Raqqa findet zurück zu seinen Farben

Vor sieben Jahren wurde Raqqa unter der Führung der YPJ aus den Händen des IS befreit. Auf den Trümmern der „Hauptstadt des Schreckens“ wurde Schritt für Schritt ein neues Leben aufgebaut.

Vor sieben Jahren befreit

Raqqa war die heimliche Hauptstadt des „IS-Kalifats“ in Syrien. Vor sieben Jahren brach die Terrorherrschaft der Dschihadisten zusammen. Nach einer monatelangen und opferreichen Offensive zur Befreiung der Stadt hissten die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) am 17. Oktober 2017 ihre Fahnen im Stadion von Raqqa – eines der letzten Bollwerke der Terrormiliz: Auf dem Spielfeld wurden öffentliche Hinrichtungen vollzogen, in den Katakomben gefoltert. Zwei Tage später gaben die Frauenverteidigungseinheiten YPJ, deren Kämpferinnen die „Schlacht um Raqqa“ angeführt hatten, auf dem Al-Naim-Platz die vollständige Vertreibung des IS bekannt. Doch die Dschihadisten hinterließen eine verwüstete, verminte Stadt und eine schwer traumatisierte Bevölkerung.

Die Verwaltung des befreiten Raqqa wurde einem Zivilrat übergeben. Durch das Gremium wurde Raqqa nach fast vierjähriger IS-Herrschaft wieder zu einer vielfältigen, multiidentitären und multireligiösen Stadt. Die Aktivistin Emine Omar vom Frauenkomitee der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens blickt im Interview mit der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) auf die Jahre des Wiederaufbaus von Raqqa zurück und darauf, was sich im Leben der Frauen durch diesen Prozess verändert hat.

Nachdem das irakische Mosul 2014 vom IS besetzt wurde, marschierten die Dschihadisten mit den dort erbeuteten Waffen in Raqqa ein. Die Al-Qaida-Gruppe Jabhat al-Nusra und die sogenannte FSA gaben die Stadt auf. Wenig später wurde Raqqa zur Hauptstadt des „IS-Kalifats“ ernannt und mit einer an der salafistischen Interpretation der Scharia orientierten Schreckensherrschaft überzogen. Von Raqqa aus besetzte der IS Schritt für Schritt weitere Städte in Nordsyrien | Foto: Wohnviertel in Raqqa oder was davon übrig ist am Tag der Befreiung © ANF

 

„Raqqa hatte für den IS eine große strategische Bedeutung. Darum wurde es zur ‚Hauptstadt‘ des ‚Islamischen Staats‘. Terror und Angriffe gehörten zum Alltag und Raqqa verwandelte sich in kürzester Zeit in eine farb- und leblose Stadt. Sowohl Männer als auch Frauen trugen schwarze Kleidung. Frauen wurden gezwungen, den Hidschab anzulegen. Es war nicht klar, wer sich unter dieser Kleidung befand. Den Frauen sollte so jede Identität genommen werden“, sagte Emine Omar und berichtete von Kontrollen der Frauen durch die selbsternannte Sittenpolizei des IS, der sogenannten Hisbah: „Auf der Straße hatten Frauen keine Farbe. Alles war schwarz. Die Frauen wurden gezwungen, IS-Söldner zu heiraten. Frauen, die sich weigerten, wurden bestraft. Universitäten und Schulen gab es plötzlich nicht mehr.“

An der Raqqa-Offensive beteiligte YPJ-Kämpferinnen feiern mit Tänzen die Befreiung der Stadt © ANF

Omar beschrieb die Zerstörung durch den IS in Raqqa: „Das Ausmaß der in den mehr als drei Jahren Terrorherrschaft angerichteten Zerstörung war unglaublich. Als die Selbstverwaltung die Stadt befreite, musste sie mit dieser Verwüstung umgehen. Sie begann die Wunden von Grund auf zu lindern. Denn der IS war in jeden Lebensbereich eingesickert. Als Raqqa befreit wurde, machten die Frauen ihren Sieg deutlich, indem sie sich den schwarzen Tschador vom Leib rissen. Das war ein symbolischer Moment. Nach der Befreiung erstrahlte Raqqa wieder in den Farben des Lebens. Vor allem arabische Frauen, die die Unterdrückung durch den IS miterlebten und ihr ausgesetzt waren, verbreiten heute das revolutionäre Verständnis der Selbstverwaltung. Sie engagieren sich zur Verteidigung der Frauenrechte in Verwaltungsstrukturen und Organisationen, gründeten ein Frauenkomitee. Raqqa wurde einst ,Stadt des Todes' genannt. Doch der Kampf, den die Frauen von Raqqa nach der Befreiung geführt haben, hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Angst vor dem IS hier gebrochen wurde.“

Wo unter IS-Herrschaft abgeschlagene Köpfe ausgestellt wurden, steht heute „I love Raqqa“ © ANF

Heute werde Raqqa nach dem Paradigma der Demokratischen Nation wiederaufgebaut, ergänzte Emine Omar. Die drei Kernelemente sind Demokratie, Frauenbefreiung und soziale Ökologie. Die praktische Realität dieser Theorie und des Traums von einer Revolution, in der Frauen frei sind und keine von ihnen versklavt wird, führte in Raqqa zu einem großen Wandel. Es seien daher auch viele Frauen, die unter der IS-Herrschaft aus der Stadt geflohen waren, nach Raqqa zurückgekehrt. „Die Frauen haben sich mit der Revolution von Rojava selbst erkannt“, sagt Omar. „Und diese Selbsterkenntnis haben sie in ihrer Führungsrolle bei der Revolution, in ihrem Kampf und ihrer Organisierung überall hingetragen und damit auch in den Wiederaufbau von Raqqa. Heute nehmen die Frauen in allen Bereichen ihre Rechte als Grundlage. Assyrische, arabische und kurdische Frauen gründeten eigene Organisationen. Auch diese Organisationen basieren auf den Frauenrechten. Die apoistische Philosophie von ‚Jin Jiyan Azadî‘ hat sich als Parole der Revolution der Frauen überall auf der Welt verbreitet. Das war ein sehr wichtiges Beispiel. Doch der Kampf gegen die Bedrohung durch den IS bleibt weiterhin eine zentrale Herausforderung – für uns Frauen, für Raqqa und für die gesamte Autonomieregion.“