In Nordsyrien ist anders als in Systemen, die sich über nationalstaatliches Denken definieren, ein System gleichberechtigten Zusammenlebens aufgebaut worden. Das Ziel ist eine demokratische und pluralistische, Minderheiten- und Menschenrechte schützende Gesellschaftsform. Seitdem die Revolution von Rojava vor acht Jahren begann, wird an der Erforschung und Entwicklung der verschiedenen Sprachen, Kulturen und der Geschichte der Völker der Region gearbeitet. Auch das Bildungswesen befindet sich in einem Prozess schneller Veränderung hin zu mehr Vielfalt, Offenheit, Demokratie und Partizipation. Anstelle eines paternalistischen Erziehungssystems wird eine gleichgestellte Beziehung zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen angestrebt.
Um das Bildungssystem in der Autonomieregion Nord- und Ostsyriens vor Ort zu erforschen, reisen Expert*innen regelmäßig in die Region. Seit einiger Zeit hält sich eine international aufgestellte Delegation von Bildungsforscher*innen und Aktivist*innen aus den USA und einigen europäischen Ländern in Rojava auf. Eine Teilnehmerin der Delegation ist Camilla Power, Dozentin für Anthropologie an der University of East London. Im Gespräch mit unserer Agentur erklärt sie, tief beeindruckt von der „großen Hoffnung und Energie“ in der Region zu sein.
„Gesellschaftsmodell versucht mit Herzblut, Existenz zu verteidigen“
„Von dem Modell einer demokratischen Autonomie in Rojava erfuhr ich vor fünf Jahren auf einem Jineologie-Seminar in Köln“, sagt Camilla Power direkt zu Beginn unseres Gesprächs. Jineologie (kurdisch: Jineolojî) ist die „Wissenschaft der Frauen“, die zu den politischen Grundsätzen in Nord- und Ostsyrien zählt. „Mir wurde sofort klar, dass etwas Kraftvolles und Revolutionäres in diesem Teil der Welt im Gange ist“, erinnert sich Power. Als schließlich eine Gruppe von Akademiker*innen den Entschluss fasste, das Bildungswesen von Rojava direkt in der Region zu erforschen, um der Frage auf den Grund zu gehen, wie ein neues Bildungssystem entwickelt und unterstützt werden könnte, schloss sich Power der Delegation an. Auf die Frage, was sie für einen ersten Eindruck nach ihren Beobachtungen und Gesprächen mit Vertreter*innen der Bildungseinrichtungen habe, sagt sie: „Ich sah eine außergewöhnliche Energie und Hoffnung für die Zukunft, aber auch Schwierigkeiten und Probleme. Die Menschen hier sind äußerst freundlich und diskutieren leidenschaftlich über die Revolution, wollen aber auch wissen, wie wir ihnen helfen können, damit vorhandene Schwierigkeiten beseitigt werden.“ In allen bereisten Städten habe die Delegation beobachten können, dass das neue Gesellschaftsmodell mit Herzblut versucht, seine Existenz zu verteidigen, obwohl die meisten westlichen Staaten versuchten, die Demokratische Föderation Nordsyriens zu ignorieren, fährt die Anthropologin fort.
„Aber wir befinden uns hier in Kobanê, dem Ort, an dem der entschiedenste Kampf gegen den Islamischen Staat ausgetragen und letztendlich gewonnen wurde. Wir waren auf dem Gefallenen-Friedhof und sahen mit eigenen Augen, wie viel dieser Sieg gekostet hat. Das ist auch der Widerspruch, auf den ich aufmerksam machen will. Wie kann die Welt die Demokratische Föderation ignorieren, wo sie es doch war, die den Islamischen Staat für uns alle besiegt hat?“, fragt Power zurecht.
„Befreiungskampf der Frauen hat mich angezogen“
Wir kommen wieder auf das Thema Jineologie zu sprechen. Natürlich waren es die Frauenwissenschaften und der Befreiungskampf der Frauen, die ihr Interesse für die Revolution in Rojava weckten, sagt Camilla Power. „Meiner Meinung nach unterscheidet sich diese Revolution von anderen Revolutionen einfach dadurch, dass sie von Frauen angeführt wird. Das ist ein großer Hoffnungsschimmer, nicht nur für den Mittleren Osten und die benachbarten Regionen, sondern auch für den Teil der Welt, aus dem wir kommen. Wir haben vorhin die Universität von Kobanê besucht, davor besuchten wir die Rojava-Universität. Es sind so viele junge Frauen, die dort studieren. Stellen Sie sich einmal vor: Was wäre mit diesen Frauen passiert, wenn der IS gesiegt hätte?“
Camilla Power betont die Notwendigkeit, dass die Welt mehr über die Revolution von Rojava und das Projekt dahinter, dem Demokratischen Konföderalismus erfahren sollte. Insbesondere Wissenschaftler*innen würden hierbei eine große Verantwortung tragen, da es viele Bereiche gebe, die unterstützt werden müssten, auch in finanzieller Sicht. Hierfür könnten spezielle Projekte entwickelt werden, schlägt Power vor. Dazu bräuchte es einen Ideenaustausch, damit die Bedürfnisse der Region verstanden werden, so die Anthropologin.
„Überall auf der Welt ist die Jugend - ganz besonders angesichts des Klimawandels - auf der Suche nach etwas Neuem. Wenn sie das Modell hier sehen könnten, würden sie sofort daran anknüpfen und es unterstützen. Sie würden feststellen, dass das System hier Hand in Hand mit Frauenbefreiung, Demokratie und Ökologie geht. Dies zu vermitteln, ist äußerst wichtig. Nach unserer Rückkehr werden wir Gespräche mit unseren Studenten und Kollegen führen und entsprechendes Material erstellen. Was über diese Revolution gesagt werden soll, muss jetzt gesagt werden. Die Menschen auf der ganzen Welt sollten mehr über diese Revolution und ihr Modell wissen,“ fordert Camilla Power.
Denn das Bildungswesen und die Gesellschaft in Rojava seien nicht voneinander getrennt. Das Modell in der Demokratischen Föderation unterscheide sich deutlich von dem, das die westliche Welt dominiert. „Das Bildungssystem und die Gesellschaft sind hier miteinander verflochten. Es ist ein kollektives Vorgehen. Das ist für die Sozialisierung der Bildung einfach großartig.“