In Nord- und Ostsyrien ist die Territorialherrschaft des IS zerschlagen, aber es existieren Schläferzellen und der Islamismus ist weiterhin präsent. Abdulkarim Omar hat sich im ANF-Interview zu den Tausenden IS-Angehörigen geäußert, die in Gefängnissen und Internierungslagern der Selbstverwaltung festgehalten werden. Der Ko-Vorsitzende der außenpolitischen Abteilung der Selbstverwaltung ist der Meinung, dass der IS erst dann endgültig besiegt werden kann, wenn das politische Problem in Syrien gelöst wird.
Mit der Befreiung von al-Bagouz im März 2019 ist die Territorialherrschaft des IS beendet worden, aber die Angriffe in Nordostsyrien gehen weiter. Inwiefern finden weiterhin Operationen gegen den IS statt und was muss getan werden, um dem IS-Terror ein Ende zu bereiten?
Der erkämpfte Sieg hat auf militärischer Ebene stattgefunden. Wir haben den Territorialstatus des IS beendet, aber der Terror ist nicht vorbei. Der IS unterhält Schläferzellen in der Region. Die Beziehungen zwischen den QSD [Demokratische Kräfte Syriens] und der internationalen Koalition werden fortgesetzt. Es finden täglich koordinierte Operationen gegen den IS statt. In unserem Gebiet gibt es keine Orte mehr, die vom IS kontrolliert werden, er existiert in Form von Schläferzellen, aber in den Regime-Gebieten sind ganze Flächen in der Hand des IS.
Strukturen wie die des IS können wir beseitigen, wenn die politische Frage in Syrien gelöst wird. Das gilt auch für die Lage im Irak. Die Probleme in Syrien müssen gelöst werden, es muss für Stabilität und eine Veränderung gesorgt werden. Wir brauchen ein demokratisches Syrien, dann kann dem Terror ein Riegel vorgeschoben werden. Ohne Stabilität und eine politische Lösung in Syrien ist es für uns schwer, den Terror zu beenden.
In Nord- und Ostsyrien sind wichtige Schritte gesetzt worden. Die Operationen dauern an, aber der IS bekommt Unterstützung, vor allem aus der Türkei. Die Denkweise der Dschihadisten in den türkisch besetzten Gebieten entspricht der des IS. Der türkische Staat hilft dem IS über seine dschihadistischen Söldner.
Aufgrund der Schließung des Grenzübergangs Til Koçer [Yarubiyah], des Caesar Act und ähnlichen politischen Vorgehensweisen verschlechtert sich die Lage der Menschen in den Regionen, die jahrelang unter IS-Herrschaft gestanden haben. Der IS betrachtet das als Gelegenheit für eine Wiederbelebung. Diese Region müssen unterstützt werden, um die islamistische Denkweise zu bekämpfen und den IS zu vertreiben. Und dafür braucht es Zeit.
Was unternehmen Sie, um die verhafteten IS-Mitglieder und ihre Angehörigen vor Gericht zu stellen?
In den Gefängnissen der Selbstverwaltung befinden sich Tausende IS-Mitglieder. Tausende IS-Familien sind in Camps untergebracht. Nach der Befreiung von al-Bagouz haben wir als Selbstverwaltung dazu aufgerufen, diese Islamisten vor Gericht zu stellen. Wir haben die Einrichtung eines Gerichtshofs im Gebiet Nordostsyriens vorgeschlagen und logistische und juristische Unterstützung von der internationalen Öffentlichkeit eingefordert. Unsere Arbeit zu diesem Thema und entsprechende Gespräche gehen weiter. Es hat bestimmte Entwicklungen gegeben, aber wir sind noch nicht auf dem Niveau angelangt, mit Gerichtsverhandlungen beginnen zu können.
Es sind Delegationen in die Region gekommen, um ihre Staatsangehörigen vom IS, insbesondere aus Camp Hol, zurückzuführen. Wie viele IS-Mitglieder sind bisher an ihre Herkunftsländer zurückgegeben worden, um welche IS-Mitglieder handelt es sich und was beinhalten die Rückführungsabkommen?
Als Selbstverwaltung folgen wir bei diesem Thema einer politischen Roadmap. IS-Mitglieder und Frauen, die Verbrechen begangen haben, liefern wir nicht an ihre Staaten aus. Wir übergeben Kinder, die keine Verbrechen begangen haben, denn die radikale Atmosphäre in den Camps ist kein Ort für Kinder. Ihre Existenz in diesen Camps bedeutet, dem IS ein neues Gewand zu verschaffen – ein Gewand, das für Terror und Besatzung entworfen wird. Daher liefern wir zivile Minderjährige an ihre Herkunftsländer aus. Die Gesetzgebung in Nordostsyrien sieht vor, dass Kinder nicht von ihren Müttern getrennt werden. Kinder mit gesundheitlichen Beschwerden, die hier nicht behandelt werden können, übergeben wir mit dem Einverständnis ihrer Mütter an ihre Herkunftsländer. Wir übergeben auch Frauen mit Kindern, bei denen keine Beweise für begangene Verbrechen vorliegen. Die Übergabe an die Herkunftsländer findet nach diesen Vorgaben statt. Zuletzt sind Staatsangehörige an Usbekistan übergeben worden. Auch andere Ländern haben Kinder und Frauen zurückgeführt. Die Gesamtzahl ist allerdings sehr niedrig, der Großteil ist immer noch bei uns. Für uns bedeutet das eine große Last, die zugleich auch eine große Gefahr darstellt. Usbekistan, Saudi-Arabien und einige europäische Länder haben einen Bruchteil ihrer Staatsangehörigen übernommen. Die internationale Öffentlichkeit erfüllt ihre Aufgabe nicht.
Was den Inhalt der Rückführungsabkommen angeht: Staatenlose können nicht zurückgeführt werden. Wir unterzeichnen bei Rückführungen ein Protokoll mit den zuständigen Außenministerien. Die Übergabe von Minderjährigen und Frauen erfolgt entsprechend der internationalen Gesetzgebung und Menschenrechtsstandards. Wer eine Rückführung nicht akzeptiert, wird nicht ausgeliefert. Die Übergabe erfolgt mit der Unterzeichnung des Protokolls.
Haben sich weitere Länder wegen einer Rückführung ihrer Staatsangehörigen an Sie gewandt?
Wir sind mit mehreren Ländern im Gespräch über eine Auslieferung von IS-Angehörigen. Es sind nicht besonders viele Länder. Die IS-Mitglieder und ihre Familien bei uns stammen aus über fünfzig Staaten. Insbesondere einige europäische Länder sind mit uns im Dialog. Wir sprechen über eine kleine Anzahl von Angehörigen ausländischer Staaten, die keine Verbrechen begangen haben. Wenn die Länder es wollen, liefern wir sie aus.
Der IS befindet sich in unserer Region, aber er ist ein internationales Problem. Die Staaten der internationalen Koalition haben beim Kampf gegen den IS geholfen und die aktuelle Situation ist eine Fortsetzung dessen. Daher muss Unterstützung geleistet werden, um die IS-Mitglieder vor Gericht stellen zu können. In Hol und anderen Camps muss dringend interveniert werden. Wenn dort nichts passiert und die Kinder und Frauen nicht abgesondert werden, wird Chaos entstehen. Es müssen Schulen eingerichtet werden, um diesen Kindern und Frauen neue Perspektiven zu ermöglichen. Dieses Problem muss gemeinsam gelöst werden.
Was denken die Delegationen, die in die Region kommen, über Gerichtsverfahren gegen die IS-Mitglieder?
Es kommen nicht nur Delegationen zu uns, vor der Pandemie haben auch wir Europa besucht. Wir haben mit allen europäischen Ländern gesprochen, teilweise im digitalen Format. Der Dialog dauert weiter an. Da der Status der Selbstverwaltung nicht anerkannt wird, gibt es in rechtlicher Hinsicht Probleme. Auch die Frage, nach welcher Gesetzgebung die IS-Angehörigen vor Gericht gestellt werden sollen, ist ungeklärt. Darüber hinaus gibt es politische Probleme. Die Diskussion geht weiter. Einige Staaten haben zugestimmt, dass hier gegen die IS-Mitglieder verhandelt werden soll. Andere Staaten führen noch interne Diskussionen darüber. Im Fazit lässt sich festhalten, dass bisher keine Entscheidung getroffen worden ist.
Erwarten Sie eine Entwicklung zu diesem Thema in der kommenden Zeit?
Es muss eine Entwicklung stattfinden. So kann es nicht weitergehen. Es ist nicht möglich, dass Tausende IS-Angehörige, die schwere Verbrechen begangen haben, dauerhaft bei uns bleiben. Wir hoffen auf ein Ergebnis.
In den Medien ist mehrfach dokumentiert worden, dass der türkische Staat IS-Angehörige aus der Autonomieregion holt und in die von ihm kontrollierten Gebiete gebracht hat. Was hat das zu bedeuten?
Der türkische Staat hat zu Beginn des Besatzungsangriffs auf Nord- und Ostsyrien versucht, IS-Mitglieder zu befreien. Aus dem Gefängnis in Kobanê sind Frauen befreit worden, die schwere Straftaten begangen haben. Auch aus dem Camp in Ain Issa sind ungefähr tausend Frauen und Minderjährige geholt worden. Um Frauen und Kinder aus Camp Hol zu entführen, gibt es ein organisiertes Schleppernetz, das von der Türkei bis in die besetzten Gebiete in Syrien reicht. Um die IS-Angehörigen zu befreien, werden Hunderttausende Dollar ausgegeben.
Der türkische Staat bringt diese Personen nicht nur in den von ihm besetzten Gebieten unter, er benutzt sie auch für andere Gebiete und schickt sie in Länder wie Libyen und Aserbaidschan. Es ist allgemein bekannt, dass weltweit Dschihadisten über die Türkei zum IS nach Syrien eingereist sind. Das ist mit Hilfe des türkischen Geheimdienstes geschehen. Die Türkei hat auch IS-Mitgliedern geholfen, die in Europa Anschläge begangen haben. Der türkische Staat nutzt die Situation und unterstützt den IS. Als der IS in Orten wie Dscharablus und Azaz im nordsyrischen Grenzgebiet präsent war, waren die Grenzübergänge in die Türkei für ihn offen. Es gab gegenseitige Handelsbeziehungen, es wurde mit Öl gehandelt. Verwundete IS-Mitglieder sind in Krankenhäusern in der Türkei behandelt worden. Es war der türkische Staat, der dem IS am meisten Unterstützung geleistet und den Rücken gestärkt hat.
Welche Maßnahmen treffen Sie gegen die Entführungen aus Gefängnissen und Lagern? Gibt es entsprechende Projekte?
Was die Entführungen angeht, dauert unsere Arbeit an. Im Camp Hol werden wir ein Projekt starten, hier finden die meisten Entführungen statt. Wir wollen ein neues Camp in der Umgebung einrichten, um diese Frauen voneinander zu trennen. Falls das gelingt, könnte damit die Kontrolle in Hol wiederhergestellt werden. Camp Hol ist so groß wie eine Stadt. Die Anzahl der Menschen ist sehr hoch, daher ist das Lager schwer zu kontrollieren. Wir haben jedoch Projekte, um die Entführungen zu stoppen.
Das Camp Roj ist unter Kontrolle. Es wird an einem mentalen Wandel der IS-Frauen gearbeitet. Bei vielen Frauen hat sich die Denkweise bereits geändert. Mir liegen keine konkreten Informationen vor, aber ich gehe davon aus, dass die QSD und die internationale Koalition ein neues Gefängnis für IS-Angehörige planen. Einige der IS-Gefangenen befinden sich in ehemaligen Schulen, dort ist es zu Vorfällen gekommen. Es wird daran gearbeitet, das zu verändern.