Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat erneut eine baldige Militäroffensive gegen die selbstverwalteten Gebiete Nord- und Ostsyriens angekündigt. Die Vorbereitungen dafür seien getroffen, der Einsatz der Luftwaffe und von Bodentruppen im Gebiet östlich des Euphrats könne schon am Samstag oder Sonntag beginnen, sagte Erdoğan in einer im Fernsehen übertragenen Rede auf einer Veranstaltung seiner islamisch-konservativen Partei AKP am gestrigen Samstag.
Die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien bezeichnete die Drohungen des türkischen Präsidenten als eine Gefahr für die Sicherheit und Stabilität in der Region und weiste auf die katastrophalen Folgen hin, die ein möglicher Angriff der Türkei auf die Region verursachen würde. Außerdem kündigte die Selbstverwaltung an, im Fall einer Invasion ihr Recht auf Selbstverteidigung zu nutzen.
Unser Rojava-Korrespondent Ersin Çaksu hat mit Xerîb Hiso, dem Ko-Vorsitzenden der Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (TEV-DEM), über die angedrohte Offensive gesprochen. Hiso ist sich sicher, dass ein Krieg der Türkei gegen Rojava beschlossene Sache sei. Denn zeitgleich zu den Äußerungen Erdoğans hat die türkische Armee wieder massiv Truppen an der Grenze zu Nordsyrien zusammengezogen.
„Die Drohungen einer Besatzung in Rojava sind Teil eines gemeinsamen Plans der Türkei, Russlands, Irans und Syriens. Die beste Antwort darauf ist, dass sich die Völker der Region zum Widerstand erheben“, erklärte Hiso. Erdoğan rufe de facto zu Massakern auf und verstoße damit gegen internationales Recht. „Der türkische Präsident hat die Bedrohungs- und Besatzungsmentalität des Osmanischen Reiches übernommen und möchte sie auch weiterhin in die Praxis umsetzen. Seine bisherigen Verbrechen sind nicht geahndet worden. Und weil er nicht zur Rechenschaft gezogen wurde, ermutigt ihn diese Tatsache, neue Massaker zu begehen”, sagte Hiso.
Massaker wurden bereits beschlossen
Der kurdische Politiker kritisiert das fehlende Bedürfnis der internationalen Staatengemeinschaft und des syrischen Regimes, den türkischen Staat an die internationalen Gesetze zu erinnern. „Deshalb kann es Erdoğan so weit treiben. Er hat beschlossen, seinen Vernichtungsfeldzug gegen das kurdische Volk und alle anderen Völker Nord- und Ostsyriens fortzusetzen. Er sagt ja selbst, dass er ihn am liebsten schon heute umsetzen würde.“
Die Völker der Türkei sollten sich im Klaren darüber sein, dass Erdoğan das Land in einen neuen Krieg zu ziehen versuche, um die innenpolitische Krise und den Zerfall seiner AKP zu überwinden, forderte Xerîb Hiso und fügte hinzu: „Die Lösung der gegenwärtigen Krise liegt aber nicht in Syrien, sondern in der Türkei. Erdoğan hat trotz seiner finanziellen Hilfe für dschihadistische Banden im Syrienkrieg eine Niederlage erlitten. Die gesamte Welt wurde Zeuge davon. Jetzt versucht er erneut, mit Verbrechen wie Plünderungen und Terror die geplante Besatzung umzusetzen. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit hält er an seinen Drohungen fest und lässt sie an seinen Invasions- und Vernichtungsplänen teilhaben. Obwohl jedem die Gefahr einer türkischen Offensive in Nord- und Ostsyrien bewusst ist, wird sie nahezu totgeschwiegen.“
‚Wir werden uns verteidigen‘
Xerîb Hiso unterstrich die Bereitschaft aller Völker der Region, gegen eine mögliche Invasion bis zum Äußersten zu gehen: „Die Menschen hier setzen sich zur Wehr. Sei es auf dem aktivistischen Weg, dem politischen oder militärischen: Alle nehmen am Widerstand teil. Es ist die internationale Gemeinschaft, die schweigt. Jedem sollte aber klar sein, dass wir unser Recht auf Selbstverteidigung nutzen werden. Wir als Völker der Region sitzen alle im selben Boot. Deshalb werden wir uns alle gemeinsam verteidigen.“
Türkisch-syrischer Plan
Doch Erdoğan allein habe diesen neuen Besatzungsplan nicht ausgearbeitet, meinte Hiso. „Es ist eine gemeinsame Sache des türkischen und syrischen Regimes. Deutlich wurde das anhand der zeitgleichen Drohungen, welche die Türkei gegen uns und Syrien gegen die QSD (Demokratische Kräfte Syriens) aussprach. Beide Länder erhalten bei ihren Plänen Unterstützung von Russland und dem Iran.“ Damaskus sei sich allerdings nicht über die Gefahren für sich selbst bewusst, erklärte Hiso. „Sollte die Ausrottung der kurdischen Bevölkerung und aller anderen Völker in Nord- und Ostsyrien im Interesse des Regimes sein, wird es damit auch Schritte zu seiner eigenen Zerstörung unternehmen. Die Bedrohungen betreffen nicht nur uns, das ist Damaskus allerdings nicht klar.“
Appell an die kurdische Öffentlichkeit
In einem Aufruf forderte Xerîb Hiso von der gesamten kurdischen Öffentlichkeit, der akuten Bedrohung gegen Nord- und Ostsyrien gegenüber sensibel zu sein. „Erdoğan und sein faschistischer Bündnispartner sagen, überall dort Kurden unter der Erde zu begraben, wo es sie gibt. Wenn wir heute nicht füreinander eintreten, ganz gleich wo wir sind, wird es uns alle treffen. Und wenn wir nicht alle gemeinsam unsere Stimmen erheben, wird die internationale Gemeinschaft schweigen. Deshalb fordern wir auch insbesondere alle anderen kurdischen Parteien auf, gleiches zu tun.“
„Die Zeit ist reif, dem Faschismus Einhalt zu gebieten“
Abschließend mahnte der TEV-DEM-Vorsitzende, dass die gesamte Region einem großen Faschismus gegenüberstehe, gegen den gemeinsam vorgegangen werden müsse: „In diesem Sinne sind neben der Weltöffentlichkeit auch die Vereinten Nationen, die EU, die Arabische Liga und arabischen Länder gefordert. Die Zeit ist reif, dem Faschismus Einhalt zu gebieten.“