„Türkei trifft Vorbereitung für einen neuen Angriff in Nordsyrien”

Der Krieg der Türkei gegen Nordostsyrien wird seit Jahren ohne Unterbrechung geführt, Reaktionen des Westens bleiben aus. Internationaler diplomatischer Verkehr mit Ausgangspunkt Ankara deuten aktuell auf Vorbereitungen für eine weitere Invasion.

Weitgehend ignoriert von der Weltöffentlichkeit setzt die Türkei im Schulterschluss mit dschihadistischen Milizen die Angriffe auf das Autonomiegebiet Nord- und Ostsyriens fort. Das im Oktober 2019 mit der Besatzung von Serêkaniyê (ar. Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) zwischen Russland, den USA und der Türkei vereinbarte Waffenstillstands- und Deeskalationsabkommen existiert nur auf dem Papier. Täglich erfolgen im Rahmen eines wie nach den Lehrbüchern der NATO-Aufstandsbekämpfung geführten „Krieges niedriger Intensität” Artillerie- und Drohnenangriffe gegen Wohngebiete sowie zivile und militärische Infrastruktur. Die Angriffe dienen der Zermürbung und Vertreibung der Zivilbevölkerung und haben das Ziel, die türkisch-dschihadistische Besatzungszone auszuweiten. Schwerpunkte bilden dabei die an der M4 gelegenen Verkehrsknotenpunkte Ain Issa, Til Temir und Zirgan. Die strategische Schnellstraße durchzieht den Norden und Nordosten des Landes wie eine Lebensader und gilt als Verbindungsglied zwischen den selbstverwalteten Regionen Euphrat und Cizîrê. Der Wasserkrieg Ankaras gegen die Region dauert ebenfalls weiter an.

Tägliche Angriffe

Reaktionen auf die Verstöße der Türkei von Seiten der Garantiemächte des Abkommens erfolgen in der Regel nicht. Im Windschatten des Angriffs auf die Ukraine intensiviert der türkische NATO-Partner des Westens seit einigen Wochen wieder die Attacken. Erst am Donnerstag waren in der Gemeinde Zirgan fünf Menschen bei einem Angriff verletzt worden, das jüngste Opfer ist neun Jahre alt. Anfang der Woche wurden ebenfalls in Zirgan drei Personen durch einen türkischen Drohnenschlag gegen ein Gebäude der Sicherheitskräfte (Asayîş) verwundet. Vorletzten Sonntag wurde ein Zivilist aus dem Dorf Tel Al-Ward (auch Tall Elward), das etwa fünf Kilometer südlich der Gemeinde liegt, bei einem Artillerieangriff verletzt. Einige Stunden später bombardierte eine türkische Drohne in Til Temir ein Fahrzeug des Militärrats der christlichen Suryoye (MFS) und verletzte zwei Insassen, darunter den Kommandanten Orom Maroge. Tage zuvor war in Tirbespiyê ein Mitglied der Selbstverteidigungskräfte Erka Xweparastin bei einem türkischen Drohnenangriff ums Leben gekommen. Auch Ain Issa und die nähere Umgebung der Stadt sind seit Wochen im Dauerfokus der Besatzungstruppen. Doch nun scheint sich Ankara auf eine erneute größere Besatzungsoffensive vorzubereiten.

Türkei weiterhin auf „imperialistischem Expansionskurs”

„Seit Beginn des russischen Krieges auf die Ukraine herrscht parallel zu den forcierten Luft- und Bodenangriffen der Türkei und ihrer Verbündeten in unseren Gebieten international ein relativ reger diplomatischer Verkehr mit dem Ausgangspunkt Ankara“, äußerte Hisên Selmo nun gegenüber ANHA. Der Ko-Vorsitzende des Militärrats für die Cizîrê-Region deutet daraus Bestrebungen der türkischen Führung, grünes Licht für eine weitere Invasion in Rojava zu erhalten, um den „imperialistischen Expansionskurs” schneller voranzutreiben. „Die Türkei nutzt die Situation in der Ukraine aus, um weitere Gebiete in Syrien zu besetzten. Nicht nur zivile Siedlungsgebiete werden seit einigen Wochen ständig angegriffen. Auch die Einheiten unserer Kräfte an den Frontlinien befinden sich faktisch ohne Unterbrechung unter Beschuss“, erklärt Selmo.

QSD-Kommandant Kobanê: Vorbereitungen für einen Großangriff

Ähnlich äußert sich auch Erdal Kobanê, Kommandant der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD). Kobanê gehört zum Kommandorat der Front am Rande der Besatzungszone Girê Spî, die im Norden von Ain Issa liegt. Auch er spricht von „Vorbereitungen für einen Großangriff“ des türkischen Staates gegen die Autonomiegebiete. „Gegenüber des westlich von Girê Spî befindlichen Dorfes Erîda haben die Besatzungstruppen eine neue Militärbasis errichtet. Dieser Stützpunkt befindet sich in der Ortschaft Tiba. Die Einheiten der Besatzer, die bisher in den Basen in Ebdiko Mezin, Îlwa und Hicaziyê stationiert waren, sind fast ausnahmslos nach Tiba verlegt worden. An der Linie werden seit Wochen intensive Truppenbewegungen verzeichnet. Darüber hinaus werden Einheiten verschiedener Söldnerfraktionen unmittelbar an der Deeskalationslinie positioniert.”

Erdal Kobanê © ANHA

Laut Kobanê werden derzeit auch in den Dörfern Kefifa und Ebu Zihûr neue Stützpunkte hochgezogen. Darüber hinaus treiben die Besatzungstruppen den Ausbau von Schützengraben und Stellungen am Rand der Besatzungszone weiter an. Die Bedrohungslage sei ähnlich wie vor der Invasion von 2019. „Wir als QSD sind in jedem Fall bereit, Syrien und unser Volk zu verteidigen“, so Kobanê. „Wir werden unser Recht auf Selbstverteidigung benutzen, denn dies hier ist unser Land.“