„Syriens Zivilgesellschaft muss verteidigt werden”

Die Akademiker Seth M. Holmes und Andrej Grubačić, die bereits als Gastdozenten an der Rojava-Universität in Qamişlo lehrten, fordern in einem offenen Brief die internationale Gemeinschaft auf, der Aggression gegen Nord- und Ostsyrien entgegenzuwirken.

Eines Morgens, im vergangenen Sommer, traf eine Delegation von Akademikern und Gesundheitsexperten an der Universität Rojava in Qamişlo ein, einer Stadt im Nordosten Syriens an der Grenze zur Türkei. Als wir durch den Eingang des Universitätshauptgebäudes gingen, fanden wir Dutzende von Studenten vor, die zu traditioneller kurdischer Musik tanzten. Ein Student sagte: „Heute sind wir nicht mehr allein auf der Welt.”

Dieser Student, der Landwirtschaft und Bauingenieurwesen studierte, beschrieb, wie ihre Grenzen im Westen und Norden durch die Türkei, im Süden durch das Assad-Regime und im Osten durch den Irak abgeschnitten worden waren.

Er schilderte, dass der Irak die Ein- und Ausreise in die Region nur unter bestimmten, äußerst seltenen Umständen genehmigte - meist für das in der Region stationierte Militär der Vereinigten Staaten.

Der Student erklärte, dass es sich um die ersten Gastprofessoren und Gaststudenten handelte, die gekommen seien um sie zu treffen und Vorträge zu halten. Er sagte, sie hätten Freude daran gehabt, einen Krieg und eine Flüchtlingskrise hinter sich gelassen zu haben, und eine Zeit des Wiederaufbaus hin zu einer friedlichen und demokratischen Zukunft begonnen.

Ähnliche Worte hatten wir am Vortag in Kobane gehört, einer weiteren Stadt in Nordsyrien an der Grenze zur Türkei.

Dort besuchten wir das nach Alan Kurdi benannte Waisenhaus - dem dreijährigen Flüchtling, dessen Bild nach seinem Ertrinken im Jahr 2015 weltweit für Schlagzeilen sorgte. Das Kinderheim bewahrt sein Andenken - und das aller Kinder, die während des Krieges getötet und vertrieben wurden.

Doch jetzt wurden die Universitäten, Schulen und Krankenhäuser, die wir besucht hatten, von türkischen Militärflugzeugen bombardiert und ins Visier genommen.

Und während Trump einen „dauerhaften Waffenstillstand” zwischen der Türkei und den Demokratischen Kräften Syriens verkündete, wissen wir, dass dieser Waffenstillstand eine Farce ist.

Seit dieser Ankündigung haben wir jeden Tag persönliche Nachrichten von Medizinprofessoren und Studenten mit Fotos, Videos und Beschreibungen der laufenden Bombenangriffe von türkischen Militärflugzeugen erhalten.

Letzte Woche berichtete Human Right Watch, dass von der Türkei unterstützte syrische Rebellengruppen Zivilisten hinrichten, Eigentum plündern und Vertriebene daran hindern, in ihre Häuser zurückzukehren. Und dass sie sich mutmaßlichen Kriegsverbrechen schuldig machen.

Es war eine friedliche und demokratische Gesellschaft, die wir in diesem Sommer in Nord- und Ostsyrien trafen. Die Vereinigten Staaten und die internationale Gemeinschaft sollten sie aktiv unterstützen.

Wir trafen Studenten und Professoren aus den Bereichen Medizin, Landwirtschaft, Bauingenieurwesen, Umweltwissenschaften, Geschlechterforschung und Literatur. Sie entstammen verschiedenen Ethnien, Sprachen und Religionen, die an Universitäten und in Gemeindeprojekten zusammenarbeiten, die ausdrücklich darauf abzielen, auf die Gleichstellung der Geschlechter und die Wiederherstellung des ökologischen Gleichgewichts nach der Gewalt und Zerstörung durch den Bürgerkrieg 2015 hinzuarbeiten. Sie haben die demokratische Gesellschaft Nord- und Ostsyriens aufgebaut - auch bekannt als Rojava, oder „das Land, in dem die Sonne untergeht”, wie es auf Kurdisch heißt.

Während jedes dieser Gebiete international gefördert und gefeiert werden sollte, werden Syrer stattdessen mit Zustimmung der Vereinigten Staaten gewaltsam von der Türkei angegriffen und überfallen.

Seit Trump den Abzug US-amerikanischer Truppen von den Posten an der Seite der kurdischen Verbündeten in der Region angekündigt hat, haben türkische Angriffe Schulen und Krankenhäuser stillgelegt und Hunderttausende Menschen gezwungen, aus ihren Häusern zu fliehen.

Der Unterricht an Universitäten wurde eingestellt und durch Crashkurse in Erster Hilfe ersetzt. Nachdem Krankenhäuser bombardiert worden waren, organisierten sich die Studenten in provisorischen mobilen Ambulanzen, um sich um Zivilisten zu kümmern, die vom türkischen Militär oder dem IS bombardiert oder erschossen wurden.

Als Professoren, deren Schwerpunkt bei Gesundheit und Immigration liegt, können wir nicht tatenlos zusehen, wie diese gewalttätige Invasion weitergeht, die immer wieder zu einer weiteren Flüchtlingskrise führen wird. Wir können nicht daneben stehen und zulassen, dass unschuldige Menschen getötet werden. Als Menschen, die sich für eine gerechtere, demokratischere und friedlichere Welt einsetzen, dürfen wir uns nicht zurücklehnen und eine inspirierende demokratische Gesellschaft durch ausländische Aggressionen angreifen oder zerstören lassen.

Die Bombardierung der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens durch die Türkei widerspricht allem, wofür die Vereinigten Staaten stehen.

Wir müssen darauf bestehen, dass unsere Politiker Stellung beziehen - die UNO muss internationale Beobachter entsenden, um einen echten Waffenstillstand aufrechtzuerhalten, der zum Abzug des türkischen Militärs führt, und einen echten Dialog für die Zukunft Syriens fördern, der Frieden und Demokratie garantiert und eine Vertretung der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens beinhaltet.

Gemeinsam müssen wir die internationale Gemeinschaft drängen, diese tödliche, gewalttätige Aggression zu verbieten. Die Demokratie - und die Menschen, die in Syrien dafür kämpfen - stehen auf dem Spiel.


Seth M. Holmes ist Kulturanthropologe und Arzt und außerordentlicher Professor für Gesellschafts- und Umweltforschung sowie für Medizinische Anthropologie an der University of California (Berkeley), Ko-Vorsitzender des Berkeley Center for Social Medicine und praktizierender Arzt. Er forscht über soziale Hierarchien, Ungerechtigkeit im Gesundheitswesen und Asymmetrien in Kontexten transnationaler Migration und publiziert u.a. in The Huffington Post und Salon.com.

Andrej Grubačić ist ein in die USA immigrierter Soziologe und Universitätsprofessor aus dem ehemaligen Jugoslawien. Als Verfechter eines anarchistischen Ansatzes zur Weltsystemtheorie gilt Grubačić, langjähriger Freund der kurdischen Freiheitsbewegung, als Protagonist des „neuen Anarchismus”. Seine Schriften und Interessen reichen von der vergleichenden Weltgeschichte von Exilräumen und Exilgesellschaften bis hin zur Analyse neomarxistischer Weltsysteme, von der Soziologie der staatenlosen Demokratie bis hin zur Geschichte der gegenseitigen Hilfe. Er ist Mitglied des Netzwerks World-Ecology und Aktivist der globalen Gerechtigkeitsbewegung. Im Original erschien der offene Brief bei The Hill.