region ein mehrsprachiges Bildungssystem in Muttersprache aufgebaut. Trotz der Kriegssituation konnte das Bildungssystem große Erfolge erringen und stellt einen Vorgeschmack dar, wie ein friedlicher und demokratischer Mittlerer Osten in Zukunft aussehen könnte.

In der Grundschule wird bis zur dritten Klasse in Muttersprache unterrichtet, ab der vierten Klasse kommt eine weitere Landessprache hinzu und der Unterricht findet zweisprachig statt. Ab der fünften Klasse beginnt der Fremdsprachenunterricht. In Nord- und Ostsyrien werden etwa 790.000 Schülerinnen und Schüler nach diesem Modell unterrichtet.

Das neue Bildungsjahr in Nord- und Ostsyrien begann im Spätsommer mit der Verteilung des Unterrichtsmaterials in allen Orten der Region. Der Unterricht musste jedoch zunächst wegen der türkischen Invasion und anschließend vor dem Hintergrund der Coronavirus-Pandemie unterbrochen werden. Mittlerweile wird der Unterricht per Homeschooling über den Fernsehsender Rojava TV fortgesetzt. Diese Form der Schuldbildung bietet so überall auf der Welt Menschen die Gelegenheit, das Schulsystem in Rojava näher kennenzulernen und es zu bewerten. Über das Homeschooling in Nord- und Ostsyrien haben wir mit Menan Mihemed Emîn und Goran Şakir vom Bildungskomitee des Kantons Qamişlo gesprochen.

Homeschooling bei Rojava TV

Die Bildungsrevolution von Rojava

„Mit der Revolution haben wir eine weitere Revolution vollzogen. Das war die Bildungsrevolution“, sagt Emîn direkt zu Beginn unseres Gesprächs und erinnert daran, dass Muttersprachlichkeit von Beginn an eines der Grundprinzipien der Revolution war. Er fährt fort: „Wir haben zuerst die Grundlagen für das Erlernen der Muttersprache gelegt und mit dem Alphabet begonnen. Dann sind wir Schritt für Schritt an die Schulen gegangen. Damals war das Regime noch stark und es war überhaupt nicht einfach. Es waren sehr schwierige Tage, aber unsere Entschlossenheit war stärker. Von Jahr zu Jahr konnten wir größere Schritte in diese Richtung unternehmen.“

Den größten Kampf für Muttersprache führten Frauen

Goran Şakir fügt hinzu: „Wir wollen endlich unsere Geschichte, unsere Kultur und unsere Folklore in unserer eigenen Sprache lernen. Die Sprachrevolution haben weibliche Lehrkräfte angeführt. Diejenigen, die zu Beginn der Revolution die Schulen aufbrachen und mit den ersten Kursen auf Kurdisch begannen, waren ebenfalls Lehrerinnen. Wenn eine Dorfschule beispielsweise beschlagnahmt und wiedereröffnet wurde, dann wurde sie schnell zu einem Versammlungsort für den ganzen Ort. Die Türen der Schulen wurden von Müttern eingeschlagen. Es war so, als ob alle auf so einen Tag gewartet hätten.“

Bildungsmodell auf Grundlage der Demokratischen Nation

Goran Şakir erzählt, dass es zunächst nur solche Lehrkräfte gab, die vor der Revolution an geheimen Kurdisch-Kursen teilgenommen hatten, aber nach den ersten Bildungseinheiten schnell mehrere Tausend Lehrkräfte bereitstanden. Menan Mihemed Emîn fügt hinzu, dass die Frage nach muttersprachlichem Unterricht nicht ausreichte, vielmehr ging es darum, was für ein Bildungsmodell in Zukunft umgesetzt werden sollte. Auf der Suche nach Antworten wurde klar: „Unser Bildungsmodell wird bunt, pluralistisch, vielsprachig und multikulturell sein – so wie unsere Revolution. Wir haben dieses System auf der Grundlage des Modells der Demokratischen Nation aufgebaut.“

Schüler machen ihren Abschluss in drei Sprachen

Mihemed berichtet, wie Lehrpläne von der ersten bis zur elften Klasse ausgestaltet wurden: „Wir haben nicht nur Kurdisch zur Grundlage des Lernens gemacht. Die Kurden wurden auf Kurdisch, die Araber auf Arabisch und die Suryoye auf Aramäisch unterrichtet. Von der ersten bis zur dritten Klasse wird in Muttersprache unterrichtet, ab der vierten Klasse kommt eine weitere Landessprache hinzu und der Unterricht findet zweisprachig statt. Ab der fünften Klasse beginnt der Fremdsprachenunterricht. Ein kurdischer Schüler lernt also ab der dritten Klasse Arabisch oder Aramäisch, ein arabischer Schüler Kurdisch oder Aramäisch und ein Suryoye-Kind Arabisch oder Kurdisch.“

Aktuellen Zustand Syriens im Bildungssystem suchen

In Nord- und Ostsyrien ist anders als in Systemen, die sich über nationalstaatliches Denken definieren, ein System gleichberechtigten Zusammenlebens aufgebaut worden. Die kulturelle, geschichtliche und folkloristische Vielfalt spiegelt sich daher auch im Bildungssystem wider. Das Gerüst der Lehrpläne liefert das Konzept der Demokratischen Nation, erklärt Şakir. „Wir haben gute Erfahrungen bei der Ausgestaltung des Unterrichtsmaterials und der Schulbücher gesammelt und können sagen, dass die Kritik bei nahezu null lag. Es war nicht leicht, das vom Regime aufgezwungene Bildungssystem zu durchbrechen. Wenn wir dem auf den Grund gehen, können wir feststellen, dass die Ursachen der gesellschaftlichen Spaltung auch im syrischen Bildungssystem liegen. Den Grund für den aktuellen Zustand Syriens können wir daher auch im monistischen Bildungskonzept suchen.“

Kurdische Sprache kein Zwang

Şakir unterstreicht, dass niemandem das Bildungssystem Nord- und Ostsyriens aufoktroyiert werde. „Unser Konzept wird in großem Umfang akzeptiert. Wir zwingen auch niemandem unsere Sprache auf. Wir selbst haben dieses Leid erfahren und werden niemals akzeptieren, wenn es anderen ebenso geht.“

Emîn kommt auf das in Syrien verbreitete Vorurteil zu sprechen, wonach Kurdisch keine wissenschaftliche Sprache sei: „Kurdisch ist eine reiche Sprache. Die Herrschenden versuchen einen anderen Eindruck zu verbreiten. Wenn wir dies akzeptieren, ist das nicht die Schwäche unserer Sprache, sondern die unsere.“

Wurzeln der kurdischen Sprache reichen tief

Goran Şakir geht ebenfalls auf dieses Thema ein. Die Wurzeln der kurdischen Sprache reichten sehr tief und seien gesund. In der Vergangenheit habe es allerdings Hindernisse bei ihrer Entwicklung gegeben. „Das ist aber ein Zeichen der Stärke des Kurdischen. Wäre die Furcht des Regimes vor dieser Sprache nicht so groß gewesen, hätte es sie wohl kaum unterdrückt.“

„Wir haben einen Traum“

Emîn schließt mit den Worten: „Wir brauchen eine langfristige Strategie, um das Bildungssystem von Nord- und Ostsyrien nachhaltig zu machen.“ Şakir fügt hinzu: „Wir haben einen Traum. Wenn wir an der Universität und an den Akademien von Rojava Unterricht für die Dialekte Soranî, Kirmanckî und Hewramî einführen könnten, wäre unser Traum Wirklichkeit. Verschiedene Projekte sind bereits im Ärmel. Sobald der Krieg etwas an Intensität verliert, wollen wir sie umsetzen.“